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1

Ein Adlerschrei – Aus Scheitelhöhe – –

»Ein Adler, Mutter! Dort! Siehst du ihn?«

»Ein Steinadler!« flüsterte der andere Knabe und packte in der Erregung fest des Freundes Hand. Die Köpfe weit in den Nacken gebogen, die Schultern aneinandergepreßt, starrten die Knaben in den blaublanken Frühlingshimmel. Bewegungslos standen sie, und ihre tiefen Atemzüge kamen wie aus einer Brust.

Frau Christiane Opterberg erfaßte mit einem langen, lächelnden Blick das Bild dieser Jugend. Sie lehnte, die Kappe über die strohgelbe Haarkrone gezogen, den kraftvollen Leib in starkem Lodengewand, und die Füße bis weit hinauf zur geschwungenen Wade in derbes Rindsleder geschuht, an einem Felsstück, und ihre Brust ging geruhsam auf und nieder.

»Mutter! Siehst du?«

Jetzt erst suchte ihr Blick den Himmelsbogen ab.

»Es sind ihrer zwei,« sagte sie nach einer Weile. »Die Steinadler jagen paarweise, ihr Buben. Sie sind die Könige der Einsamkeit, und die Einsamkeit verlangt einen Gefährten.«

»Die Einsamkeit?« fragten die Knaben zweifelnd. »Dort! Wirklich dort – der zweite!«

Frau Christiane hatte ihn längst entdeckt. Ihr helles Auge folgte den Kreisen der gewaltigen Vögel, den Kreisen, die lotrecht über ihr den Himmel umspannten, sich kaum zu berühren schienen, sich umeinanderschlangen, sich ausdehnten, sich verengten und jäh ein einziger Punkt schienen – wenn es galt.

»Ja,« sagte Frau Christiane Opterberg, »gerade die Einsamkeit. Ohne einen Gefährten wäre sie eine große, leere Gebärde, ein Grab bei Lebzeiten; mit einem Gefährten die Größe und Fülle des Lebens, aus einer stolzen Höhe betrachtet. Seht – da stoßen sie zu Tal ... Was werden sie sich alles zu erzählen und zu erklären haben, wenn sie wieder hoch oben in ihrem Horste sitzen. Nun denkt's euch mal aus.«

Die Knaben schauten lachend einander an und lachend die helläugige Frau.

»Na? Habt ihr's gefunden, ihr Wanderbuben?«

»Die Mutter meint,« rief Martin Opterberg, »Einsamkeit und Tod ist noch lange nicht dasselbe.«

»Noch lange nicht,« bestätigte die Frau, und ihre Augen weiteten sich.

»Die Frau Pate meint: Und wer nicht tot ist, der hat zu leben, und, aus der Höhe betrachtet, lauft's da drunten durcheinander wie Ameisen, die einen nicht schrecken.«

»Richtig, Christoph Attermann. Das mein' ich. Und wenn du es dann droben in der einsamen Höh' einem gleichartigen Gefährten mitteilst und er es dir bejaht, dann wird euch euer ernstes Wissen zur fröhlichen Gewißheit, und ihr habt erst die rechte Freude am Leben, weil's nimmer ein Fürchten gibt.«

»Mutter,« sagte der zwölfjährige Sohn aus Sinnen heraus, »hast du einen solchen Gefährten?«

»Ich hab' dich, und du hast den Christoph, und so hab' ich euch beide. Vorwärts, ihr Buben, und nehmt die Schuhe in die Hand. Wir betreten geheiligtes Land, wie's in der Schrift heißt. Spannt die Horcher auf. Hört ihr's seufzen und singen? Das ist ein Mutterlied und ein Kinderlied. Drauf zu und nehmt's in euch auf. Nehmt die ganze Brust voll. Noch ein paar hundert Schritt' und Sprüng' über das graue Geröll, zwischen die Felsen hindurch« – sie nahm beim Anschreiten den einen Buben links, den andern rechts an sich in Wanderfreude – »ah, da haben wir's erreicht ... Hier wird der Rhein geboren.«

Und plötzlich spürte sie, wie links und rechts die klammernden Knabenfäuste sich tief in ihre Arme gruben.

Kristallen und blau blitzte die Angewurzelten der winzige Spiegel des Tomasees an, von steilen Felsen und dunkel wuchtender Bergwelt wie von Wimpern und Brauen umgürtet. Kaum ein Fußbreit Land, um heranzutreten. Steinblöcke, Jahrtausende alt, schirmen den Zugang zu dem Wunder der Zeugung, das, dem Auge verschleiert, in dreifacher Kraft aus dem Gletscherspalt quillt, aus Felsentiefe bricht, aus dem Grunde des Bodens steigt, um in der Muschel des Sees in kristallener Bläue das Auge aufzuschlagen.

Machtvoll in ihrer Mutterschaft und in ihrem Mutterstolz auf das geheime Wunder lag die wilde Bergwelt Graubündens, türmten sich die himmelstürmenden Gipfel, sprangen die weißen Brüste der Gletscher in Urkraft hervor. Ein Gebietendes und doch alle Wünsche Stillendes lagerte in der Luft, und die Knaben rangen nach einem Wort.

