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10

Martin Opterberg schritt durch alle Räume seines Hauses. Still war das Haus geworden, aber auch gesäubert vom Keller bis zum Söller. Nur noch der Schall seiner Schritte lief mit, nicht mehr das Gespensterhuschen auf Stiegen und Gängen.

Wie eine Wohltat wirkte die Befreiung auf die Seele, die nicht mehr aufzufahren brauchte und aufzuhorchen auf einen schleichenden Fuß, auf ein schleichendes Wort, und sie wirkte wie eine Säuberung des Körpers. Das war's, was Martin Opterberg immer wieder und immer stärker in tiefen Atemzügen empfand, seit an jenem Gerichtstag die Haustür ins Schloß gefallen war hinter dem flüchtenden Mann und wenig später als eine Stunde hinter der flüchtenden Frau: die Luft, diese Gottesluft des neuen, alles verjüngenden Frühlings.

Seit Jahren hatte er sie nicht mehr mit Bewußtsein getrunken. Als ob die Welt in Winterstarre gelegen hätte seit seinen Wanderjahren und alles Verlorene und Vergessene nachzuholen drängte im späten, staunenden Erwachen, so war ihm dieser Frühling, so staunte er selbst in ihn hinein und sog sich die Seele voll.

Kein Spinnweb aus grauen, raunenden Tagen kroch mehr in den Ecken, und selbst in den Mädchenkammern herrschte ein neuer und blitzblanker Geist, seitdem die Günstlinge der geflüchteten Frau abgelohnt worden waren und ein paar derbe Schwarzwaldmädchen Einzug gehalten hatten. Auf ein Ansuchen Martin Opterbergs waren die neuen Hausgenossinnen von Linde Baumgart sorgsam auf dem Opterberghof ausgemustert worden.

Ein Seltsames war: das Verschwinden der Hausfrau rief kaum einige Überraschung hervor. Lag es daran, daß das Landhaus der Opterbergs sich zu weit ab vom täglichen Verkehr befand, lag es an der schnellen Ernüchterung der einstigen Verehrer, die in der lockenden Mandel keinen Kern gefunden hatten, oder waren die Ereignisse so schnell und schweigend erfolgt, daß die Umwelt ohne Handhabe geblieben war, ob es sich nur um eine zeitliche Trennung oder um eine förmliche Scheidung handele.

Gegen den Sommer jedoch, als die Scheidungsklage vor Gericht ihre Erledigung gefunden hatte, sollte Martin Opterberg durch einen Besuch daran gemahnt werden, daß die Erinnerung an seine Ehe dem Gedächtnis einiger Leute doch noch nicht ganz entschwunden war. Auf das Trauerspiel folgte das Satyrspiel. Herr Professor Barthelmeß erschien und suchte eine dringende persönliche Unterredung nach.

»Mein Sohn,« sagte der Professor mit einem tiefen, schwingenden Schmerzenston und streckte beide Hände aus. »Ich habe den Weg zu dir gefunden.«

»Sie sind müde,« entgegnete Martin Opterberg. »Darum bitte ich Sie, Platz zu nehmen.«

Der Professor stutzte nur einen Augenblick. Er ließ sich nieder, setzte seinen Hut auf den Teppich und lehnte sich weit zurück. Seine Augen zwinkerten, als ob eine Träne hervorquellen wolle.

»Martin, es sind traurige Zeiten. Auch für dich. Denn ich kenne dein Gemüt, wie ich das deines seligen Vaters kannte.«

»Ich bitte um Verzeihung, Herr Professor. Wollen wir meinen Vater, wollen wir alle einstmaligen Familienbeziehungen aus dem Spiele lassen. Dient es zu Ihrer Beruhigung, so kann ich Ihnen sagen, daß mir die Zeiten sehr hell und freundlich erscheinen.«

Da merkte der Professor, daß der warme Ton der Empfindungssaiten hier nicht mehr am Platze wär', und der alte Glücksjäger ließ auf der Stelle von dem unerreichbaren Hochwild ab und wandte sich der Hasenjagd zu.

»Sie wollen es so. Ich wasche meine Hände in Unschuld. Schon einmal haben Sie mir den geschäftlichen Ton aufgedrängt, als es sich um die Bezahlung von Anschaffungen handelte, die meine Tochter lediglich zu Ihrem Vorteil in Verwendung genommen hat. Lediglich, jawohl, lediglich,« fügte er mit Betonung hinzu, als er auf dem ruhigen Gesicht seines Gegenübers ein verloren Lächeln erscheinen sah. »Und wie damals Ihr Gerechtigkeitsempfinden Sie nicht erst zu den ritterlichen Anschauungen zu bekehren brauchte, so bau' ich auch heute darauf und heute mehr denn je.«

»Sie wissen, daß ich von meiner Mutter her für Humor immer empfänglich bin. Fahren Sie fort.«

Der Professor starrte ihn an. Seine weltmännische Sicherheit geriet ins Wanken, und er mühte sich sichtlich um Fassung.

»Für Humor? Habe ich recht verstanden? Hier sitzt ein tieferschütterter Vater, und Sie gewinnen der Stunde die heitere Seite ab? Oh, jetzt verstehe ich manches.«

»Wenn Sie manches verstehen, Herr Professor,« sagte Martin Opterberg mit einigem Nachdruck, »so werden Sie auch schnell das eine verstehen: daß es vorteilhafter für Sie ist, ich gewinne der Stunde die heitere Seite ab als die ernste. Der auf Rettung eines schwankenden Buchpostens bedachte Handelsmann hat für mich immer noch einen Anreiz. Der tieferschütterte Vater ist eine Posse. Wie wünschen Sie nun, daß ich die Stunde auffasse?«

»Sie sind also erbötig, meiner Tochter eine ausreichende Jahressumme auszusetzen?« nahm der Professor hastig das Wort auf. »Ich wußte es ja, daß man sich unter Ehrenmännern schnell verständigen würde.«

