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Schon trugen die Buben vom Opterberghof die Primanermützen auf den blonden Häuptern, schon zeigte sich schüchtern der erste Flaum über der Oberlippe und verlieh den Knabengesichtern den Ausdruck der ersten Jungmännlichkeit. Hoch und aufrecht schritten sie beide einher, der junge Opterberg schlank und nervig, der junge Attermann breitschultrig und muskelhart, beide mit den wetterbraunen Gesichtern, die Sonne, Wind und Regen auf den täglichen Märschen zur nächsten Eisenbahnhaltestelle und den ausgedehnten Knabenstreifen in Wald und Feld so kräftig gebeizt hatten. Nicht nur Frau Christiane, auch Arnold Opterberg sah ihnen oft prüfend nach, und es erschien ihm an der Zeit, die väterliche Erziehung etwas stärker in den Vordergrund treten zu lassen. Längst waren die beiden Buben gewöhnt, jedes Pferd auf der Weide zu reiten und fest auf dem Kutschbock die Zügel zu führen, auch kannten sie seit frühester Kinderzeit jede ruhigere Stelle im Strombett, die sich zum Schwimmen und Tauchen eignete, und ein jedes Strudelbecken, in dem sich der Salmenfang lohnte. Jetzt aber nahm Arnold Opterberg sie wohlbewaffnet mit auf die Pirsch in die Hänge des Hochwaldes und lehrte sie, mit weidgerechter Kugel den Bock auf die Decke legen, den balzenden Auerhahn anspringen und den im Liebesrausch blinden und tauben vom hohen Tannenast herunterholen, im Schnee der Saufährte folgen und den Keiler im Lager überraschen. Das stärkte Mut und Gewandtheit, gab dem Auge die Sicherheit und der Hand die Ruhe und zwang die raschen Gemüter, sich zu beherrschen, bevor die Kugel unwiderruflich den Lauf verließ. Diese Jägererkenntnis der jungen Jahre sollte ihnen oft noch im Mannesleben zum Leitstern werden.
Daß Herr Arnold Opterberg zuweilen über die Grenzen der jagdlichen Erziehung hinausgriff und in einsamer Jagdhütte seine Begleiter in die Geheimnisse der Grogbereitung einweihte, auch wohl mit ihnen beim Abstieg in einem Schwarzwalddorf den einen oder anderen Liter Markgräfler Weines ausstach und sie zur Verschönerung der Stunde eine Pfeife Tabak blaffen ließ, war Frau Christiane durchaus nicht verborgen, wie die stolzen Jungmänner annahmen, denn das nächstemal fanden sie in ihrer Feldflasche statt des kalten Milchtees einen wärmenden Rotwein vor, so daß sie beim ersten Schluck vor Schrecken fast dem Stickhusten erlegen wären, und ein anderes Mal im Rucksack ein halbes Dutzend zusammengebündelter Schweizer Stumpen mit einem Zettel von Frau Christianes Hand: »Solange ihr sie im Freien raucht, schadet's keinem Menschen.« Nur als Arnold Opterberg die Gemeinsamkeit der Trink- und Rauchersitten auch ins Hans verpflanzen wollte, strich sie ihm begütigend über den Ärmel: »Nimm ihnen nicht die Freud' am Studentenleben vorweg, Arnold. Das erste Räuschlein muß in der Begeisterung der Jugend errungen sein, wenn's eine schöne und tragfähige Erinnerung werden soll.«
»Tragfähig? Wie verstehst du das?«
»Daß man sich später nicht scheut, darüber hinzulaufen.«
Arnold Opterberg lachte. »Hast Recht, Frau. Ich werd' mir den Professor rufen. Dem hält's nicht ganz so scharf mit den Erinnerungen.«
Der Professor kam auch ungerufen. Seine Arbeit, die vertraglich auf zwei Jahre bemessen war, hatte er nun schon in das dritte Jahr hinüberzuziehen gewußt und manchmal auch durch Übernahme kleinerer Reiseaufträge unterbrochen. Die Kirchenherren sahen sauer drein. Das änderte an der überlegenen Miene des Professors nicht das geringste. Er war sich bewußt, daß die Herren das Erneuerungswerk nicht mitten in der Ausführung stecken lassen konnten und daß der bisher entnommene Vorschuß beträchtlich genug sei, um den Meister vor jäher Kündigung des Vertrags zu schützen. So ging er gar lieblich und gelassen mit den flügellahmen Heiligen und dem bröckelnden Zierwerk an Wänden und Altären um und durfte sich mit Fug darauf berufen, daß seine Arbeit, wenn auch langsam geschafft, so doch von vollendeter Meisterschaft und unübertrefflicher Stilreinheit sei. »Wünschen Sie eine eilige Zuckerbäckerarbeit,« pflegte er den Drängern zu sagen, »so empfehle ich Ihnen meinen Kollegen Dingsda. Ein Kunstwert, das den höchsten Ansprüchen des Kenners genügt, will aus dem Samenkorn hervorwachsen wie eine edelblühende Pflanze.« Und die Herren, die den Kenner spielten, nickten Beifall.