Und Martin Opterberg sagte so leise, als ob er ein Geheimnis sage, und seine Augen hafteten an dem spiegelblanken Wasser: »Mutter, das ist – wie die Farbe deiner Augen. So blau – und so kristallen.«

»Ja, Frau Pate, der Martin hat's mir zuvor gesagt.«

Frau Christiane hob den Kopf und lugte einen Augenblick lang nach dem Stückchen Himmel, das hoch oben über der engen Felsschlucht eine Handbreit blaute. Und sie schob jedem der Knaben eine Hand unter das Kinn, hob ihnen den Kopf und senkte den Blick geruhig forschend in die Augen der Knaben.

»Das Kristallene, wißt ihr, das Kristallene, das haben die Menschen im Blick, die scharf zuschauen müssen im Leben, daß ihnen nicht der Weg verrammelt wird, und die sich nicht fürchten dürfen, über die Hindernisse hinüberzusetzen, wenn er ihnen doch verrammelt wird.«

»Die in den Beigen leben, haben es,« sagte Christoph Attermann, ohne das erhobene Kinn in ihrer Hand zu regen.

»Und die Leute der Tiefebene auch, die auf der See fahren,« sagte Martin Opterberg, und er suchte in dem Blick der Mutter.

»Seht ihr es wohl,« entgegnete sie, »einer allein findet es nicht, und es müssen schon zwei Gefährten sein, um sich auf das Richtige zu bringen. Der Berg hat's nicht allein, und die Tiefebene hat's nicht allein. Die Höhe des Lebens hat's, die den Dingen in die Seele blickt, und die Weite des Herzens, die sie umfaßt, um jed' Ding in seiner Art lieben zu lernen. Nur scharf zuschauen muß man, und man findet in jedem Ding und Menschenkind ein Bröselein Schönes oder Vergnügliches. Was wäre es sonst mit dem Glück ...«

»Mutter, hab' ich auch das Kristallene?«

»Und ich, Frau Pate?«

»Narrenbuben ihr. Ein Weniges. Aber es hat noch Zeit mit euch.«

Und sie zog die beiden Knabenköpfe mit einer mütterlichen Gebärde an ihre Brust.

»Aufgeschaut, ihr Buben. Da steht ihr nun an der Wiege des Rheins, des Vorderrheins, und morgen wollen wir die Wiege seines wilderen Gesellen, des Hinterrheins, suchen gehn. Auch der König unter den Strömen braucht einen Gefährten in der Einsamkeit. Hei, wie die ewigen Gletscher funkeln, der Badus in den Gotthardbergen, der Crispalt im Glarnerland. Und dort, dort – in die Ferne müßt ihr sehen – schwingt sich die Furka wie eine steinerne Himmelsbrücke, trennt die Bergzüge auseinander und verbindet dafür die Menschlein von Uri und Wallis. Da spürt man den Herrgott.«

Stille Andacht in den Augen, saß Frau Christiane auf breiter, moosübersponnener Steinplatte, auf der sich die Buben lang ausstreckten und, wohlig sich reckend und das Angesicht nach oben richtend, die Köpfe zutraulich in den Frauenschoß betteten. Frau Christiane strich ihnen mit einer kurzen Bewegung durch die hellen Haarbüschel. Dann wurde es ganz still zwischen den Dreien, und sie spannen ihre Träume hinein in die große, schweigende Natur, in die versteinerten Wogen der Bergmassen, die noch den Gischt der letzten Brandung in Eis und Schnee auf ihren Zackenhäuptern trugen, in das eingesprengte, winzige, kristallblaue Becken, darin sich rätselhaft das Leben aus tiefinnerstem Felsenleib erschloß: das lebendige, das Leben spendende Wasser. Mehr, mehr, als nur ein Wasser: das Wasser des Rheins, des deutschen Rheins.

»Ist das ein gesegneter Maimorgen,« sagte Frau Christiane nach einer Weile. Und als die Knaben schwiegen, fügte sie nach einer stillen Pause hinzu: »Ihr habt Recht, ihr Buben. Wir brauchen keine vaterländischen Lieder anzustimmen wie ein Männergesangverein mit dem gefüllten Silberpokal und keine feierlich dröhnenden Gelübde abzulegen wie ein Kriegerverein mit der Schärpe. Wir wollen ehrlich sein, so ehrlich, wie die Natur es ist, und uns ganz einfach sagen: Hier ist die Wasserscheide. Hoch genug, um sie nicht zu übersehen. An die zweitausend Meter hoch. Dort –« und sie wies mit der Hand nach den Bergen des Wallis, »wird die Rhone, hier wird der Rhein geboren, dort –,« und die Hand wies in weiter ausholendem Schwung nach Süden, »lockt das blaue, sonnenschimmernde Mittelmeer, dort –,« und ihre Hand fuhr gen Norden, »wartet die graue, stürmische Nordsee. Die Rhone hat das lieblichere Teil erwählt, der Rhein das schwerere. Seine Kindheit ist Kampf aus der Enge, seine Jugend Lachen und Schwärmen, seine Manneszeit die gesammelte Kraft zur stärksten Arbeitsleistung, und sein Alter – ja, ihr Kinder, das ist die Frage, die der Herrgott euch offen läßt, um euren Witz daran zu proben – soll es versanden oder soll es in neue Kanäle geführt werden, die ohne Hasten und Stürmen die auf langem Wege gesammelten Güter dahintragen in das Meer der Allgemeinheit? Hier ist die Wasserscheide, Kinder. Im Süden steht die Sonne, im Norden der Nebel. Was dünkt euch?«

»Der lange Weg, Mutter. Kämpfen, lachen, siegen. Durch den Nebel hindurch.«

»Der lange Weg, Frau Pate. Schaffen, arbeiten. Und dann der Kanal. Das wär' schon was.«

»Ihr rauflustigen Germanenbuben,« rief Frau Christiane und griff ihnen in den Schopf.