»Was die anwesenden Ehrenmänner anbetrifft, so muß ich Ihnen leider eine Enttäuschung bereiten. Ich rechne mich nicht zu ihnen. Und was die Ausstattung und Unterhaltung verwahrloster Frauen anbetrifft, so geht mein guter Geschmack andere Wege.«

»Dürfte ich – dürfte ich diese anderen Wege erfahren?«

»Die Gerichtsentscheidung liegt Ihnen ja vor. Sie deckt sich vollkommen mit meinem guten Geschmack.«

»Und Sie – Sie stimmen dieser Entäußerung von allen Mitteln, dieser Vogelfreierklärung zu? Ohne Furcht, daß die zur Verzweiflung getriebene Frau den Namen Opterberg, auf den Sie doch so stolz zu sein scheinen, wie ein schmutzig Bettlerkleid durch die Gassen schleift?«

»Lassen wir diesen Überschwang. Es liegt kein Anlaß vor. Vogelfrei hat sich Ihre Tochter selbst erklärt, in allerfreiester Willensäußerung. Und auf Aberkennung des Namens Opterberg habe ich bereits Antrag gestellt, dem das Gericht wohl schon in Kürze stattgeben wird.«

Der Professor fuhr mit rollenden Augen auf. Er sah das erzene Gesicht Martin Opterbergs, und er sah, daß er das Treffen verloren hatte. Da ließ er sich mit einem Seufzer wieder in den Sessel fallen.

»Tragen Sie sich noch mit einem anderen Wunsch?« fragte Martin Opterberg mit Freundlichkeit.

Der Professor schwieg eine Weile.

»Mit einem Wunsch?« wiederholte er endlich lässig und obenhin. »Da Sie sich ganz und gar auf den Boden des reinen Geschäftsverkehrs stellen, so wüßte ich nicht, weshalb ich die mir rechtlich zustehenden Forderungen in die Höflichkeitsform von Wünschen kleiden sollte.«

»Darin kann ich Ihnen nur Recht geben. Sie sehen mich auf solche Forderungen gespannt.«

»Ich verlange nach dem Gesetz das Heiratsgut, das meine Tochter mit in die Ehe gebracht hat.«

»Es steht zu Ihrer Verfügung. Ich habe, was sich an Kleidern und Wäschestücken vorgefunden hat, zusammenpacken und verschließen lassen. Sämtliche Schmuckgegenstände hat Ihre Tochter schon mit sich genommen, als sie das Haus verließ. Es mag so bleiben.«

»Nein,« sagte der Professor, »auf diese Weise ist die Unterhaltung doch wohl nicht zu führen: ein Bündel Kleider, eine Handvoll Schmuck. Sie scheinen sich nicht darüber klar zu sein, daß Sie sich hier in einer fremden Zimmereinrichtung befinden und daß Sie Ihre Gönnerworte aus einem Sessel heraus an mich richten, der meiner Tochter gehört und den ich Ihnen unter dem Sitz wegziehen könnte.«

Da lachte Martin Opterberg zum ersten Male wieder aus vollem Herzen.

»Die Möbel wollen Sie mir wegholen? Das Haus wollen Sie mir ausräumen? Wer hat Sie denn auf diesen verrückten Gedanken gebracht?«

»Mein Herr,« ersuchte der Professor scharf, »ich bitte, sich zu mäßigen. Sie vermögen mich aus dem Hause zu weisen, das das Ihre ist, aber Sie vermögen nicht, mich aus diesem Sessel aufstehen zu heißen, der, wie die gesamte Hauseinrichtung, Eigentum meiner Tochter ist.«

»Eigentum Ihrer Tochter? Ja, träumen Sie denn? Es widerstrebt mir, darauf hinweisen zu müssen, daß Ihre Tochter nichts in die Ehe einbrachte, als was sie auf dem Leibe trug. Es ist Ihnen wohl noch erinnerlich, daß ich Ihnen vor der Hochzeit eine Summe einhändigte, um die Einrichtung zu beschaffen, da Ihre Tochter über keine Aussteuer verfügte.«

»Ganz recht. Vor der Hochzeit. Es war eine Schenkung in optima forma und hat nicht das geringste mit Ihrer späteren gemeinsamen Ehe zu tun. Aha, nun wird Ihnen die Sachlage klar.«

Martin Opterberg hatte sich erhoben. In ihm stritt der wiedergefundene Humor mit einer peinigenden Unlust, dergestaltete Unterhandlungen zu führen. Er sah sich einem Menschen gegenüber, der sich höchstens durch die würdevolle Haltung und den Professorentitel von einem abgefeimten Gauner unterschied. Wie konnte ein anständiger Mensch einem solchen Gelichter beikommen?

»Und wenn ich eine durchaus andere Ansicht von der Sachlage hätte, Herr Professor?«

»So müßte ich es,« entgegnete der Professor weich, »zu meiner größten Bekümmernis auf einen Prozeß ankommen lassen und Ihnen zum Vergnügen der immer schadenfrohen Welt die Benutzung der Möbeleinrichtung bis zur Urteilserklärung gerichtlich untersagen lassen.«

»Nicht anders hatte ich es mir gedacht,« sagte Martin Opterberg. »Sie werden es verstehen, daß ich mich aus Gründen der Erziehung mit der ins einzelne gehenden Abwickelung nicht befassen kann. Ich werde eine Vertrauensperson damit beauftragen.«

»Leider ist meine Zeit nur knapp bemessen, Herr Opterberg. Ich opfere kostbare Arbeitstage für eine Angelegenheit, deren Erledigung rechtgemäß längst Ihre Sache hätte sein müssen, und weiß nicht, ob ich den Verlust wieder hereinbringe.«

Martin Opterberg hörte kaum hin. »Also sagen wir: auf übermorgen, Herr Professor, da Sie den Möbelwagen in Ihrer Handtasche doch wohl nicht mitgebracht haben.«

»Wo wohne ich?« fragte der Professor unbefangen und blickte sich um.