Professor Barthelmeß setzte die Feierabendstunde um ein bedeutendes früher an, als es auf dem Opterberghof der Brauch war, und da der Arbeitstag ihm ohnedies nicht die genügende Zeit ließ, sich seiner Familie zu widmen, so holte er in den reichlichen Mußestunden das Versäumnis vollauf nach und erschien nie anders als in Begleitung seiner Gattin Hadwiga, seiner drei Söhne Bernhard, Fridolin und Hartwig und seiner Tochter Sabine. Ein vornehmes Patriarchentum, das er bei solchen Anlässen zur Schau stellte, verwandelte vielerorts das erste Entsetzen über den zahlreichen Besuch in Scham und Bewunderung. Frau Christiane aber schaute mit heiterem Lächeln durch die väterliche Maske hindurch und ließ einige Abende Buttermilchsuppe und in der Schale gekochte Kartoffeln mit Speckrösterchen auftragen. Da zog der Spuk bald an ihrem Hause vorüber und fiel wie ein Heuschreckenschwarm bei einem der neuangesiedelten Fabrikanten ein. Auch Frau Hadwigas großen Bedarf an Butter, Käse und Eiern vermochte Frau Christiane zu ihrem Leidwesen bald nicht mehr zu decken, denn es war seltsam, wie oft in diesem Jahre ihre Kühe vor dem Kalben standen und keine Milch lieferten und ihre Hühner aus dem Mausern gar nicht herauskamen und darum keine Eier legten. Dreierlei nur konnte sie nicht verhüten, und sie nahm es als eine Art Verkehrssteuer, die sie unter den Gesamtunkosten des Hofes aufrechnete: daß Arnold Opterberg mit dem ganz besonders weinverständigen Professor die besten Flaschen zu leeren liebte, daß Professor Barthelmeß bei solchen Gelegenheiten kleine Geldanleihen zu machen pflegte und daß die Barthelmeßkinder bei ihren Spielen beharrlich Stall und Scheuer bevorzugten und zufällig aufgefundene Hühner-, Enten- und Gänseeier ohne alles Fackeln in sich hineintranken.
»Was sich nicht wehrt, kommt in den Magen,« sagte Frau Christiane kopfschüttelnd, aber sie drückte mitleidig beide Augen zu, wenn sie eins der zweibeinigen Wiesel bei der Beute überraschte.