»Aber es soll mir schon recht sein, daß ihr nicht einschlafen wollt und euch euer Leben selber zu erringen trachtet. Denn das wahre Leben, Kinder, das wahre Leben ist nur das mit Wunden erkämpfte.«

Sie sprang auf und riß die Knaben mit sich hoch. Lachend sah sie ihnen in die Augen.

»He, ihr beiden! Wollen wir hier die Gefühlsseligen spielen? Menschen mit solchen Muskeln und Lungen und allem Zubehör? Hunger hab' ich, Hunger! Hunger, Hunger, ihr nachlässigen Ritter, und nicht euch, aber eure Rucksäck' will ich zu meinen Füßen sehn!«

»Frau Pate, das Schwarzbrot! Ich schneid's aus!«

»Mutter, der Schinken, der rote Veltliner Wein!«

»Hängt die Flasche ins Bergwasser. Wen das Rheinwasser kühlt, dem gibt's erst das rechte innere Feuer. Ach, Christoffel, lang mir den Brotlaib. Bis zum Heiraten ist's noch lange hin, wenn du nicht besser schneiden lernst. Martin, behandle die Flasche recht. Des Weines Feuer soll zu Herzen gehen, nicht in den Kopf. Und nun zugelangt, ihr Wandervögel, damit's Marschieren wieder schmeckt.«

Ein weißes Mundtuch war über den moosigen Stein gespreizt. Die Brotschnitten lagen darauf und die Scheiben des Schinkens. In den Metallbechern funkelte purpurn der Veltliner. Und die Schneehäupter der Berge und die glatten Gletscherzinken lugten über den Felsenkessel auf die seltenen Gäste aus dem Menschenreich, und die Quellwasser des Rheins im Tomasee spiegelten alles wider: die Bergwelt, die Menschen und den Maientag.

»Daß der Vater nicht mitgewandert ist, Mutter. Er hat doch einmal das Malen betrieben.«

»Ei,« antwortete Frau Christiane, »weil dem Vater kein Weg zu weit und beschwerlich ist, wenn er ihn im Wagen fahren kann.«

»Ob ihn der meine noch hätt' schaffen können?« fragte der Christoph. »Er hat's mit der Atemnot wie nie. Drum ist er ja auch nach Freiburg zum Professor.«

Frau Christiane sah den sinnenden Knaben lange an. Gleichaltrig war er ihrem Martin und unzertrennlich von ihm seit der Geburt. Eine schlimme Geburt war's gewesen und von der Mutter mit dem Leben bezahlt. Und des Vaters Leben ein Siechtum ohne Ende, seit ihn beim Beschlagen des störrischen Gauls der Huf vor die Brust getroffen hatte.

»Ob ihm die Reise nach Freiburg hilft?« fragte der junge Christoph.

Frau Christiane bezwang ihren Blick.

»Jetzt wird sie schon geholfen haben. Packt ein, ihr Buben! Der Maientag ist nur einmal, und wir wollen ihn nutzen!«

Ins Quellwasser des Rheins tauchten sie ihre Hände, und mit den gletscherfrischen Tropfen des Jungwassers feuchteten sie sich Stirn und Augen. »Nun haben wir die erste Rheintaufe,« riefen sich die Knaben zu, »nun holen wir uns die zweite beim Bruder Hinterrhein.«

Kletternd und am Stocke springend gerieten sie auf gangbaren Gebirgspfad. Hoch über ihnen in der Graubündner Felsenlandschaft kreisten die beiden Adler.

Bis zum Abend waren sie gewandert, durch das Tavetscher-Tal, und ihnen zur Seite stürzte sich wie ein wilder Knabe, der keine Gefahren achtet und kennt, der bachbreite Rhein in brausendem Getöse die Felsen hinab. Im letzten Sonnenschein lag Disentis vor ihnen, das grüne Taldorf mit der Klosterkirche auf dem Hügel. Ein sauberer Weinschank bot ihnen Nachtquartier.

In schwer verständlichen romanischen Lauten begrüßten Wirt und Wirtin die Gäste, ging das Gespräch zwischen den Bauern, die vor dem roten Veltliner saßen. Verwundert horchten die Knaben beim Abendbrot auf. »Es ist die Sprache des alten Rätiens,« antwortete Frau Christiane ihrem fragenden Blick, »so hieß Graubünden, als es eine römische Provinz war. Doch vorher schon, Jahrhunderte vor Christi Geburt, sollen sich Etruskerfürsten in das wichtige Bergland geschlagen und es besetzt haben. Hier sitzen wir unter den Nachkommen. Aber nicht lange, ihr Buben, denn wir suchen spornstreichs das Bett. Morgen ist auch noch ein Tag.« –

In erster Morgenfrühe brachen sie auf, einem langen, sonnigen Wandertag entgegen. Sie winkten dem Bergbach zu, der sich dem Dorfe gegenüber in den Vorderrhein ergießt und den die Leute von Disentis stolz den Mittelrhein nennen, und winkten dem Kloster einen Abschiedsgruß.