»Wenn Sie keine allzugroßen Ansprüche stellen: im Gasthaus am Bahnhof. Auf Wiedersehen.«

Er verbeugte sich in kühler Höflichkeit, und der Professor erhob sich kopfschüttelnd, nahm seinen Hut und empfahl sich zögernd. Martin Opterberg aber drahtete unverzüglich an seine Mutter und bat sie, zur Abwickelung vermögensrechtlicher Dinge am nächsten Tage schon zu ihm zu reisen.

Pünktlich auf die Minute traf Frau Christiane am Abend ein. Bis zur vorletzten Haltestelle hatte sie den Basler Schnellzug benutzt.

»Du schaust frisch aus wie ein Fisch im Wasser, Bub,« sagte sie, als sie am Bahnhof einen schnellen Blick über den Sohn hatte hingleiten lassen. »Es war eine wunderliebe Fahrt durch all das schöne Sommerland am Rhein. Und das Lindele läßt dich schön grüßen.«

»Dank dir, Mutter. Für dein Kommen und für den Gruß.«

Frau Christiane fragte nicht. Erst als sie sich in ihrem Gastzimmer erfrischt, die Schwarzwaldmädchen begrüßt und mit ihrem Sohn das Abendbrot eingenommen hatte, sagte sie, in ihren Sessel gelehnt, vergnügt und unvermittelt: »Vermögensrechtliche Dinge. Und noch Abwickelung dazu. Ein hübsches Abschlußgeschäft für die Barthelmeßleute.«

»Du hast es also bereits erraten, Mutter.«

»Dazu gehört nichts als das Einmaleins, Martin. Das heißt: wenn wir fünf gerade sein lassen. Anders ist ein alter Gauner niemals auszuschalten.«

»Du denkst wie ich, Mutter. Es handelt sich, wie du es dir schon gedacht hast, um die Einrichtung meines Hauses, die ich zwar von meinem Gelde bezahlt habe, die aber von der Gegenseite als eine Schenkung vor der Ehe betrachtet wird. Der alte Barthelmeß brauchte mir nicht erst mit einem Prozesse zu drohen. Es hängen mir zuviel Erinnerungen an den Möbeln, die nur für die Gegenseite Wert haben. Nur was ich mir selber beschafft habe, hier und im Ausland, mein Arbeitszimmer und was vom Opterberghof und aus der Kindheit stammt, das möcht' ich nicht gern von dem alten Barthelmeß verhökert wissen.«

»Darum rief der Bub nach der Mutter.«

»Ja, darum. Weil mir derartige reinliche Scheidungen nicht zu liegen scheinen.«

»Und da dachtest du: das besorgt die Mutter mit Scheuertuch und Besen im Handumdrehen.«

»So dachte ich, Mutter.«

»Ach, Martinle,« meinte Frau Christiane und lachte in sich hinein, »ich hab' den Glauben an deine Unverwüstlichkeit nie aufgegeben. Nun holt sich der Rhein wieder Wasser aus der Quelle. 's ist recht so.«

Martin Opterberg saß in seinem Stuhl und umfing mit liebevollem Blick das fröhliche Mutterbild. – –

Mit der Sicherheit eines Gläubigers betrat Professor Barthelmeß schon in der achten Morgenstunde das Haus. Das Mädchen wies ihn ins Arbeitszimmer. »Zur Stelle,« sagte er in dem Glauben, Martin Opterberg vorzufinden. »Schönen guten Morgen,« klang es ihm als Antwort entgegen!

Verdutzt suchte der Professor nach seinem Augenglas. Er hatte die Stimme einer Dame vernommen und beeilte sich, sich vorzustellen. »Professor Barthelmeß. Entschuldigung, ich bin hier wohl am falschen Platz?«

»Da könnten Sie ausnahmsweis' Recht haben, Herr Professor,« erwiderte Frau Christiane und erhob sich aus ihrer abgedunkelten Diwanecke. »Aber da Sie den falschen Platz nun schon einmal eingenommen haben, wollen wir das gegenseitige Vergnügen auf die allerkürzeste Dauer beschränken. Ich bin die Frau Christiane Opterberg.«

»Die Frau – Christiane – Opterberg?« wiederholte der Professor betroffen.

Frau Christiane nickte ihm zu. »Die einzige meines Namens.«

»Unverändert,« brachte der Professor hervor, »unverändert ...«

»Aus so berufenem Mund freut's mich ganz besonders,« sagte Frau Christiane strahlend, »wenn ich auch wohl einiges Ihrer Kurzsichtigkeit zuschreiben muß. Aber was ist denn mit Ihnen? Sie sind ja ein ganz graues Mannle geworden und wackeln schon bedenklich. Wohl über die Siebzig, Herr Professor?«

»Oh – oh –« wies Professor Barthelmeß entrüstet zurück, »noch nicht die Mitte der Sechzig erreicht, meine gnädige Frau.«

»Dann ist es aber schlimm. Dann ist's aber an der Zeit, daß Sie auf die Erhaltung Ihrer Kräfte bedacht bleiben. Geht's denn mit dem Gedächtnis noch alleweil?«

»Ich wünsche mit Herrn Opterberg die vermögensrechtlichen Fragen zu regeln,« sagte der Professor, und seine Stimme zitterte vor Ärger.

»Ich weiß. Oh ich weiß alles bis ins kleinste. Mein Sohn hat mich als seine Vertreterin bevollmächtigt. Wenn Sie also meinen, Sie schafften's, von mir aus können wir auf der Stell' beginnen.«

Professor Barthelmeß sah sie hochmütig über den Kneiferrand an.

»Es gibt hier nicht viel zu schaffen, meine verehrte Frau. Die gesamte Einrichtung ist Eigentum meiner Tochter. Ich habe alles persönlich gekauft.«

»Ihr Gedächtnis, Ihr Gedächtnis,« warnte Frau Christiane mit leisem Kopfschütteln, »In Amerika waren Sie nicht zum Einkauf. Und doch stammt dieses Arbeitszimmer aus Amerika.«

Der Professor besichtigte hastig den Raum. »In der Tat – in der Tat –« murmelte er.

