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XVII

An einem Februarmorgen kam Moritz Lachner nach Zons. Der Professor griff ihn vor dem Hause auf, als er die Wirtschafterin befragte.

»Hier herrscht Burgfriede, mein Herr.«

»Sie erkennen mich nicht wieder, Herr Professor. Ich bin Moritz Lachner.«

»Ah, der junge Herr Doktor und werte Herr Kollege? Sie kommen etwas früh. Sobald es lenzt, könnten Sie sich an unseren Forschungen beteiligen. Wir stellen den Limes fest und wecken die Toten auf. Wie wär's?«

»Ich möchte,« sagte Moritz Lachner verlegen, »vorher gern Herrn Doktor Otten begrüßen.«

Heinrich Koch spielte mit den Aufschlägen von Lachners Rock. »Joseph Otten – –. Ja. – Aber lassen Sie dort gefälligst jede Art Totenerweckung beiseite. Zeichen und Wunder können bei Otten nur durch elementare Wucht wirken, nicht durch Überredung. Und wir wünschen doch, daß sie eines Tages wirken. Sie verstehen mich.«

»Herr Professor, jeder Mensch nach seinen Gaben. Da ich weder Blitz noch Donnerkeil regiere, muß ich mich auf die Ehrlichkeit meiner Sprache verlassen.«

»Na, jedenfalls kommen Sie mal herein mit Ihrer Ehrlichkeit. Wenn Sie Klaus begrüßen wollen, werde ich inzwischen Otten benachrichtigen.«

Joseph Otten saß am Schreibtisch, von Büchern umlagert wie ein Gelehrter, und machte sich Notizen.

»Du, Joseph, Besuch für dich.«

»Bedaure sehr. Ich kenne niemanden.«

»Doch, Joseph, den kennst du. Es ist der kleine Lachner.«

»Der Moritz?« Otten legte die Feder hin, »Was will er?«

»Den Königen im Exil seinen Kratzfuß machen. Er behauptet, die Ehrlichkeit der Sprache sei ihm eigen.«

»Dann soll er sich auf dem Jahrmarkt sehen lassen, bei Hofe oder auf der Kanzel.«

Heinrich Koch strich sich lächelnd die feinen Lippen.

»Heinrich, ich bitte dich, nimm dich des Unglücksmenschen an. Es ist ja ein prächtiger Junge, aber er gewinnt bei schriftlicher Behandlung. Ernsthaft: ich mag noch keine Gesichter sehen.«

»Ich finde, daß er keinerlei Aufdringlichkeit gezeigt hat. Obwohl er dir Gefälligkeiten erwiesen hatte, ludest du ihn nicht ein, und er kam nicht. Wenn er heute ungerufen kommt, tat er es sicher im Vertrauen auf deine sprichwörtliche Ritterlichkeit.«

»Laß die Leimruten beiseite. Meinetwegen kann er kommen und mir den Tag stehlen. Ich will keinem schuldig sein.«

Koch fand den Besucher in eifrigem Gespräch mit dem alten Klaus, der wider Gewohnheit redselig geworden war. Bei seinem Hinzutreten brach Frage und Antwort ab. »Es wird sich um Frau Maria gehandelt haben,« sagte er sich und schickte Lachner hinauf. Joseph Otten stand mitten im Zimmer, als der Besuch eintrat. Das kalte Winterlicht beleuchtete scharf die hageren Züge und die eckig gewordene Stirn, in die die grauen Haarsträhnen fielen. Wie Pergament war die Haut. Nur die Augen hatten ihr Helles, strahlendes Blau behalten. Und diese Augen sahen auf Moritz Lachner, der keines Wortes mächtig war.