»Mutter, weißt du nicht ein Märlein vom Kloster Disentis?«

»Wir nennen heut Märlein, was einst Kampf und Krieg war und blutiger Schrecken. Und es ist gut so, sonst liefe aus Angst vor der Vergangenheit die Freud' an der Zukunft aus der Welt. Uralt ist die Klosterstätte, und die Söhne des heiligen Benedikt haben sie errichtet. Das war, als nach des Königs Attila Tod Hunnenhaufen in die versteckten Berge drangen und lange, lange die Geißel über die rätischen Bauern schwangen, bis den schwerblütigen Gebirglern endlich das Blut heiß wurde und das Auge rot. Da gab es ein Blutbad, dem kein Hunnennachkömmling entrann. Seit jenem Tage stand das Kloster tausend Jahre lang als Zeichen der erkämpften Freiheit. Aber die Soldaten der französischen Revolution legten sich das Wörtlein Freiheit anders aus, wie es so der Brauch ist unter Menschen, die die Macht in die Hand bekommen haben, und brannten das Kloster mitsamt dem Dorf bis auf den Grund zu Asche, als die aufs Blut gequälten Bauern die Freiheit der Plünderer nicht verstehen wollten und die Sensen nahmen. Nachher haben die Überlebenden notdürftig wieder aufgebaut.«

»Mutter, wenn du erzählst, bekommt die Landschaft erst ein Gesicht.«

»Und schlägt die Augen auf, wie ein Mensch, Frau Pate.«

»Blickt hinein, ihr Buben, immer hinein. Die Augen sind's, die Farbe bekennen, nicht das Gewand. Und wenn ihr überdies Sorge tragt, daß die eigenen immer voll Wahrheit stehen, mag's biegen oder brechen, so bleibt ihr Herr und Meister über euch selbst und damit über die anderen.«

Weiter und weiter marschierten sie, durch Berg und Tal. Oft sprühten die Sturzwellen des Rheins vor ihnen auf, oft hörten sie nur sein unterirdisch Brausen aus Tannendickicht und Steingeröll. Menschensiedlungen tauchten am Wege auf. Schon begann kühner Unternehmungsgeist sich die Wasserkraft nutzbar zu machen, und das Echo der Eisenhütten scholl dumpf aus den Wäldern. »Erzähle, Mutter,« bat Martin Opterberg, »gib der Landschaft das Gesicht.« Sie traten aus dem Tannendunkel und marschierten rüstig auf grünem Talweg dem Dorfe Trons entgegen.

Frau Christiane wies auf einen Baumstumpf hin. »Was für ein Baum scheint's euch?«

Christoph Attermann war schon hingesprungen. »Ein Ahorn, Frau Pate!«

»Nur ein Ahorn? Wie Tausende? Ei, da wollen wir ihm ein Gesicht geben, daß gerade er unter den Tausenden haften bleibt. Das sind fünfhundert Jahr und mehr, da war dieser Ahorn ein ganz eigener, und was damals unter ihm beschworen wurde, das gab dem Lande den Namen. Den ›grauen Bund‹ beschworen damals aufrechte Männer unter diesem Ahorn von Trons, um das Land vor Zerstückelung zu bewahren, und das Land hieß alsbald Graubünden. So ist es stolzes und freies Land geblieben und wäre sonst zerrissen worden und unter die Füße getreten von Österreichern, Welschen, Spaniern und Franzosen. Seht, ihr Buben, und so mahnt uns der Ahornstumpf: Bleibt bei der Stange, wenn's ums Vaterland geht. Bleibt, was ihr seid, und sehnt euch nicht nach fremdem Flitter. Überläufer verlieren ihr Vaterland und gewinnen nimmer ein neues. Und wenn sie im neuen Land Minister würden, sie blieben Knechte im Geist.«

»Die Frau Pate meint, weil sie drüben scharwenzeln müssen, um für echt zu gelten.«

»Das mein' ich, Christoph Attermann, und manches, was das Gewissen beißt, dazu.«

»Ist Graubünden glücklich geblieben, Mutter?«

»Ach, du mein Närrchen, als die Graubündner die zahllosen Zwingburgen ihrer Fronherren im Lande gebrochen und den grauen Bund verstärkt und erweitert hatten durch die Gemeinden und Gerichte, da hätten sie's wohl sein können in der stolzen Freiheit. Aber nun taten sie das Dümmste vom Dummen, was ein Volk nur zu tun vermag, und griffen einander in die Gewissensfreiheit und befehdeten sich zornmütig um den lieben Herrgott, ob der das Kreuz geschlagen haben wolle oder nicht und selber zu seinen Kindern reden wolle oder durch den Mund der lieben Heiligen, und zerrissen sich in dieser geistigen Unfreiheit wie die wilden Tiere, mordeten einander zu Tausenden, riefen sogar von hüben und drüben die verhaßten Feinde ins Land, nur weil sie sich selber untereinander noch viel grimmiger zu hassen vermeinten, und jagten den Teufel mit Beelzebub aus, statt die Armseligkeit ihres Geistes vor Gott zu bemerken.«

»Mutter,« fragte Martin Opterberg, »meinst du damit, es sei gleich, ob katholisch oder evangelisch?«

»Mein Junge,« sagte Frau Christiane, »eines steht fest: dem lieben Herrgott ist es gleich. Der ist zu groß für solche und andere anmaßlichen Dummheiten, mit denen die kurzlebigen Menschen in seinem ewigen Wissen und Wollen herumstochern möchten. Der will, daß hienieden ein Schweizer zuerst ein Schweizer und ein Deutscher zuerst und ganz und gar ein Deutscher zu sein habe, und behält sich alles übrige für seine Ewigkeit vor. Dort, und nur dort, ihr Buben, wird sich die Erleuchtung finden. Punktum.«