»Setzen wir unseren Rundgang fort, wenn's Ihnen nicht zu beschwerlich fällt. Hier, das Gesellschaftszimmer, trägt unverkennbar die Persönlichkeitsmarke Ihrer Frau Tochter. Dasselbe ist von dem Empfangsraum festzustellen, und zwar ohne Augenglas. Wir kommen zum Speisezimmer, Herr Professor.«

»Die künstlerische Schönheit dieser hohen gotischen Anrichte spricht wohl allein für ihre Herkunft, und der Stollenschrank nicht minder,« meinte der Professor lässig. »Gehen wir weiter.«

»Ihre Augen, Ihre Augen,« klagte Frau Christiane. »Sie werden frühzeitig erblinden, wenn Sie dem Übel nicht nachdrücklich zu Leibe rücken. Ich seh' hier nämlich außer der gotischen Anricht' und dem Stollenschrank noch den gewaltigen Eichentisch, das Dutzend Eichenstühl' und so viel liebes andere. Und es ist nicht nur ein Sehen, es ist ein Wiedersehen, denn es stand bis vor wenig Jahr' auf dem Opterberghof und war mir zu viel, seit mein Mann und die Buben fehlten.«

»Es liegt mir nicht das geringste an diesem heiligen Urväterhausrat, verehrte Frau.«

Frau Christiane nickte ihm freundlich zu. »Können's noch die Treppen hinauf? Oder wird's den Beinen doch zu viel? Hier drunten ist nur noch die Küch', und so eine Nebensächlichkeit hatten Sie vergessen einzukaufen, und droben befinden sich die Schlafgemächer.«

»Stück für Stück von droben habe ich persönlich zusammengetragen, aus dem Hessischen und dem Bayrischen. Darüber gibt's auch nicht das geringste Verhandeln.«

»Ihr Gedächtnis, Ihr Gedächtnis. Es befinden sich vier Schlafzimmer droben. Drei, wie Sie's zu nennen belieben, gefüllt mit heiligem Urväterhausrat. Das vierte ist unheilig.« Sie reckte langsam ihre Gestalt, und aus ihren Augen sprühte die Verachtung. »Je schneller Sie's ausräumen lassen, um so besser für uns alle.«

Der Professor hustete in den vorgehaltenen Hut. Der Kneifer fiel ihm ab, und er mußte ihn mit dem seidenen Schnupftuch umständlich säubern. »Halten wir uns nicht auf, verehrte Frau. Ein paar Siegel an die Sachen, und wir sind aller Mißverständnisse enthoben.«

»Wozu wollen denn der Herr Professor den teueren Siegellack opfern? Die Schränk' und Truhen sind doch alle leer.«

»Leer – –?«

»Aber gewiß, Herr Professor. Ich hab' mit den Mädchen in der Frühe wacker schaffen müssen, um all das alte Familiensilber und die Berge Kristall und Porzellan unversehrt herauszubringen und gut wieder wegzuschließen. Auch den Opterbergschen Leinenschatz. Ein Gedächtnisfehler vermag jetzt nimmer aufzukommen, und für die Gotik und Renaissance und die geschnitzten Heiligen und die betrübten Engel dürft' ein mäßiger Möbelwagen vollauf genügen.«

Der Professor wischte sich mit dem seidenen Tuch die Stirn. Er zitterte vor Erregung, Ein Wort murmelte er zwischen den Lippen, das keine Liebkosung war, aber Frau Christiane achtete es nicht.

»So setzen Sie sich doch. Sie sind wirklich sehr, sehr schonungsbedürftig. Aber ein Mann von Ihren Jahren, der all sein Leben lang gottesfürchtig die lieben Heiligen gestickt und die Kirchen und Kapellen schön ausgebessert hat, sollt' doch etwas mehr an die himmlische Glückseligkeit denken als an den irdischen Schabernack.«

Da setzte sich der Professor, und sein seidenes Tüchlein fuhr über Stirn und Schädel.

»Es wird nun alles besorgt. Sie dürfen getrost heimfahren,« sagte Frau Christiane.

»Gut,« murmelte der Professor, »gut, ausgezeichnet,« und er zerrte an seiner Brusttasche. »So haben Sie wohl die Güte, diese Ausgaben zu begleichen, die ich als Bevollmächtigter der Parteien gemacht habe. Fahrt, Gasthof und drei kostbare Arbeitstage zu je hundert Mark.«

»Das trifft sich ausgezeichnet,« lobte Frau Christiane und nahm das Papier entgegen. »Da kann ich, die ich ebenfalls als Bevollmächtigte der Parteien zu gelten hab', auf der Rückseite des Zettels gleich meine Gegenrechnung aufmachen. Leider war meine Reis' viel kostspieliger als die Ihre, und da ich daheim so gut wie für zwei schaff', muß ich gerechterweis' auch zwei Arbeitskräfte in Rechnung stellen. Sehen Sie, da hab' ich's schon. Sie bekommen von der einen Partei rund fünfhundert Mark, ich hab' von der Gegenpartei zu bekommen – fünfhundertzehn. Na, wegen der zehn Mark wollen wir kein groß Aufheben machen. Ich streich' sie, und die Sache ist glatt.«

Offenen Mundes hatte sich der Professor erhoben. Frau Christiane strahlte ihn aus ihren kristallklaren Augen an. Und plötzlich tat der Professor ein paar weitausholende Schritte, erreichte die Haustür und warf sie schmetternd hinter sich ins Schloß.

Da wurde das Strahlen in Frau Christianes Augen noch größer als zuvor. Und sie schritt von Zimmer zu Zimmer und öffnete weit die Fenster. Und noch viel größer wurde das Strahlen, als gegen die Mittagszeit ein Bote aus dem Gasthof erschien und die Bestellung ausrichtete: der Herr Professor sei heimgefahren und habe hinterlassen, die Gasthausrechnung werde von Herrn Doktor Opterberg beglichen. Sie bezahlte ohne weiteres und gab dem Boten ein großes Trinkgeld dazu.