»Guten Tag, Moritz. Du zitterst ja.«

»Es ist die Erregung, Sie wiederzusehen.«

»Ich dachte schon, es wäre die Erregung, mich so wiederzusehen.«

»Als wenn Sie nicht immer derselbe blieben. Ach, Herr Doktor, ich bin ja so froh.«

»Ist das die Ehrlichkeit der Sprache, über die du nach Professor Koch verfügen sollst?«

Lachner errötete. »Auch darüber bin ich froh, daß Sie so fröhliche Gesellschaft haben. Ich hatte dieses Zons' wegen Angst um Sie.«

Otten deutete auf Bücher und Karten. »Beschäftigung vollauf ... Und nun laß dich einmal genauer ansehen. Du machst eine gute Figur, Moritz, nur diese ernste Blässe gehört nicht in dein junges Gesicht. Hast du Sorgen?«

»Wenn Sie materielle Sorgen meinen, Herr Doktor: ich habe den besten aller Väter, und Sie kennen ihn.«

»Ja, die materiellen Sorgen können wir Väter zerstreuen. Mehr vermögen wir auch nicht. Sitz nieder, Moritz.«

Der junge Gelehrte blickte überlegend vor sich hin. »Herr Doktor,« sagte er dann langsam, »mein Vater würde nicht das geistige Vermögen besitzen, und er würde es doch versuchen.«

»Dein Vater, Moritz, ist ein lieber alter Idealist, der zwischen seinen vergilbten Kostümen sitzt und Märchen träumt. Die Welt aber und ihre Menschen haben mit solchen Märchen nichts zu tun. In der Welt setzt sich ein jeder nach seinem eigenen Kopfe durch. Mögen sie. Ich hab's nicht anders gemacht.«

»Meinen Sie damit, Herr Doktor, daß die Menschen, die Sie daheim haben –«

»Ich habe nur noch mich. Bleib dabei. Es ist zu unser aller Bestem.«

»Aber ein Mann sieht schärfer, und ein Mann wie Sie hat Gewalt über die Herzen.«

»Hatte – hatte!«

»Nein, Sie haben sie auch heute noch. Sie brauchen nur zu wollen.«

»Oder – ich brauche nicht.«

»Sie wollen nicht.«

»Nein.«

Moritz Lachner kämpfte mit seinen Worten. »Herr Doktor, ich sitze ungerufen hier. Aber gerade deswegen – dürften Sie sich doch sagen – daß ich nicht einer Laune oder bloßer Neugier nachgegeben habe. Sie waren doch früher so stolz auf Carmen. Denken Sie doch daran.«

»Früher – war ich auch stolz auf mich.«

»Und heute – ist Carmen auf dem Wege, sich zu verzetteln.«

»Mit dem jungen Terbroich? Deshalb bist du gekommen?«

»Herr Doktor, es ist Zeit, daß Sie nach dem Rechten sehen.« Ganz schlicht hatte es der junge Lachner gesagt. Otten betrachtete ihn lange. Dann spielte ein ironisches Lächeln um seinen Mund.

»Du liebst sie wohl?«

Der Junge blickte auf. Es arbeitete in seinem schmalen, geistvollen Gesicht. »Ja,« stieß er hervor, »ich liebe sie. Aber das wäre kein Grund. Nur anbeten können möchte man, was man liebt.«

»Und du fürchtest, das könntest du nicht, wenn sie Laurenz Terbroichs Frau ist?«

»Ich fürchte, daß sie es nicht wird.«

»Du sonderbarer Schwärmer, dann ist dir doch geholfen.«

»Ich fürchte, daß sie nicht seine Frau wird.«

Sie sprachen nicht mehr. Otten saß weit zurückgelehnt in seinem Stuhl und blickte zum Fenster hinaus, starr auf einen Punkt in weiter Ferne. In erwartungsvoller Spannung hing Lachners Auge an ihm.

»Herr Doktor –?«

»Du wünschest?«

»Ich –? Was Sie wünschen, Herr Doktor. Ihren Willen möcht' ich hören. Einen Rat oder eine Tat.«

»Das geht die Mutter an.«

Entgeistert sah Lachner in sein steinernes Gesicht. »Das – kann nicht Ihr Ernst sein, Herr Doktor.«

»Nicht mein Ernst –?« Langsam wandte ihm Otten sein Gesicht zu. »Ich habe dich einmal in einer schweren Stunde mit einer Botschaft an meine Frau betraut. Du warst damals der einzige, über den ich verfügte. Das vergesse ich nicht. Und du solltest die Botschaft auch nicht vergessen haben.«

»Wie könnte ich den Tag vergessen,« murmelte der Junge.