»Es ist halt die Zigeunerwirtschaft bei den Alten schuld,« meinte sie im Gespräch mit dem Gatten. »Nun ja, der Patriarch bleibt in seiner Rolle, denn, wenn ich meine Bibel kenne, so übten die alten Patriarchen ja wohl auch ihr Gewerbe im Umherstreifen aus.«
Arnold Opterberg lachte. »Und das schwarzhaarige Sabinchen könnte als Lockvogel Rebekka am Brunnen sitzen.«
»Als modernes Mädchen sitzt sie lieber am Karpfenteich. Schau doch einmal, wie das Ding mit den Augen Bescheid weiß und jählings gutberechnete Blicke schießt, und zählt kaum zwölf Jahre. Unser Martin freilich wird rot vor Zorn, und der Christoph beschaut sich so seltsam seine Hände, als ob er ihr am liebsten das Sitzleder vollhauen möcht'.«
»Wie ist es möglich,« spottete der Hausherr, »daß die Buben der Frau Christiane Opterberg so arge Weiberhasser sein können.«
»Weil sie doch an mir hängen. Meinst du, es wäre nicht gerade deswegen, Arnold, daß sie sich fragen: Wie würd' das Mädel meiner Mutter zu Gesicht stehen?«
»Ach du liebe Muttereitelkeit! Laß die Buben erst mal ins Feuer kommen. Ich war auch drin und weiß ein Liedchen davon zu singen.«
»Ein Liedchen, Arnold? Die Bescheidenheit ist doch sonst nicht dein Hauptfehler.«
Der Professor kam durchs Hoftor geschritten. Sabine Barthelmeß stürzte ihm entgegen. »Hat er nicht eine Gestalt wie der Flötenspieler im Vatikan?« rief sie und zeigte auf den schlanken Martin Opterberg, der sich unwillig abwandte.
»Aber er pfeift dir was, dein Flötenspieler,« knurrte Christoph Attermann sie an.
»Du bist ja auch nicht häßlich, Christoph,« lenkte schnell das Mädchen ein, »nur zu stark betont in der Linie. Doch das ist halt Geschmackssache.«
»Gott sei Dank,« atmete Christoph Attermann auf, »daß ich dein Geschmack nicht bin und daß ich die Linie betone.«
»Der Christoph Attermann ist ein Rüpel,« entschied der Professor, »und von einem Eichenknorren lassen sich keine Orangen ernten.«
»Das muß wahr sein,« bestätigte Frau Christiane, »aber es lassen sich Bretter und Pfosten daraus fertigen zu einem standfesten Haus, und aus dem, was nebenbei fällt, lassen sich immer noch Eichenprügel schnitzen.«
Der Professor zog ein wenig die Augenbrauen hoch und strich sich den knisternden Bart.
»Ich verstehe den Vergleich nicht sofort. Aber wir wollen die glücklichen Kinder sich selbst überlassen und auf das bißchen eigene Glück Bedacht haben. Der Tag war schwer, Opterberg. Dürfte ich wohl um ein Glas Milch bitten?«
»Kuhmilch oder Liebfraumilch? Sie müssen schon deutlicher werden, Barthelmeß.«
»Sie haben es ja wieder gut vor. Aber ich bin kein Spielverderber. Also Liebfraumilch.«
»Wissen Sie,« sagte Opterberg, »aus dem kleinen, begrenzten Weinberg am Stift. Nur das ist Wachstum.«
»Ich weiß, ich weiß,« lehnte Professor Barthelmeß ab. »Ein Spatz ist keine Nachtigall, wenn sie auch beide zur Familie der Sperlingsvögel gehören. Lassen wir die Nachtigall singen, Opterberg.«
Und die Nachtigall sang bis in die späte Nacht. –
Ostern nahte. Die Reifeprüfung in der Gymnasialstadt war beendet, Martin Opterberg und Christoph Attermann kamen von der Bahn und schritten rüstig durch die Felder. Sie sprachen kein Wort, aber zuweilen blieben sie mit einem Ruck stehen, blickten sich in die Augen und lachten sich trunkenen Mutes an. Dann schritten sie um so eiliger aus.
Aus der Ferne schon erspähten sie vor dem Hoftor eine Frau, die Ausschau hielt in die Weite.
»Die Mutter!« jubelten sie, schwenkten ihre Mützen und setzten in wilden Sprüngen über den Weg.