»Das Haus ist rein,« berichtete sie dem heimkehrenden Sohne. »Ich hab's an Scheuertuch und Besen nicht fehlen lassen und brauch' nur Zeit, um den Hausrat umzugruppieren.«

Dazu brauchte Frau Christiane wirklich Zeit, viel mehr, als die Arbeit auf den ersten Blick zu beanspruchen schien.

Zu ihrem Sohne sprach sie: »Es macht mir nichts und kommt mir sogar gelegen, denn ich hab' schon immer die Prob' auf das Exempel machen mögen, was die Linde wohl bei mir gelernt hat, und ob sie imstand ist, die Wirtschaft daheim mal eine Strecke allein zu führen. Das kann sie jetzt zeigen.« Und an die Linde schrieb sie nach Haus: »Mädel, den Martin verlangt's nach der Treibhausschwüle, in der er gesteckt hat, mit Macht in die frische Luft, und drum muß ich bleiben und sie ihm zuführen, bis seine Seele ganz und gar davon durchgespült ist und er wieder allein atmen kann. Wenn der Mensch über ein widerwärtig Schicksal gesiegt hat, darf man ihn nicht zum Grübeln gelangen lassen, sonst kommt leicht der Rückschlag und er fragt sich: warum und wozu? Ich mein' aber nunmehr, der Martin hätt' der Rückschläg' allweil genug gehabt und bedürfte der Freud' in der Zukunft. Denn er ist jung und stark und ein hoher Flieger und soll mir nicht rosten. Drum hab' ich ihm erzählt, das Lindele sollt' daheim einmal allein sein Meisterstück machen und ich tät' mich inzwischen bei ihm ein paar Monde aufs Altenteil setzen. Ob mich mein groß Mädel versteht? Ich glaub's für sicher.«

Der heilige Urväterhausrat war längst umgeordnet, der unheilige nach dem Rheingau abgerollt. Frau Christiane hatte Verpackung und Versendung in Gegenwart eines Notars vollziehen lassen und das unterstempelte Schriftstück an den Herrn Professor Barthelmeß »eingeschrieben« gesandt. Wo sich allzugroße Lücken in der Wohnung erwiesen, wurden sie durch Neuanschaffungen bald ausgefüllt, Fensterbänke, Tische und Truhen aber immerdar unter einer Fülle von Blumen gehalten.

»Seit du da bist,« sagte Martin Opterberg, »ist's mir erst, als ob ich verheiratet wäre.«

Sie saßen des Abends lange beieinander, und Frau Christiane kannte kein Gespräch, das sie nicht durch eine immer neue Wendung auf des Sohnes Arbeitspläne hinüberleitete. Und den Sohn erfreute und erfrischte das Verständnis der Mutter, die das Werk um des Werkes willen sah und nicht um des hastenden Geldverdienens willen.

»Es geht nicht um das Geld, Bub, was der eine mehr oder weniger hat, es geht um die Freud'! Reichtümer an Freud' schaffen, das wär' die rechte Losung für die Welt. Ohne die Menschenfreud' wär' die Aufbürdung unseres Daseins rundheraus eine Gemeinheit, und der liebe Gott macht so was nicht.«

»Der liebe Gott gewiß nicht, aber die Menschen.«

»Weil sie trotz aller Religionsbestrebungen keinen Deut vom Herrgott wissen! Weil ihnen von frühauf in jeglicher Tonart gepredigt wird, die Erde sei ein Jammertal und der Mensch nur da, um die Erbsünd' bis vor das Himmelstor zu schleppen und dort zitternd auf Erlösung zu harren und auf das ersehnte Gaudi im Himmel. Ich sag's dir aber als gewiß, Bub: wer den Herrgott nicht in einem Teil seiner Schöpfung, in seiner Erdenwelt, erkennt, der erkennt ihn auch nicht im Ganzen, und wer ein so großer Jämmerling ist, daß er's hier auf Erden zu keinem Juchzer bringt, der soll sein gebührlich das Maul halten von seinen dereinstigen Jubelgesängen im Himmel. Denn der Kapellmeister da droben ist auch musikalisch.«

»Mutter, da muß ich mich aber hinter die Noten knien.«

»Ach, Martinle, spiel dich nicht mit deiner kleinen Verkühlung auf. Du hast von Vater und Mutter her einen gewaltigen Brustkorb. Da räuspert man sich höchstens ein wenig und hustet es weg. Das hast du schon pünktlich besorgt, und die Freud' am Vorwärtsschaffen leuchtet dir vom Gesicht. Das aber, Bub, ist die allergrößte Freud', weil sie uns das Bewußtsein gibt, auch jemand zu sein, der die Welt und die Menschheit vorwärts bringt.«

»Mutter, ich stell' dich auf dem Werftplatz als Sonntagsprediger an.«

»Schon gefehlt! Als Werkeltagsprediger! Alle Werkeltag' muß die Freud' geübt werden, damit sie am Sonntag wie ein rechter Kirchenchor klingt. Nur so erlöst sich der Mensch von sich selber.«

»Mutter, wir wollen ein Glas Wein trinken. Wenn man dir zuhört, möcht' man anklingen auf's Leben.«

Dann ging Frau Christiane, mit einem heimlichen Lächeln und holte selbst den Trunk. –

Ein immer hellerer Schein stand in Martin Opterbergs Augen, wenn er über den Werftplatz schritt und seinen Arbeitern zunickte. Und als ein neuer Schiffsrumpf auf Stapel lag, versammelte er alle die Mitarbeiter am Werk in einer Halle und sprach zu ihnen, wie man zu treuen Kameraden spricht.