Sie waren durch die Dorfstraße von Trons längst hindurch und auf dem Wege nach Ilanz, dem ersten Städtchen am Rhein. Aus der Berge Haft trieb der junge Strom in die Freiheit. Und die Gedanken der Knaben stürmten mit ihm, während die Füße rüstig wanderten und die Augen immer wieder die klaren Züge der Frau aufsuchten, die sich in körperlicher und geistiger Gesundheit stark fühlte und sicher unter den Menschheitsgeschwistern und aufrecht und vertrauend vor Gott als dem liebenden Vater.

In Ilanz gab es Mittagsrast. Aber sie sputeten sich, um noch vor Sonnenuntergang Reichenau zu erreichen, die Vermählungsstätte des Vorderrheins und des Hinterrheins. Voller Frühlingsflor standen die Matten, Forellen schnellten sich durch die Strudelbäche, in der Ferne blitzte aus rauschenden Baumgruppen der Flimsersee, Kuhherden läuteten durch das saftgeschwellte Gras. Friede überall. Da engt sich der Weg. Die Wälder verschlingen die Felder, die Felsen rücken heran und türmen sich hoch und steil, uralte Burgen auf den Gipfeln wie Raubnester über der Singvogelhalde. Der Rhein bäumt sich auf. Und wie ein Roß, das den Gefährten wittert, stürzt er sich zügellos in die zerklüftete Talenge und stürmt in verdoppelten Sätzen der Vereinigung entgegen.

Frau Christiane verhielt ihren Schritt. Sie schob die Kappe in den Nacken und stieß die Spitze des Wanderstockes in den Grund. Und die Knaben taten wie sie.

»Die Könige der Einsamkeit verlangen einen Gefährten, damit sie die Größe und Fülle ihres Lebens finden. Schaut dorthin, wo sich Rhein und Rhein umarmt! Um ein einziger zu werden! Eins in der Freude, im Kampf, in der Entsagung und der Hoffnung. Und immer gleich groß, ihr Buben.«

»Laß uns hin, Mutter.«

»Ja, Frau Pate –«

»Das Schloß da vor uns in dem Märchengarten ist der alte Sitz der Herren von Planta. Der Churer Bischof hat es gebaut. Die geistlichen Herren hatten einen guten Sinn dafür, wo die Erde am schönsten war und dem Himmel am nächsten. Kommt mit. Wenn wir durch den Märchengarten schreiten, gelangen wir dicht an das Märchen vom Rhein.«

Sie schritten schweigsam durch den dunkel träumenden Garten, traten hervor und standen am hell beleuchteten Strand. In den Bergen sank die Sonne und verstreute verschwenderisch ihr letztes Licht. Und in die kristallblanken Fluten des Vorderrheins warfen sich die schicksaldunklen des Hinterrheins. Über die Wasser ging es wie ein Seufzer der Erlösung ...

»Ein wildes Märchen, Mutter.«

»Ja, zahm ist das Rheinmärchen nie gewesen. Schlafhauben und Traumpoeten fabeln wohl davon. Wo der Rhein fließt, ist Kampf und wird es bleiben, solange Menschen leben. Seit Kelten und Römer mit den Germanen kriegten, bis in die Unendlichkeit.«

»Warum, Frau Pate?«

»Weil dies Märchen lebt und noch lange nicht gestorben ist.«

Da grübelten die Knaben über den geheimnisvollen Satz, bis sie im Gasthaus zu Reichenau am Tischleindeckdich saßen. –

Die Atemzüge des Maienabends zogen durch die weitgeöffneten Fenster in das Wirtssälchen. Oft schwollen sie an zu einer geheimnisvollen Woge von Düften, die in den blumigen Wildwiesen der Hänge und den bunten Bürgergärten des Städtchens geboren wurde. Dann senkte Frau Christiane die Hände und hob ganz leise das Gesicht der stillen Woge entgegen. Das lernten die Knaben schnell, und sie nannten es: das Herz baden.

»Jetzt sitzt der Vater daheim auf dem Gutshof und hat sich in der blauen Steingutbowle den ersten Waldmeistertrank gebraut,« sagte Frau Christiane.

»Und zupft wohl die Gitarre zu einem Lied,« fuhr Martin Opterberg fort und horchte ins Weite.

Der junge Christoph Attermann schwieg. Er dachte an seinen Vater, der nach Freiburg gefahren war, in die Klinik der Professoren, um von der schrecklichen Atemnot befreit zu werden. Und er dachte an seine Mutter, von der er nichts wußte, als daß sie in ihrer Mädchenzeit Schaffnerin gewesen war auf dem kleinen Gutshof der Opterbergs am oberen Rhein.