Frau Christiane weilte schon seit Stunden vor dem Tore. Mitten im werktäglichen Schaffen hatte es die arbeitsfreudige Frau überfallen, daß sie die Hände sinken lassen und hinaushorchen mußte. Und langsam, von einem unwiderstehlichen Gefühl getrieben, hatte sie Fuß vor Fuß gesetzt und war wie traumwandelnd hinausgeschritten bis vor das Tor. Seit Stunden stand sie und schaute in die Weite und horchte in sich hinein, während sie glaubte hinauszuhorchen. Heute wurden ihre Buben flügge. Und wenige Tage nur, und sie würden die Schwingen regen zum Ausflug in die Welt. Dann war das Nest leer.
In der Harrenden und Horchenden wurden die Stimmen der Vergangenheit lebendig. Sie redeten eifernd laut und wiederum schmerzlich leise in dem Kampf um die Seele des Mannes, die schweifen wollte im Blauen, statt Wurzel zu schlagen im Grünen. Hatte die tiefere Erkenntnis der Frau um des Lebens Möglichkeiten obgesiegt? Noch heute, nach zwanzig Jahren der Ehe, schweifte des Mannes unruhige Seele bei Tag und Nacht und wußte von der Heimatbedeutung des Opterberghofs nicht mehr als ein Vogel von seinem Futterplatz. Und dennoch, trotz der Niederlagen, die sie in den ersten Ehejahren mehr und mehr in eine innere Vereinsamung drängen wollten, die wurzelstarke Frau hatte dennoch obgesiegt. Nicht über des Gatten leichtes Zecherblut, aber über ihr eigenes Blut und des Weibes drängende Liebeserwartungen. Sie hatte sich als Siegerin erklärt, seit sie ihren Buben an die Brust legen konnte, und als glückliche Eroberin dazu, seit sie dem Einzigen, den sie in Schmerzen geboren hatte, in dem Milchbruder einen Kameraden hatte geben können.
Wer hatte vordem ihres Reichtums gedacht? Nicht einmal der Gatte, den nur die Stunde lockte. Nun vermochte sie alle die Schätze, die sich unaufhörlich in ihr sammelten wie das Quellwasser im Berge, den Buben zu geben, und während sie in lautloser Freude gab und gab, spürte sie erst die ganze Fülle ihres Reichtums.
Frau Christiane stand am Tore und hielt Einschau und Ausschau. Ihre Lippen bewegten sich.
»Das ist das Glück. Spüren selbst in der Einsamkeit, daß man reicher ist als die tobende Welt, weil man aus sich selber schöpfen und spenden darf. Ihr habt mich dies Glück gelehrt, ihr Buben. Ich will's euch danken euer Leben lang.«
Ein Tropfen stieg ihr ins Auge. Sie schüttelte ihn ab. Sie hatte daran gedacht, daß ihr Nest leer werden würde. Was nun mit den zuströmenden Schätzen in der Einsamkeit?
»Nein,« sagte sie laut, »eine Mutter, die ihre Kinder ins Leben sendet, kann gar nicht einsam sein. Ich bin die Quelle, und sie sind der Strom. Und der Strom mag brausen, so fernhin er will, sein Lebenswasser holt er sich doch aus der Quelle.«
Auf dem braunen Ackerwege tauchten die Gestalten der Heimkehrenden auf. Sie sah der Buben Mützenschwenken und die wilden Sprünge über die Ackerschollen querfeldein.
»So sollt ihr allzeit zu eurer Mutter gesprungen kommen und klares Quellwasser finden, ihr Buben,« und sie hob die Arme und winkte den stürmisch Heimbegehrenden entgegen und fühlte sich von vier Jünglingsarmen umfaßt und die tollen Küsse der flaumbärtigen Lippen auf ihren Wangen.