»Männer, ich brauche kein Hehl daraus zu machen, daß ein schwerer Sturm durch meine Seele gegangen ist. Aber ihr habt mir die Freude wiedergebracht, dadurch, daß ihr mein Werk gefördert habt als das Wertvollste im Mannesleben. Es kann kein Baum eichenstark wachsen, der nicht vom Wetter gerüttelt worden ist, aber es kann auch keine Liebe keimen, die nicht ins Leid gesehen hat. Männer, die Werft ist jung, und die Zeiten sind ernst. Wir aber wollen zusammen alt werden und durch die Zeiten hindurch. Und beides mit Freuden, oder es ist umsonst gewesen. Deshalb soll hinfort ein jeder, den ein Leid drückt, es zu mir tragen, damit wir es gemeinsam verjagen. Kann aus wirtschaftlichen Gründen das Geld nicht gleich verteilt sein, so kann und so soll doch die Freude gleich verteilt sein unter uns Arbeitskameraden und die feste Lebenszuversicht: ›Mir kann nix geschehen. Ich gehör' zur Opterbergwerft!‹ Darauf leere ich mein Glas.«

Die Männer hatten sich nicht gerührt. Kein Beifall erscholl zum Schluß der Ansprache. Aber die Arbeiter kamen mit ihren Meistern und stießen mit ihm an, wie man unter Kameraden anstößt, und beim Festtrunk ging statt des Gesanges ein ernsthaft Reden um alle Tische. Und dann erschien am Sonntagmorgen eine Abordnung im Hause Martin Opterbergs und fragte, wie es gemeint sei.

Diese vertrauliche Annäherung freute ihn am meisten, und er besprach mit seinen Angestellten die Gründung eines Ausschusses, den sie aus ihrer Mitte frei zu wählen hätten und dem freimütig alles vorgetragen und vorgelegt werden sollte, was irgend einer aus der Arbeiterschaft auf dem Herzen habe und sich nur scheue, es mit dem Werftherrn von Mund zu Mund zu besprechen.

»Das Urteilsvermögen und die Ehrenhaftigkeit der Ausschußmänner bürgen mir dafür, daß sie mir selbst nur die gesichteten Fälle vortragen, die damit so gut wie erledigt sind. Und nun noch eins. Ich möchte, daß ihr den Werftplatz als eure Heimat und die Arbeit als ein Glück und eine Freude empfindet. Das kann nur sein, wenn ihr nicht nur maschinenmäßig eure Stunden herunterschafft, sondern auch über euer Tagewerk hinaus den Erfolg seht, ich meine den Erfolg, der euch selbst und eurer Lebenssteigerung zugute kommt. Daher bin ich willens, alle Werksangehörige mit einem gewissen Prozentsatz, den ich dem Ausschuß noch mitteilen werde, am Reingewinn zu beteiligen, ich und mein Teilhaber, der demnächst eintreten wird und als mein Pflegebruder in allen Dingen denkt wie ich. Dann zählen wir nicht mehr die Arbeits stunden sondern die Arbeits freuden

Die Abgeordneten sahen sich in die Augen. Es waren ältere Familienväter, die die Schwere des Lebens in reicherem Maß kennen gelernt hatten als seine Sonnenseiten. Und als sie sich eine Weile stumm in die Augen geblickt hatten, als ob sie wortlos Red' und Antwort tauschten, nickten sie mit schwerer Stirn ihrem Sprecher zu, der sich langsam erhob.

»Herr Doktor Opterberg,« sagte er, »Sie und wir, wir gehören politisch wohl den verschiedensten Parteien an. Aber das kann ich Ihnen sagen: das, was Sie uns da soeben aus freien Stücken und nur aus einem gerechtfühlenden Herzen heraus vorgeschlagen haben, das war so sozial gedacht, wie wirklich und wahrhaftig nur ein ganz vornehmer Mensch denken kann. Sie haben uns von Arbeitern zu Mitarbeitern gehoben, und das sollen Sie Gottverdammich nicht zu bereuen haben. Guten Morgen, Herr Doktor Opterberg.«

Eine kurze Zeit darauf meinte Frau Christiane im Laufe eines Gespräches: »Übrigens, daß ich's nicht vergess': die kleine Attermann läßt fragen, wann sie denn eigentlich getauft werden sollt'?«

»Die kleine Attermann?« wiederholte Martin Opterberg überrascht, »Ja, ist die denn nicht längst getauft?«

»Das mußt du als Pate doch besser wissen als ich. Meiner Ansicht nach befindet sich das arme Wurm noch im dicksten Heidentum und wird sich, dauert's noch weiter hinein in ihre Jungmädchenzeit, aus Schicklichkeitsgründen bald nicht mehr von dir über das Taufbecken heben lassen.«

»Ja, Mutter, wenn die Attermanns so unchristlich mit ihrem Mädel verfahren, kann das Kind doch nicht mich dafür beschimpfen.«

»Du, Martin, wenn du bis zum Sonnabend das taufmäßige Gefühl aufbringen könntest –?«

Am Sonnabendnachmittag fuhren sie hinüber. Der Pfarrer hatte zuerst eine Sonnabendtaufe ablehnen wollen, da dieser Tag der Vorbereitung für den Sonntagsgottesdienst vorbehalten sei. Aber Therese Baumgart hatte ihm zu wissen getan, der Storch frage ja die Ärzte auch nicht, ob ein Sonntagsgottesdienst vorliege, sondern erwarte, daß sie zu jeder Stunde bereit seien. Und was für den Arzt zutreffe, das treffe doch wohl auch für den Seelenarzt zu. Der Herr Pastor möge seine Sonntagspredigt schon im Lauf der langen Woche durchdenken statt am letzten Tag.