»Christoph,« sagte Frau Christiane, als läse sie in den Gedanken des Knaben, »an solchen Lenzabenden kam deine Mutter nach getaner Arbeit immer mit der Weißzeugnähterei zu mir unter die große Rotbuche, die so spät ihre leuchtenden Blätter auseinanderrollt, und wenn wir auch nicht viel sprachen, so fühlten wir doch, daß uns die Tagesarbeit zu guten Abendgefährtinnen gemacht hatte. Daß sie mit ihrer stillen, festen Treue bei mir war, hat mir oft über schwerblütige Gedanken hinweggeholfen, und sie kam auch noch Abend für Abend, als sie für ein Jahr in das kleine Schmiedehaus am Wege gezogen war, als deines Vaters junge Frau.«

»Für ein Jahr ...« wiederholte Christoph Attermann. »Dann war sie tot.«

»Was du nicht sagst, Christoph,« meinte Frau Christiane verwundert. »Wie kann ein Mensch tot sein, der in seinem Kinde lebt? Bist du nicht in ihrem Schoß geworden und aus ihrem besten Blut? Oder glaubst du gar, du wärest aus dem Schmiedeteich herausgezogen worden?«

Da lachten sich die schlanken Knaben fröhlich an und wollten alsbald mit hundert Fragen kommen, aber es war ein lautes Lärmen, Gelächter und Durcheinanderschreien in dem Wirtssälchen geworden, obschon nur eine Familie aus sechs Köpfen an der gegenüberliegenden Wandseite am offenen Fenster saß und sich den Tafelfreuden ergab.

Die Knaben schielten hinüber und nickten sich zu.

Just hatte das Haupt der Familie, ein gewaltig gewachsener Herr in gepflegtem schwarzen Riesenbart, mit vornehmer Gebärde der bedienenden Saaltochter eine Forelle von der Schüssel genommen, tastete mit der Gabel in das zarte Fleisch und belehrte die Bedienerin mit volltönender Stimme über eine verfeinerte Behandlungsweise des köstlichen Fisches. Er trug einen untadeligen grauen Reiseanzug nach englischem Schnitte, wie auch seine elfenhaft kleine quecksilbrige Gemahlin nach englischer Sitte gekleidet und von einem blauen Sonnenschleier umflattert war. Drei Knaben zwischen fünfzehn und zwölf Jahren, dazu ein Mädchen kaum über sechs, aber mundfertig wie die Brüder, bildeten in flotten Bergsteigertrachten den Rest der Tafel, tranken mehr als ihnen zukam von dem feurigen Veltliner und nahmen von der gereichten Schüssel je zwei der stattlichen Forellen, so daß die unwillige Bedienerin unter dem Gelächter von Mutter und Kindern und dem wohlwollenden Beifall des Vaters eine Schüssel nachholen mußte. Dann aber empfand die kleine quecksilbrige Dame den ländlichen Wein als zu sauer für ihren Gaumen, und der gewaltige Herr vollzog ein langes, gewichtiges Gespräch mit der Bedienerin, die in rotflammender Verlegenheit immer wieder die wenigen Weinsorten des Hauses aufzählen mußte, bis der vornehme Gast zugunsten eines traubensüßen und schäumenden Asti entschied und sich den schwarzen Bart zufrieden auf die Brust strich.

»Es sind die Barthelmeßleute, Mutter,« flüsterte Martin Opterberg über den Tisch Frau Christiane zu, die unwillig das ungezügelte Benehmen der Kinder, das großtuerische Gebaren der Erwachsen und die Störung des Abendfriedens durch den wortreichen Lärm empfand.

»Was für Barthelmeßleute?« fragte sie knapp.

»Der Kirchenbauer und Bildhauer, Mutter, der bei uns daheim in den Waldstädten die Wiederherstellungsarbeiten in den alten Kirchen verrichtet, in Säckingen, glaub' ich, und Rheinfelden. Die Kinder kamen schon oft auf unseren Hof und liehen sich alles aus, was sie kriegen konnten: Butter und Eier und Brot, ja sogar den Werkzeugkasten.«

»Richtig,« sagte Frau Christiane, »und wiedergebracht haben sie nichts und zu keiner Zeit.«

Sie wollte sich erheben, um mit ihren Knaben die Schlafräume aufzusuchen, als das kleine schwarzlockige Mädchen vom anderen Tische vor ihr stand. Es knixte und sagte in geläufiger Rede: »Ich bin die Sabine Barthelmeß, und Vater läßt die Frau Opterberg mit einer schönen Empfehlung fragen, ob die Frau Opterberg Vater wohl eben hundert Franken leihen könnte.«

Es war mäuschenstill am Tisch der Barthelmeß' geworden, während die Kleine sprach. Und in die Stille hinein antwortete Frau Christiane lustig, als handele es sich um einen Kinderscherz: »Ich kann dir leider nur noch ein Kätzchen leihen.«

»Ein Kätzchen?« wiederholte die Kleine verblüfft. »Weshalb denn ein Kätzchen?«

»Weil ein Kätzchen, wenn's einem ausgeborgt wird, von ganz alleine wieder nach Hause kommt. Gute Nacht, mein Kindchen.«

Das Mädchen warf einen hilfesuchenden Blick hinter sich. Und schon stand, bevor Frau Christiane mit ihren Knaben das Zimmer verlassen konnte, der gewaltige Herr mit einem freundlichen Lächeln vor ihr.

»Verzeihen Sie, meine gnädige Frau, die ländlich unbekümmerte Art, mit der ich in dieser Bergwelt mein Töchterlein zu Ihnen sandte. Die Beziehungen, die meine Kinder seit geraumem zum Opterbergschen Haus und Hof unterhalten haben, dünkten mich stark genug – Verzeihung, Professor Barthelmeß ist mein Name. Tja, und da habe ich mich wahrhaftig auf der Reise verrechnet gehabt und darf Ihnen wohl die hundert Franken in nächster Woche nachbarlich zurückerstatten.«

Das Körperliche des Sprechers erdrückte fast. Aber Frau Christiane ließ sich nicht erdrücken.