»Wir haben's geschafft, Mutter, wir haben's geschafft!«
»Wollt ihr mich umbringen, ihr Wilden?«
»Mitnehmen möchten wir dich, mitnehmen in die Freiheit!«
»Um mich am nächsten Kreuzweg in der Freiheit sitzen zu lassen.«
»Um dich der ganzen Welt vorzuweisen: das ist unsere Mutter Christiane!«
»Das wär' mir das Rechte,« lachte Frau Christiane, bekam ihre Hände frei und wuschelte durch das Blondhaar ihrer Buben. »Damit die ganze Studentenschaft schreit: Da kommen die Opterbergsbuben mit ihrer Kinderfrau. Nein, nein! Jetzt zeigt denen da draußen, daß ich euch wirklich das Laufen beigebracht hab'.«
»Mutter, du wirst so allein sein, während wir draußen Tollheiten machen!«
»Macht ihr nur eure Tollheiten. Dann wird's euch heimtreiben, um euch bei der Mutter Rats zu holen, und ich bin nicht mehr allein.«
»Ach Mutter,« rief Martin Opterberg übermütig, »wieviel Tollheiten werden wir begehen, um dir die Freud' zu machen.«
»Uns, Mutter, uns,« rief Christoph Attermann, »um deine Stimme zu hören.«
»Kommt immer, ihr Buben, früh oder spät. Für eine Mutter gibt's keine Zeit. Eine Mutter wartet immer. Und nun marsch hinein und laßt euch beglückwünschen. Der Vater war euretwegen stundenlang im Keller und gewiß nicht, um eine trockene Red' zu studieren.«
Da nahmen die jungen Studenten Frau Christiane in die Mitte und zogen in den Hof, und Arnold Opterberg stand mit einem alten, kunstvoll geschliffenen Pokal auf der Schwelle des Hauses und winkte ihnen mit dem Kelch entgegen. »Trinkt einmal erst, trinkt einmal erst, damit wir nicht wehleidig werden. Es lebe die Freiheit!«
Nein, wehleidig wurden sie nicht an diesem Abend im Opterberghause. In der fensterreichen Giebelturmstube hatte der Hausherr den Tisch gerichtet, und während die Gläser aneinanderklangen, rauschte der junge Rhein sein stürmisch Wanderlied hinein und wetteiferten lockend die tannengrünen Höhen des Schwarzwaldes mit den rätselhaften Berggebilden der Alpen im Abendschein. Der ungewohnte Wein löste den Jünglingen die Zunge, daß sie mit dem jugendtrunkenen Hausherrn um die Wette schwärmten und Pläne schmiedeten, und Frau Christiane saß unter ihnen und blickte lächelnd in ihr Glas.
»Also das Ingenieurfach habt ihr euch erwählt,« rief Arnold Opterberg, »Strombau, Brückenbau, Tief- und Hochbau und was weiß ich! Immerhin – ein freier Beruf, der einem die Wunder der Welt erschließen kann. Als Jurist Prozesse wegen einer Ungezieferbude führen, als Mediziner jedermann das Klistier setzen und als Schulmeister tagaus, tagein den Nürnberger Trichter bei anderer Leut' Kindern spielen – nee, wär' auch nicht mein Fall. Über die Theologie aber müßten sich die Theologen erst selber einmal einig sein. In den Weinbergen des Herrn stecken mir zu viel Pantscher, die das Hochzeitswunder zu Kana auf den Kopf stellen und aus Wein Wasser machen. Da wird das Herz nicht froh. Also es bleibt beim Ingenieurfach. Das ist doch noch ein Stück Leben, gesehen durch ein Stück Kunst, und ich habe nicht ganz umsonst zu Düsseldorf die Musen gegrüßt. Christiane, merkst du was?« Er war aufgestanden und hatte die Gläser frisch gefüllt. »Und nun wollen wir das Verbrüderungserzeugnis von Kunst und werktätigem Leben in diesen beiden Fahnenjunkern leben lassen. Das Ingenieurwesen und seine beiden jüngsten Jünger: hoch, hoch und zum dritten Male – hoch!«
Sie standen im Kreise und stießen leuchtenden Auges miteinander an. Und Arnold Opterberg umarmte die Gefeierten und rief: »Jungens, am liebsten zög' ich mit euch. Aber ich besuche euch oft! Darauf könnt ihr das Abendmahl nehmen.«
Die Wahl der Hochschule wurde zur Erörterung gestellt. Das wurde ein lustig Streiten. Die Namen Karlsruhe, Darmstadt, Aachen mißfielen Arnold Opterberg durchaus. Er wünschte Klang und Farbe in ihnen zu spüren wie in Freiburg, Heidelberg, Bonn.