»Damals, und eine Weile später, habe ich die reinliche Scheidung eintreten lassen. Aus Stolz, mein Junge, um den guten Geschmack meiner Frau zu schonen. Nimm das cum grano salis. Ich bin kein Almosenempfänger, und meine Frau war immerhin die Frau des Doktors Joseph Otten. Dann aber auch aus einer Einsicht heraus. Meine Hand taugte nicht zur Erziehung eines Mädchens vom Schlage Carmens. Was im Sinne der gestrengen Welt ungut an ihr ist, das hat sie von mir. Ich habe nichts, aber auch gar nichts für meine Tochter getan, solange sie lebte. Alles tat die Mutter. Wie käme ich dazu, heute plötzlich ein Anrecht geltend zu machen, ohne daß ich jemals eine Einzahlung geleistet hätte? Das wäre eine Farce.«

»Herr Doktor, in diesem besonderen Fall –«

»Soll ich mich als Sittenrichter aufspielen? Lebt denn die Mutter nicht mehr, die sie erzogen und behütet hat? Ich, Moritz – denke doch freundlichst nach – ich als Sittenrichter? Hast du nicht auch eine Abtei zu vergeben oder eine Bischofsmütze? Seit sieben Jahren weiß ich nichts von meiner Tochter, und sie nichts von mir. Es sei denn, daß sie die schlechten Kolportageromane geglaubt hat, die über mich im Schwange waren.«

»Es ist viel geredet worden, Herr Doktor.«

»Gut, gut. Das Volk will auch diese Art Helden, so gut wie seine Rinaldini. Ich gönne ihm ja das Vergnügen.«

»Ich hätte nicht gewagt, davon zu sprechen. Ich stelle Sie ja viel zu hoch, als daß ich den Klatsch der Stadt vor Sie hintrüge. Aber gerade weil ich Sie so besonders hoch verehre, Herr Doktor, bitte ich Sie: lassen Sie mich keine Enttäuschung erleben.«

Otten erhob sich. Er legte dem jungen Freund die Hand auf die Schulter und nickte ihm zu: »Guter Kerl.«

»Lassen Sie mich keine Enttäuschung erleben ...«

»Nein,« sagte Otten, »davor will ich dich bewahren. An mir sollst du sie nicht erleben. Denn es hieße mein ganzes bisheriges Leben enttäuschen, es hieße vor allem die ganze selige Liebeszeit enttäuschen, die ich mit Maria durchlebte, wollte ich deinen Wunsch erfüllen. Das muß nun einmal in Kauf genommen werden. Ich kann meine Frau nicht in ihren besten Erinnerungen beleidigen. Wollte ich in dieser Angelegenheit auch nur ein Wort sagen, so würde es für sie eine Demütigung. Daher muß ich ihr die Lösung allein überlassen.«

Moritz Lachner stand auf. »Jetzt verstehe ich Sie,« erwiderte er leise, und befangen setzte er hinzu: »Frau Maria wird den richtigen Weg finden.«

»Sie hat ihn noch nie verfehlt, mein lieber Moritz.«

»Ich möchte nicht länger stören, Herr Doktor, Sie sind bei der Arbeit.«

Otten schüttelte ihm die Hand. »Laß dir von Professor Koch davon erzählen. Vielleicht interessiert es dich, und wir erhalten einen korrespondierenden Mitarbeiter. Du bleibst doch zu Tisch?«

Moritz Lachner konnte nicht bleiben. »Meine drei Hörer in Bonn vermissen mich zwar nicht, aber ich möchte noch meinen Vater in Köln auf ein paar Stunden besuchen.«

»Grüße ihn von mir. Der Abend, den ich einmal bei ihm und seinem roten Toskanerwein verlebte, ist mir in heller Erinnerung geblieben. Wie schön das Leben sein kann. Leb wohl, Moritz.« –

»Sie wollen schon fort, werter Kollege?« fragte ihn Koch, der mit dem alten Klaus auf der Diele einen längeren Diskurs führte. »Wollen Sie sich nicht ein wenig in unsere Forschungen einführen lassen? Und neues Leben blüht aus den Ruinen. Sie werden sehen, die alten Helden waren ebenso vernünftige wie vergnügliche Leute.«