»Ich pflege,« entgegnete sie freundlich und neigte zur Gegenbegrüßung leicht das Haupt, »wenn ich mit den Kindern eine Bergfahrt unternehme, nur das allernotwendigste an Geld mit mir zu führen. Damit sich die Kinder den einfachen Lebensbedingungen des Gebirgslebens anpassen lernen und damit wir auf unseren einsamen Pfaden keine Gelegenheit bieten, ausgeplündert zu werden. Aber der Gasthofhalter ist mir bekannt, und ich werde ihm gern ein Wörtlein sagen.«

Noch einmal neigte sie freundlich das Haupt und schritt mit ihren Knaben an dem verdutzt sich Verbeugenden vorbei aus dem lautlos gewordenen Zimmer.

Im ersten Morgenlicht nahmen sie ihr Frühstück. Noch hatte keins von den Barthelmeßleuten sein Bett verlassen. Frau Christiane verständigte mit wenigen Worten den Wirt und gab ihm an, von welchen Kirchengemeinden der Waldstädte der Herr Professor Barthelmeß augenblicklich beschäftigt werde. Der Wirt lachte. »Ich kenn' schon den Weg.«

»Nun gilt's noch einmal, ihr Buben,« feuerte Frau Christiane draußen ihre morgenfrischen Begleiter an, »und jetzt gilt's erst aus dem Vollen. Bis morgen mittag müssen wir uns bis ins Gletschergebiet des Rheinwaldhorns durchgekämpft haben, wollen wir als rechte Bergsteiger gelten. Viertausend Fuß höher hinauf, ihr Buben. Dafür aber auch dichter heran an den lieben Gott. Und wir tauchen die Hände in die Quelle des stürmenden Hinterrheins.«

»Mit der Frau Pate wird's ein Katzensprung!«

»Führ uns, Mutter!«

Durch das Domletschgertal wanderten sie, durch die weiten, grünen Matten, und kraftvoll wogte ihnen der dunkle Strom entgegen, der Bergesprenger und Felsenspringer. Klosterruinen und Burgentrümmer auf ragenden Zinken und Zacken ließ er hinter sich, eine zerbrochene und schon verschollene Welt trotziger Herrengeschlechter in Panzer und Kutte. Jeder Fußbreit Bergerde, den die Wanderer betraten, sprach von Kampf und wieder Kampf, und je rauher und unzugänglicher die Bergwelt schien, um so enger nur drängten sich die blutigen Spuren der Menschen, die seit Jahrtausenden um die starren Höhen kämpften, um hinüber zu gelangen in die weichen Täler. Wohl an zwanzig Geschlechternamen schlugen an das Ohr der Knaben, und jeder Name wandelte sich ihnen zur Sage von Männern, die da starben, wie sie gelebt hatten, ob's im Recht oder Unrecht gewesen war. »Das ist das Märchen vom Rhein,« schloß Frau Christiane eine jede ihrer Erzählungen, »und wer auf diesen Wegen dem Ursprung des Rheins nachgeht, der wird begreifen lernen, daß die Seele des Stromes kriegerisch ist, auch wenn er sich an seinen Ufern ab und an das Flötenblasen gefallen läßt.«

Und die Knaben begriffen es, als sie dem lieblichen Dörflein Thusis einen Abschiedsgruß zugewinkt hatten, um in der Felsenwildnis des Schamsertales wie Staubkörner zu verschwinden. Jäh schluckte sie das Felsentor des ›Verlorenen Loches‹, und als sie sich durch den finsteren Bergtunnel hindurchgetastet hatten, standen sie erschauernd vor der grausigen Urgewalt der unbezähmten Natur und ihrer eigenen Kleinheit.

»Hindurch, hindurch!« rief Frau Christiane. »Es ist der Weg des Schreckens, die Via mala, aber Mut ist mehr als Schrecken, und nur die erkämpften Kronen haben Wert. Seht, durch dieses Felsenmeer hat sich der junge Rhein eine enge Gasse in die Freiheit gebissen, und so eng und so schauerlich sie ist, mutige Männer sind ihm gefolgt und haben Schritt für Schritt eine Straße an die senkrecht stürzenden Felswände geklebt, haben sterbend Spitzhacke und Mauerkelle weitergegeben, von Geschlecht zu Geschlecht, Jahrhunderte hindurch, bis der Mensch Sieger war, den Weg des Schreckens hindurch von Rongella bis Andeer, und über den Splügenpaß die Menschheitswege zueinander konnten von Norden nach Süden. Hindurch, hindurch, ihr Buben!«

Da strafften sie den Leib und marschierten den schwindelnden Weg, Tausende von Fuß die steilen Felswände über sich, jäh abstürzend die Felswände unter sich, und das donnernde Brausen des wütenden Wassers irgendwo in geheimnisvoller Tiefe. Stunden hindurch marschierten sie, hoch im Unendlichen über der lichtlosen Schlucht wie ein schmaler Streifen das Himmelsblau, und vermochten nicht zu sprechen vor dem Wogen und Wallen der Gedanken.