»Aber Vater, es geht um eine technische Hochschule.«
»Lari fari, es geht in den ersten Semestern darum, daß ihr irgendwo eingeschrieben seid und belegt. Denn ihr wollt doch zunächst Studenten werden und dann erst Ingenieure. Grundgütiger Gott, da sollte mir einer die Wahl freistellen!«
Martin Opterberg strahlte Christoph Attermann an. Der wiegte bedächtig den Kopf.
Frau Christiane ließ ihre Augen wandern, von einem zum andern hin.
»Es ist Männersache,« hob sie an, als sie zum Sprechen aufgefordert wurde, »und die Frau kann zu dieser Frage wohl nur das Gefühl reden lassen.«
»Laß es reden, Mutter,« riefen die Jungen wie aus einem Munde.
»Gut, ihr Buben, aber es ist nur eine Meinung und beileibe keine Beeinflussung. Ich mein' halt so in meinem Frauen- und Muttersinn: Gewiß werdet ihr zu allererst nicht gar zu viel schaffen und euch hinter den Büchern vergraben, weil ihr erst just von den Büchern kommt. Eure Jugend wird nach dem Leben greifen und nach den tausend Eindrücken in der neuen Umgebung und in der neuen Freiheit. Das ist Jugendrecht und auch wohl der notwendige Ausgleich, und ich gönn's euch von Herzen. Ihr sollt als Männer nicht sagen dürfen, ihr hättet in der Jugend ein Versäumnis begangen, dem ihr nachtrauern müßt.«
Arnold Opterberg griff nach seinem Glase und trank es aus. Die Jünglinge sahen es und schwiegen. Ihre Blicke kehrten zur Mutter zurück. Und Frau Christiane fuhr fort:
»Es mag Ausnahmen geben, die den Jugendschwang nicht brauchen. Ich halt' nichts von diesen Ausnahmen, die die Freud' als Zeitvergeudung betrachten, wie ich auch von altklugen Kindern nichts halte. Nur die Freude hebt uns über den Kleinkram des Lebens hinaus, und nur aus der Freude wird die rechte Arbeit geboren. Also lernt in Gottes Namen die Freud' in jederlei Gestalt kennen und wählt euch die rechte aus zur Erinnerung. Ich würde dazu Freiburg wählen, weil es so mitten in unseres Herrgotts Schwarzwaldgarten liegt und weil es euch, bevor ihr euch an die eigentliche und ernste Lebensarbeit macht, noch einmal die Heimat lieben lehrt in allen ihren Wundern. Dann mögt ihr weiter.«
Frau Christiane nickte ihren Buben zu und ließ den Blick in den Abend wandern. Und die Buben sprachen erregt durcheinander und besprachen die Fächer, die sie auch in Freiburg belegen könnten: Mathematik, Geologie, Chemie, Physik.
Das schwirrte durcheinander ...
Vorbei der Schulzwang. Vorbei das jähe Auffahren im Morgendämmern mit dem ersten Blick nach der gnadenlosen Uhr. Fünfmal gellte auch heute ihr Schlag. Marsch, auf den Weg, durch Feld und Wald, durch Wetter und Wind zur fernen Eisenbahn, die nicht wartet! Martin Opterberg streckte sich wohlig in seinem Bett: »Schlag du fünftausendmal. Deine Macht ist aus. Ich bin ein Freiherr geworden.«
Christoph Attermann aber erhob sich ruhig aus seinem Bett und begann ein großes Wasserplätschern.