»Wenn Sie mich gebrauchen können, stehe ich immer zu Ihren Diensten.«

»Das soll ein Wort sein. Die Arbeit wird Kopf und Fäuste brauchen, wenn sie ein Kulturfaktor werden soll. Es ist gleichsam eine Bekehrung von oben nach unten.«

Der alte Klaus kniff ein Auge. »Vergeßt nit, die Rheingass' zu grüße, Moritz.«

»Es soll mein erstes sein.« Und Moritz Lachner suchte sich seinen Weg aus dem kleinen, verwunschenen Städtchen heraus und marschierte die Chaussee, die zur Bahnstation nach Dormagen führte. Von dort brachte ihn die Eisenbahn in einer halben Stunde nach Köln.

Am Nachmittag ging er zu Frau Maria. Ein Dienstmädchen öffnete und wies ihm das Zimmer.

Frau Maria hob den Kopf bei seinem Eintritt. Sie saß an ihrem Arbeitstischchen und stickte. Das volle Haar hatte seine Farbe geändert, es lag in silbernen Wellen um das jung gebliebene Gesicht. Nur der schärfer Zuschauende gewahrte die feinen Runen, die die Geschichte langer Nächte erzählten.

»Sie sind es, Moritz?«

»Ja, Frau Doktor. Und Sie sind wieder allein?«

»Carmen ist doch von Heidelberg gekommen. Also bin ich nicht einmal so allein wie sonst.«

»Aber sie ist nicht bei Ihnen.«

»Sie kleidet sich in ihrem Zimmer an. Sie will zu einem großen Kostümfest, deshalb braucht sie mehr Zeit zur Toilette.«

»Und deshalb unterbrach sie ihre Studien in Heidelberg ... Darf ich Ihnen ein wenig Gesellschaft leisten, Frau Doktor?«

»Wenn Sie den Abend für eine alte Frau frei haben, Moritz?«

Moritz Lachner zog sich leise einen Stuhl heran, setzte sich und beugte sich über ihre Hand, die still im Schoße ruhte. »Sie sind mir wie eine Mutter, und Mütter werden nie alt.«

»Verwöhnen Sie mich nicht, Moritz.«

»Wie anspruchslos müssen Sie geworden sein, daß Sie mich unscheinbaren Menschen als Verwöhnung auffassen.«

Sie lächelte über ihn hin. »Anspruchslos? O nein. Das wäre gleichbedeutend mit arm. Mein Vermögen trägt nur keine Zinsen mehr, aber es hat sich in jüngeren Jahren so angesammelt, daß ich bis zu meinem Tode davon zehren kann. Nein, anspruchslos bin ich nicht.«

»Ich kann Sie nur immer bewundern,« sagte Moritz Lachner.

»Dazu haben Sie keinen Grund. Ich sehe nur den Dingen in die Augen und gebe ihnen keine falschen Namen.« Dann plauderten sie von Tagesereignissen, von Lachners Dozententätigkeit und seinen wissenschaftlichen Plänen und merkten kaum, daß die Stunden dahingingen. Das Dienstmädchen hatte die Lampe gebracht, und die Uhr schlug halb acht, als Carmen ins Zimmer trat. Sie trug das kleidsame Kostüm der Damen der französischen Revolution. Wie ein Blumenkelch hob sich die schlanke Büste aus dem fließenden Gewand, und in den schwarzen Locken saß keck der Zweispitz. Es war Elastizität in dem jungen Körper.

»Ist Laurenz noch nicht hier?«

»Laurenz nicht, aber Moritz.«

»Ach, der Moritz ... Guten Tag. Du schwänzest wohl dein eigenes Kolleg? Das ist heiter, aber es erlöst mein Gewissen, weil ich auch schwänze. Der Laurenz nimmt sich wirklich Zeit, Mutter.«

»Du solltest eine Tasse Tee trinken und ein paar Cakes essen, Carmen. Es ist kalt draußen, und bis ihr ans Büfett kommt, werden noch ein paar Stunden vergehen.«

»Tu' ich dir einen Gefallen damit, Mutter? Aber unverantwortlich bleibt es doch von Laurenz, mich warten zu lassen.«

»Vergiß nicht, daß du in Heidelberg auch deinen Professor warten lässest,« meinte Frau Maria lächelnd und ging, um selbst den Tee zu bereiten.