Vom Opterberghof war als Patin Linde Baumgart eingetroffen. Herzlich erfreut streckte Martin Opterberg dem Mädchen die Hand entgegen. Sie stand, fertig zur Feier angekleidet, und das weiße Gewand spannte sich über den jungen Mädchenbrüsten und schmiegte sich fest, um den schlanken Leib. »Nun sind Sie eine junge Dame geworden,« sagte Martin Opterberg, »und ich weiß nichts von der Zwischenzeit.«

»Leih dir die Jahre vom Theresel aus, Martin,« rief Frau Christiane, »ich mein' halt die Jahre, die ihr in Freiburg und auch wohl noch in Heidelberg miteinander verbracht habt, füg sie ein, und du hast das Lindele von heute.«

»Wollen wir's so halten, Fräulein Baumgart? Dann ist die Kluft überbrückt.«

»Wenn's halt anders nicht angeht?« lachte das muntere Mädchen. »Aber das Theresel kommt besser dabei weg.«

Seine Augen gingen über ihre Gestalt, sein Ohr horchte auf ihre Stimme. Die Mutter hatte Recht, und ihr Rat war gut.

Martin Opterberg hatte dem Täufling einen Besuch gemacht. Er saß an dem kleinen schneeweißen Bettchen, und Christoph und Therese Attermann saßen allein bei ihm.

»Wir haben noch eine Stunde bis zum Taufbeginn, Wollt ihr sie mir schenken?«

»Wir und die Stunde gehören dir, Martin.«

»Dann ist es gut.« Und er begann in klaren Bildern seine Arbeits- und Wirtschaftspläne zu zeichnen. »Ich werde viel in Holland und in den großen rheinischen Handelsplätzen bis Basel hinauf zu tun haben, wohl auch zuweilen in England und Skandinavien, um den durchgehenden Handelsverkehr zu gestalten. Darunter darf die Bauarbeit auf der Werft nicht leiden. Als ich die Werksarbeiter zu meinen Mitarbeitern machte, tat ich es gleichzeitig in eurem Namen. Denn ich nannte den Namen Christoph Attermann als den meines zukünftigen Teilhabers. Bist du bereit, Christoph, unter Anerkennung meiner Richtlinie mein Wort einzulösen?«

»Ich bin bereit, Martin.«

»Und du, Therese?«

»Soll auch ich Teilhaberin werden?« fragte sie und sah ihm still in die Augen.

»Du brauchst es nicht erst zu werden. Du bist es. Seit du auf unseren Wanderungen unsere Teilhaberin warst. Aber du müßtest dein ärztliches Tätigkeitsfeld verlegen und hast es dir gerade erst so tapfer geschaffen.«

»Ich verlegte es nach Sibirien, wenn es hieß', mit euch zusammenzubleiben. Wegen des Wiederaufbaus mach dir keine Sorgen. Mein Mut gibt nimmer nach.«

Da beugte sich Martin Opterberg über die Hand, die auf dem weißen Kinderbettchen lag, und führte sie andächtig an seine Lippen.

Sie aber hob mit der freien Hand sein Kinn empor und küßte ihn. Und das Kind lag zwischen ihnen und reckte nach ihnen die Ärmchen.

»Wie soll es heißen, Therese?«

»Linde soll es heißen. Einen lieberen Namen gibt es nicht.«

Die Männer gingen in Christoph Attermanns Arbeitsstube hinüber, und hier faßte Martin Opterberg den Pflegebruder an den Armen.

»Ich muß es dir noch sagen, Christoph, als meinem alten Bruder und meinem neuen Teilhaber, damit du in mir allzeit klarsiehst. Ohne die Mutter hätt' ich's nicht geschafft, und mir ist auch jetzt noch zuweilen, als ob ich's nicht hinunterwürgen könnt', wenn sie erst wieder heim ist. Nicht, die betrogene Liebe. Das war eine Verwirrung der Sinne und eine Überrumpelung des Bluts. Aber den Betrug am anständigen Menschen und das Gefühl, das mich des Nachts am Atmen behindert und mir den Schweiß der Schmach und der Scham auf die Stirne treibt, das Gefühl: da laufen ein paar Menschen auf der Erde herum, die einen Hohn auf deinen Mannesstolz bedeuten, wenn sie grinsend vor dir auftauchen.«

»Martin, es wird übergehen. Wie die Schmach und Scham in Verachtung übergehen wird.«

»Das ist sie heute schon. Das tat sie schon längst. Aber es läßt mich nicht und rüttelt und schüttelt mich noch immer. Und wenn du's nicht anders nennen willst als das beleidigte Herrenbewußtsein. Es ist und bleibt doch der Schmutz an meinen Kleidern.«

Da sagte Christoph Attermann in seiner ruhigen Art: »Ich helf' dir, Martin, mit allem, was in mir ist. Wir haben ja doch gemeinsam Blut, Martin.«

Bei der feierlichen Taufhandlung hielten Linde Baumgart und Martin Opterberg den Täufling. Wenn Linde Baumgart ihm das Kind in die Arme legte, spürte Martin Opterberg den Strom mütterlicher Zärtlichkeit, der aus dem Mädchenkörper zu ihm herüberquoll. »Der würde es ein Glück bedeuten, Mutter sein zu dürfen,« dachte er, und sie neigten zum Segen des Herrn miteinander die Häupter.

Was alles er mit seiner Nachbarin und Mitpatin bei Tisch geplaudert und besprochen hatte, das war ihm später kaum noch erinnerlich. Es mußte wohl vom Opterberghof gelautet haben, der ein reiches Erntejahr hinter sich hatte, oder von der Kinderzeit, oder von der Opterbergwerft, oder auch von den aufziehenden Wetterwolken in der Welt. Vielleicht gar von alledem zusammen. Eins aber blieb ihm in der Erinnerung: daß er neben einem urgesunden und reinen, lebensfrohen und willensstarken Menschenkinde geweilt habe, mit dem er während der Tafel auf Frau Thereses Geheiß Brüderschaft gemacht hatte.

»Fast ist sie mir noch lieber als das Theresel, weil ihre Fröhlichkeit nicht wartet, sondern so aus dem innersten Herzen herausbricht wie ein Gebot Gottes,« meinte Fran Christiane anderen Tags auf der Heimfahrt, als sie mit dem Sohne allein im Abteil saß. Martin Opterberg aber nahm ihren Kopf wie den eines Kindes, bettete ihn an seine Brust und klopfte ihr die Wange.