»Wir siegen,« rief Frau Christiane, als sie sich, das Grausen im Rücken, in der nächsten Morgenfrühe über die letzte Felsterrasse des Rheinwaldtales hinaufarbeiteten zur Gletscherhöhe des Rheinwaldhornes. »Gebt das Letzte her. Vor Mittag find wir droben.« Und als die Sonne scheitelrecht stand, riß sie die Knaben mit starker Bewegung an sich.

»Da seht! Da seht! Da springt der Rhein von der Mutterbrust.«

Ein silbriger Faden huschte aus dem dunklen Gletscherspalt, gewann an Kraft, sammelte sich zum ersten Sprung, durchbrach das Gestein, stürmte eine kurze Strecke dahin und stürzte sich ohne Besinnen in dunkle Felsennacht, um, unsichtbar dem Auge, alle Jugendkraft zusammenzufassen zur ersten Mannestat des Kettensprengens.

Und wieder beugten sich Frau Christiane und die Knaben über das spritzende Quellwasser und befeuchteten sich Stirn und Augen.

»So sollt ihr jugendstürmisch springen und brausen,« sagte Frau Christiane, »und auch ab und an von der Bildfläche verschwinden, um eure Kräfte zu sammeln und als Mann hervorzutreten. Ein jedes Zeitalter des Lebens heißt es erfassen und auskosten, damit das nächste nicht unter falscher Sehnsucht leidet. Denn was das eine Zeitalter köstlich kleidet, steht dem anderen Zeitalter nicht mehr zu Gesicht.«

»Mutter,« sagte Martin Opterberg, »ich wollte dich noch fragen, weshalb du zu Reichenau dem Professor Barthelmeß nicht ausgeholfen hast?«

»Weil dem erwachsenen Mann und dem Vater der großen Buben der Knabenleichtsinn nicht mehr zu Gesicht stand, und weil's immer noch nahrhaft Schwarzbrot zu erarbeiten gibt, wenn's für Schaumwein und Forellen nimmer langt.«

Am Abend saßen sie beim Posthalter zu Splügen. Frau Christiane hatte den Wirt insgeheim nach einer Depesche befragt und sie erhalten. Als sie den Inhalt gelesen hatte, kehrte sie ruhig zu den Knaben zurück.

»Morgen fahren wir mit dem Postwagen die Straße zurück und gar bis Chur. In Chur nehmen wir die Eisenbahn bis zum Einfluß des Rheines in den Bodensee, und über den See, ihr Buben, sollt ihr im Dampfer, von Rorschach bis Stein am Rhein, ja bis zum Rheinfall von Schaffhausen fahren. Dann geht's mit dem Bähnlein heim über Waldshut und Säckingen, ganz heim. Zufrieden?«

Und die jubelnden Knaben spürten nicht den stillen Ernst, der um die Frauenaugen spann. –

Es war ein Sonntagabend, als Frau Christiane mit den Knaben den Zug verließ, um in die geräumige Kutsche des Gutshofes zu steigen. Sie hatten noch eine Stunde Fahrt über Land, und Frau Christiane gebot dem Knecht, der kühlen Nachtluft wegen den Landauer zu schließen. Drinnen im Wagen nahm sie die Knabenhände in die ihrigen.

»Jetzt erst fahren wir heim.«

»Soll ich die Nacht bei der Frau Pate bleiben?« fragte Christoph Attermann.

»Du sollst jetzt immer bei uns bleiben, Christoph.«

Der junge Attermann fuhr auf. Er hatte sofort begriffen.

»Der Vater ist tot?! Er ist tot?!«

»Es gibt keinen Tod, Christoph. Es gibt nur ein Erneuern. Dafür laß mich nun Sorge tragen.«

»Nein – nein – nein! Ich ertrag's nicht! Ich bin ein Bettelbub geworden.«

Frau Christiane ließ ihn weinen. Nach einer Weile erst begann sie ruhig zu sprechen.

»Ein Bettelbub, Christoph? Das sagt der Patenbub der Frau Christiane Opterberg und der Freund des jungen Martin? Du wirst es nie wieder sagen, Christoph, wenn du mir zugehört hast. Als deine Mutter starb, wie du soeben geboren warst, stand ich bei ihr und sah ihr in die Augen, wie wir uns oft in schweren Stunden in die Augen gesehen haben. Ich hatte den acht Wochen alten Martin an der Brust und nahm dich auf und legte dich hierher an die andere Brust. Da lachte die Sterbende ganz hell, und das war ihr Letztes. Und dich nahm ich mit ins Gutshaus, und an dieser Brust hat der Martin und an dieser hast du gelegen, und ihr beiden habt an mir getrunken ein volles Jahr lang.«

Beide Hände preßte sie unter die Brust und sah den Knaben mit leuchtenden Augen an.

»Ist das ein Bettelbub, den die Frau Christiane Opterberg aus diesem Quell hat trinken lassen, bis er groß war und stark und auf den Füßen laufen konnte? Ist das bißchen Brot, das ich dir heut anbiete, mehr wert als Muttermilch? Muß ich wirklich so feierlich werden mit meinem dummen großen Jungen?«

Da schrie der junge Christoph Attermann aus seiner Not heraus auf, daß es wie ein Helles Lachen klang aus vergangenen Tagen.

»Mutter!« rief er und fiel mit dem Kopf in ihren Schoß.

Der Wagen rumpelte in den Gutshof.

»Natürlich, Christoph. Die Frau Pate ist hin und vergangen. Und der Martin hat seinen Bruder. Helft eurer Mutter zur Erde, ihr Buben!«

*

 


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