»Die Mutter stellt dich damit Laurenz gegenüber auf eine hohe Stufe,« sagte Moritz Lachner.

Sie sah ihn mit ihren dunklen Augen erstaunt an. »Glaubst du vielleicht, das täte Laurenz nicht auch?«

Er zwang sich, den Blick ruhig zu ertragen, aber als er zu sprechen begann, wurde er plötzlich blaß.

»Ich weiß, daß du mit einem anderen Bewußtsein gar nicht leben könntest, Carmen, trotz deiner freiheitlichen Allüren. Laurenz aber –«

»Nun? Was hast du wieder an ihm auszusetzen?«

»Alles,« sagte er und nahm sich zusammen.

»Bitte. Spezialisieren.«

Da floß es aus ihm heraus. »Er ist ein Egoist, der nur an sich denkt, der sich mit dir nur in Szene setzen will wie auch mit der Schönheit anderer Frauen, denen er den Hof macht. Jawohl. Ich rede nicht leichtsinnig. Oder denkst du, er mache seine melancholischen Augen nicht auch anderen? Wohin er kommt, posiert er. Der ganze Mensch ist Unnatur. Hinter seinen ewig weichen Schmeichelworten verbirgt er die brutalste Rücksichtslosigkeit, die sofort zum Durchbruch gelangt, wenn er die Gewalt hat. Andern Tags kennt er seine Geschöpfe nicht mehr. Um eine lustige Stunde für seine Eitelkeit zu gewinnen, ist es ihm gleich, ob er die Menschen, die ihm dazu verhelfen müssen, auf viele Jahre, wenn nicht auf immer todunglücklich macht. In Paris hat er sich ausgebildet, und es fluchen ihm mehr Mädchen, als du denkst. Solche Parasiten sollte man unschädlich machen.«

»Weshalb glaubten sie ihm?«

»Glaubst du ihm nicht auch?«

»O – ich! Ich bitte doch, mich nicht in Parallele zu stellen.«

»Weil du mehr Geist hast? Das ist ihm noch gar nicht aufgefallen. Er sieht nur dein Äußeres an, und das ist ihm angenehm.«

»Bist du fertig mit deinen Hinterbringungen?« Seine Blässe wich. Das Blut kehrte zurück und stieg ihm in die Wangen. »Du tust mir unrecht. Ich bin erbötig, das, was ich soeben sagte, bei Terbroichs Eintritt zu wiederholen. Wenn ich den andern Weg wählte, tat ich es, um dich nicht in eine widerwärtige Szene zu verwickeln. Dazu bist du mir zu gut.«

»Vergib, Moritz,« sagte sie und ergriff hastig seine Hand.

»Carmen – –«

»Ich weiß, daß du mich liebhast. Sieh, ich sprech' es aus, damit du erfährst, daß mir der Gedanke gar nicht schreckhaft ist. Aber es kann nicht sein.«

»Weshalb kann es nicht sein, Carmen? Denn ich liebe dich wahr und wahrhaftig.«

»Ich will es dir sagen, Moritz, und ich will nichts beschönigen. Weil ich in den engen Geist einer Ehe, wie wir sie führen würden, nicht passe, weil ich mit allem, was ich gelernt habe, nicht bloß Mitläuferin sein kann, und weil mich meine ganze Veranlagung in die große Welt drängt. Ich muß die Arme ausbreiten können, so weit ich will.«

»Der Geist der Ehe ist nicht so eng, wie du ihn hinstellst. Er kann durch die Kameradschaft der Gatten eine Welt eröffnen, gegen die deine ersehnte Welt nur ein leerer Schemen ist. Deine Sehnsucht ist das Fieber unserer Zeit. Sie alle, die in der Jugend die Heilung beiseite schieben, werden im Alter ein Gebrechen mit sich herumschleppen. Schau dich doch um unter deinen Vorbildern. Lauter unzufriedene, ruhelose Frauen.«