»Ja, ja, ja – ich weiß schon.«

Da war Frau Christiane zum ersten Male sichtbarlich empört, weil sie sich von ihrem Bub auf der ersten Dummheit hatte ertappen lassen. –

Martin Opterberg betrieb den Eintritt Christoph Attermanns und die Überführung des Attermannschen Haushaltes mit unermüdlichem Eifer.

Die Zeichen der Zeit wollten ihm nicht gefallen, und Mutter und Sohn führten kaum noch ein anderes Gespräch.

»Seit wir in Marokko so laut mit dem Säbel gerasselt und uns so leise empfohlen haben, beginnt die Welt das Lied von unserer Unüberwindlichkeit für einen schönen Eigengesang zu halten,« äußerte Martin Opterberg ernst. »Und wer im Auslande gelebt und dort aufmerksam in die deutschen und in die fremden Volks- und Gesellschaftskreise hineingehorcht hat, muß mit Bedauern feststellen, daß wir uns trotz unserer Begabung, unseres Fleißes und unseres Reichtums immer noch nach Form und Ton wie emporgekommene Kleinkrämer benehmen. Es gibt auch eine Weltkinderstube. Aber wir haben die eigene nicht einmal gründlich durchgemacht.«

»Glaubst du an einen Krieg, Martin?«

»So sicher, wie ich im Menschen an Neid und Habgier glaube.«

»Und du stimmst ihm zu?«

»Kein vernünftiger Mensch stimmt einem Kriege zu, der zu vermeiden ist. Ist er aber nicht zu vermeiden und geht es um unseres Volkes Sein oder Nichtsein, so muß er mit allem, was in deutschen Herzen, Hirnen und Fäusten steckt, geschlagen werden, und ein Verbrecher am Volkstum wäre, wer den Augenblick verzögerte und uns die Sturmflut über den Kopf kommen ließe. Denn sie werden nicht fein säuberlich umgehen mit dem Knaben Absalom.«

»Der Absalom war nicht der bravste Knabe, Martin, und arg üppig geworden.«

»Unter uns gesagt, Mutter: das trifft auch auf uns zu. Auf ganze Volksklassen, Christen und Juden. Es ist uns mehr als ein Menschenalter zu leicht geworden und zu gut ergangen, und so hat der Geist des Materialismus bei uns Einzug halten können, der dem reindeutschen Wesen innerlich fremd war. Wir Deutschen brauchen den Druck, um unsere Muskeln hart zu halten, die Gefahren, um sie immer wieder zu überwinden, die Arbeit, um den Genuß am Festefeiern nicht zu verlieren. Nicht das öde Geldmachen um jeden Preis und die blöde Schlemmerei, die bei allen Völkern und zu allen Zeiten zur Geilheit im Leben und in der Kunst führt. Geilheit ist Aufsaugung der gesunden Säfte, Mutter, das weißt du aus Garten und Feld am besten, und ich weiß es von den Menschenklassen, die die tonangebenden heißen, weil sie den falschen Ton angeben. Die Vergeilung wuchert wie Schierling durch das Land, und wenn uns der Krieg von dieser Pest befreit und uns wieder zur Gesundung des Volkskörpers führt, so ist er selbst mit Blut nicht zu teuer bezahlt.«

Frau Christiane grübelte den Worten nach.

»Ein glücklicher Krieg, Martin. Ein unglücklicher würde das Unkraut über die Halme wuchern lassen.«

»Mutter,« sagte Martin Opterberg, »da sei Gott und die deutsche Urkraft vor, daß es ein unglücklicher wird. Träfe es aber zu, was du für diesen Fall aussprichst, so wäre es ein Beweis, daß wir trotz aller unserer Errungenschaften die vornehmste noch nicht gefunden hätten, die allein die Achtung der Welt herausfordert. Ich meine die Würde eines großen Volkes, die sich gerade in Leid und Unglück als wurzelecht erweisen muß. Das Familienbewußtsein des ganzen deutschen Volles mein' ich, Mutter.« – –

Die Schwalben waren fort vom Niederrhein, und auch Frau Christiane rüstete zum Heimflug. Denn ein paarmal schon hatte Martin Opterberg die Mutter gefragt, ob denn die Kraft des Lindele allein der Fülle der Herbstarbeit gewachsen wäre und ob sie nicht Schaden leiden würde. Da wußte Frau Christiane die Gedanken des Sohnes im rechten Gleis, und sie hütete sich, eine zweite Dummheit zu begehen.

In der ersten Oktoberwoche reiste sie heim. Attermanns waren eingetroffen.

Das erste war, als sie ihr Nest eingerichtet hatten, daß der Frau Doktor ärztliches Schild an der Türe angeschlagen wurde.

Darauf hatte Martin Opterberg gewartet. Er läutete die Arztglocke und trat ins Sprechzimmer.

»Du bist's?« fragte Frau Therese und trat ihm mit ausgestreckten Händen entgegen. »Ich hoff', du bist gesund?«

»Therese,« sagte Martin Opterberg, »ich hab' dir die Gebühr für die erste ärztliche Behandlung in Freiburg noch nicht entrichtet und bin dir schmählich mit dem Wickelverband durchgegangen. Meine Werksleute wollen aber eine solche Unanständigkeit nicht leiden und haben gefordert, dich als Werksärztin zu sehen, für sich und ihre Familien. Ich entgeh' dir also nicht, weder mit der Gebühr, noch mit Herz und Gliedern.«

Therese Attermann hob das Haupt. Das Sonnenkrönlein funkelte in ihrem Haar, wie es in dem Braunhaar der Therese Baumgart gefunkelt hatte.

»Gut,« sagte sie. »Ich fühle dir von Zeit zu Zeit den Puls. Du stehst nun unter meiner Botmäßigkeit.«

Und dann fiel sie ihm in mädchenhafter Freude um den Hals.

*

 


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