»Siehst du die in der Allerweltsehe nicht?«

»Die Ehe, die ich meine, ist keine Allerweltsehe. Der Geist wird die Form bestimmen.«

»Ach, lieber Moritz, die Fessel der Frau schaffst du nicht aus der Welt.«

»Wenn sie aus Gold besteht, bleibt sie nicht weniger, was sie ist.«

»Dann – lieber gar keine Fessel.«

»Wenn das Frauenschicksal eintritt, werden keine berauschenden Worte standhalten.«

»Aber der Mann wird standhalten.«

»Dann wäre alles gut. Aber du sprichst so leicht von Ausnahmen, weil du selber eine Ausnahmenatur bist. Carmen, ich bitte dich, weil ich dich liebhabe, prüfe nicht nur dich.«

Frau Maria brachte den Tee. »Wenn es Ihnen recht ist, Moritz, warten wir beide noch ein Weilchen. Erst wollen wir die turbulenten Geister aus dem Hause haben. Dann genießen wir den Feierabend.«

Carmen trank im Umherwandern den Tee. Sie horchte nach der Tür, und als es acht Uhr schlug, ließ das Dienstmädchen Laurenz Terbroich eintreten, über seinem prallen Revolutionskostüm trug er einen langen Pelerinenmantel. Den Kopf zurechtzustutzen, hatte er unterlassen. Er wußte, daß ihn sein glattrasiertes Gesicht mit dem kleinen dunklen Backenbärtchen nach Lord Byron und dem vollen, dunklen Haupthaar am besten kleidete. Er begrüßte die Anwesenden mit jäh herausspringender Herzlichkeit.

»Du läßt mich warten,« sagte Carmen kühl.

»Ärger in der Fabrik. Das Etablissement muß dringend vergrößert werden. Aber das ist ein Ton, der nicht in unser schönes Lied paßt. Wundervoll schaust du aus.«

»Gehen wir.«

»Das Coupé wartet auf dich. Die neuen Schimmel, Carmen, und im neuen Silbergeschirr. Keine Dame Kölns fährt heute wie du.«

»Heute,« wiederholte sie spöttisch, verabschiedete sich und ging ihm voran. –

Frau Maria deckte den Abendtisch. Es wurde so traulich in dem kleinen Gemach, daß Moritz Lachner kaum zu sprechen wagte. Erst, als sie wieder im Fensterwinkel saßen, faßte er Mut.

»Nun sind sie auf dem Balle,« begann er stockend.

»Er hat sehr schöne Augen, Moritz. Oder liegt es daran, daß er immer die Wimpern darüber fallen laßt.«

»In seinen Augen sind Punkte, die umherspringen.«

»Ich habe die Beobachtung auch gemacht. Aber Carmen läßt es nicht gelten.«

»Weil er zu glänzen versteht. Und aller Glanz zieht sie an. Das ist traurig.«

»Es ist eine vorübergehende Erscheinung, Moritz. Das bringen ihre Jahre mit sich. Sie dürfen das nicht so schwer nehmen.«

»Nehmen Sie es nicht auch schwer?«

»Wenn sie verheiratet sein wird, wird der Glanz seine Anziehungskraft verlieren, und sie wird sich auf ihre tiefen und starken Fraueneigenschaften besinnen. Sie besitzt sie mehr, als sie jetzt ahnt.«

»Sind – sind die beiden denn verlobt, Frau Doktor?«

»Ja – Sie fragen mich da etwas, was Sie doch selber wissen müßten.«

»Ich meine, Frau Doktor, ob Laurenz Terbroich schon mit Ihnen gesprochen hat.«

»Nein. Das nicht. Aber –« Frau Marias Blick wurde groß. »Moritz, weshalb fragen Sie mich das alles?«

»Weil ich das Gefühl habe, daß der junge Terbroich der einzige ist, der sich keinerlei Gedanken macht.«

»Soll das heißen –«

»Und weil ich möchte, daß Sie sich Gewißheit darüber verschafften, Frau Doktor. Ihr großes Vertrauen ehrt ja jeden, der davon betroffen wird. Sollte jeden ehren. Anders Denkende dürften für uns gar nicht existieren.«

»Es kann nicht sein, Moritz.«

»Wissen Sie, daß der junge Terbroich große Aufwendungen treibt?«

»Er ist sehr vermögend. Sie hörten doch soeben erst, daß die Fabrik vergrößert werden soll.«

»Sand in die Augen, Frau Doktor. Man sucht auf unauffällige Weise nach Geld.«

»Carmen ist nicht unbemittelt.«

»Das würde langen, um Laurenz' Schulden zu bezahlen, nicht um die Fabrik flott zu machen.«

»Nein, nein, nein! Sagen Sie das nicht! Denn – welche Rolle würde dann Carmen spielen?«

Sie saß vornübergeneigt und sah ihrem jungen Freund starr ins Gesicht. Als erwartete sie von ihm, daß er den heraufbeschworenen Bann wieder von ihr nähme.

»Frau Doktor, erschrecken Sie doch nicht so. Sie sind doch die Mutter. Ihnen wird Carmen glauben.«

»Ja, was denn nur in aller Welt? Ich taste ja selbst im Dunkeln. Ich kann mich doch als Frau nicht auf das Spioniergeschäft verlegen. Was einem Mann ansteht, zieht eine Frau hernieder. Und täte ich es auch – ist der Terbroich so, wie Sie ihn schildern, so würde er mich belügen.«

»Das würde er. Vorläufig würde er es.«

»Herr Gott,« sagte Frau Maria, schloß die Augen und lehnte sich zurück, »wo ist Joseph – –?«

Es war das erste Mal seit Jahren, daß sie seinen Namen nannte. Und der Klang, mit dem sie ihn aussprach, das jähe Heimverlangen nach dem Mann, dem Helfer, das hindurchzitterte, ergriff den Gast bis in die Seele.

»Wenn Sie zu ihm gingen, Frau Doktor.«

»Er wird sich vor mir zurückziehen, wie vor seiner ganzen Vergangenheit.«

»Er hat sich auch vor mir nicht zurückgezogen. Ich war in Zons bei ihm.«

»Sie, Moritz? Wann?« Ihre Spannkraft war zurückgekehrt. Ihre Hand legte sich fest auf Lachners Arm.

»Heute, Frau Doktor.«

»Heute? Wie sah er aus? Ich meine nicht nur äußerlich. So sprechen Sie doch.«

»Er ist derselbe vornehme, ritterliche Mann. Nur ernst und still geworden.«

»Und alt?«

»Und alt. Bis auf sein heißes, blaues Auge.«

»Die heißen, blauen Augen ...« sagte sie langsam, wie aus einem weiten Nachsinnen heraus. »Auf sie vertraue ich ...«

»Tun Sie es, Frau Doktor. Tun Sie es Ihrer und – seiner Carmen wegen. Ich selbst will mich dann bemühen, wunschlos zu werden.« Sie hörte es nicht mehr. Seit sein Name über ihre Lippen getreten war, erfüllte er mehr und mehr das Gemach, nahm Gestalt an und zog ihr Denken auf sich. »Joseph –«

Moritz Lachner erhob sich. »Ich weiß jetzt, daß Sie es tun werden, Frau Doktor.«

Da sah sie auf, und ihre Mundwinkel zuckten. »Ich werde Wache halten. Carmen ist blind, und ich kann es ihr nicht einmal verargen, denn man glaubt, was man wünscht. Sollten Sie recht behalten, und sollten meine Kräfte schon schwach sein – nun, gute Nacht, Moritz. Sie haben mir zwar die Dunkelheit gezeigt, aber auch die Helle. Gute Nacht, Moritz.«

Aufrecht, mit klarem, ruhigem Auge reichte sie ihm die Hand, und er ließ sie getrost allein. – –

Wieder einmal brauste die Kölner Fastnacht heran und wirbelte das Leben durcheinander, bis es sich selbst vergaß. Am Nachmittag des Sonnabends, der den Fastnachtssonntag einleitet, stieg Frau Maria auf der Station Dormagen aus und ging, ohne anzuhalten, die Chaussee nach Zons. Die straffe Kälte hatte seit wenigen Tagen nachgelassen. Das Schneewasser rieselte von der Straße in die Gräben, und das Eis barst allenthalben. Vom Rhein her krachte es wie Böllerschüsse. Der Frühling sagte dem Winter Fehde an.

Ohne die öde Landschaft zu beachten, schritt Frau Maria vorwärts. Sie sah müde und gealtert aus. Aber von Zeit zu Zeit hob sie den Kopf, und wenn ihr Blick die Wettertürme von Zons streifte, die wie ein Wunderbau aus dem flachen Land herauswuchsen, leuchtete es in ihren Augen auf, als wartete dort das Heil auf sie. Nun bog sie in das ihr bekannte Städtchen ein und suchte nach der Beschreibung Lachners des alten Klaus Gülichs Haus.

Joseph Otten saß in seinem Zimmer am Schreibtisch. Seit dem Besuche seines jungen Freundes war er noch verschlossener und menschenscheuer geworden. Es dunkelte, und immer in den Dämmerstunden schlug er sich mit seinen Gedanken und erzwang sich Ruhe.

Bist du hier, Joseph? Man sieht dich nicht.«

»Ja, Heinrich. Möchtest du etwas?«

Heinrich Koch trat ins Zimmer. Mit schnellen Schritten ging er auf den Freund zu. »Ja, Joseph. Aber nicht ich allein.«

»Was sagst du? Sei nicht so geheimnisvoll.«

»Joseph, es ist jemand angekommen.«

»Ich bin für keinen Menschen zu sprechen.«

»Und wenn es – Maria wäre?«

Der Stuhl kratzte über den Fußboden. Dann war es still.

»Joseph, deine Frau ist gekommen.«

Er wehrte heftig ab. Ein Angstgefühl schnürte ihm die Kehle zu. Feucht fühlte er es auf seiner Stirn. Nur jetzt nicht, nur jetzt nicht! Darauf war er nicht vorbereitet, dazu hatte er mehr Sammlung nötig als zu einem Kirchgang.

»Darf sie eintreten? Sie wartet auf der Diele.«

»Nimm dich ihrer an, Heinrich. Besorg ihr ein Fuhrwerk oder ein Zimmer im Gasthof. Frag ihr alle Wünsche ab und erfüll' alle. Nur den Wunsch, mich zu sehen, soll sie nicht haben. Nur den nicht.«

»Joseph, deine Frau kommt zu dir.«

»Wenn du mein Freund bist, Heinrich! Oder ich muß auch Zons wieder verlassen ...«

Da ging der Freund stumm hinaus. – –

Joseph Otten stand am Fenster.

Der frühe Mond zog auf und beleuchtete die Rheinwiesen und den Strom, der unter den stoßenden, drängenden Eisschollen stöhnte. »Ich bin wie ein Fisch, der auf den Strand geworfen ist,« dachte er finster, »und das ist kein Anblick.« Doch je mehr er hinter dem Bilde Schutz suchen wollte, umso stärker fühlte er, wie sein ganzes Wesen nach der Frau, die soeben schweigend sein Haus verließ, hinbegehrte, als sei es der beste Teil seines Selbst.

Seine Hände krampften sich um den Fensterriegel. Da ging sie – –.

Nur ihre Gestalt konnte er erkennen. Er strengte seine Augen an. Wie trostlos sie dahinging.

Und es war der einzige Mensch, der in Lust und Leid an ihn geglaubt hatte.

»Maria!« – –

Er sah sie im Dunkel verschwinden.

Wo war sie hin. Dort – in den Rheinwiesen! Nein, es waren zitternde Weidenbäume. Und doch! Aber dort führte doch kein Weg –. Er riß das Fenster auf und beugte sich weit hinaus. Das Donnern und Poltern der krachenden, schiebenden Eisschollen erfüllte sein Ohr.

Der Strom –!

Kalten Schweiß auf der Stirn, trat er zurück. Weshalb suchte sie den Strom auf? Und auf einmal durchzuckte es ihn: Sie will in den Rhein! In den Rhein will sie. Soeben hat ihre müde Seele den Fangschuß erhalten. Nun kann sie nicht mehr.

»Hoho!« schrie er auf.

Und Hut und Mantel zusammenballend, stürmte er hinaus. Um den Mauervorsprung, über die Wiesen, an den Rhein.

»Hoho – Maria!«



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