»Heda, Student,« rief ihm Martin Opterberg lustig aus den Kissen zu, »du träumst dich wohl eben in deine Kinderzeit zurück? In die Klappe, Fuchs! Wir singen als Morgenlied: Frei ist der Bursch!«
»Die Mutter ist auf, Martin. Ich höre sie schon. Da möcht' ich ihr Gesellschaft leisten.«
»Grüß sie von ihrem traumseligen Sohn.«
Im ersten Morgendämmern stand Frau Christiane in ihrem Felsgarten. Ihr Rundgang durch die Ställe war beendet, Knechten und Mägden die Früharbeit angewiesen. Der Himmel färbte sich rosafarben. Über den Vorbergen des Schwarzwaldes tasteten schon die Strahlen der aufgehenden Sonne.
Eine kleine Weile hier zu stehen und alles erwachende Leben in sich hineinzutrinken, war Frau Christianes tagtägliche Morgenandacht. Christoph Attermann gewahrte sie und verhielt seinen Schritt, um ihr Tun nicht zu stören. Doch Frau Christiane hatte den Schritt schon vernommen und sagte, ohne sich umzuwenden: »Das ist der Christoph. Guten Morgen, mein Bub. Weshalb schläfst du nicht aus wie der Martin?«
»Guten Morgen, Mutter. Der Martin hat mir schon einen Gruß an dich aufgetragen. Ich hörte dich im Hause und dacht', du könntest mich brauchen.«
»Ei, Christoph, solltest du nicht eher darum gekommen sein, weil du mich brauchen möchtest?«
»Du weißt alles, Mutter. Ja, darum kam ich. Aber ich seh', ich stör' dich gerade.«
Sie reichte ihm die Hand und zog ihn näher.
»Du kannst teilnehmen. Wer das hier betrachtet, Morgen für Morgen und jahraus, jahrein, dem kann der Glaube an die Unsterblichkeit nimmer vergehen und erst recht nicht der Mut zum Leben. Noch ist alles winterschwarz und so öd', daß du über dich selbst jammern möchtest, und da kriecht schon zu deinen Füßen das erste Leberblümchen aus dem Erdreich, siehst du, gerad' hier, wo wir stehen, und putzt sich und reckt sich ins Licht, als hätt' es nur eben ein Schläfchen hinter sich und wär' nun wieder fröhlich bei der Sach'. Und die Fruchtknoten an den Obstbäumen haben während des Winterschlafs ihr Säfteschwellen nicht eingestellt und bereiten sich im kahlen Holz schon wieder zur seligen Blüte. Und die bleiche Wintersonne kriegt einen goldenen Glanz und gar so viel Wärme, daß es uns wohlig über den Rücken rieselt und all das müde Blut in uns verwundert die Augen aufschlägt. Schau, Christoph, da kommt die Sonne selbst, und weil wir Frühaufsteher sind, lehrt sie uns ihren Spruch, und der lautet: ›Im Haushalt Gottes gibt es keinen Tod und nur ein täglich Auferstehen. Und wenn's gestern Nacht war, so ist darum doch heute wieder Tag. Menschlein, Menschlein, du mußt nur erst den rechten Abstand zu dir selbst und deinem lächerlich winzigen Sorgenbündelchen gewinnen, um die ganze Größe der Schöpfung zu erkennen und dich selbst als ein unsterblich Glied.‹«
»Du bist glücklich, Mutter.«
»Ich war's nicht immer. Ich bin's geworden. Ich hab' manchen Stein zerklopfen müssen, bis ich zu der Quelle in mir kam. Und so müssen wir alle. Christoph, es geht nur um die Liebe im Leben. Um sie nur allein. Wer am stärksten zu lieben vermag, ist der Glücklichste. Nun sprich, was dich in der Frühe zu mir führt.«
»Es ist so klein, Mutter ...«
»Dann wollen wir es nicht erst groß wachsen lassen. Sprich tapfer drauf los.«
»Mutter,« sagte Christoph Attermann, »es wäre wohl am Platze, daß ich dir aus tiefstem Herzen dankte für alles, was du an mir getan hast. Von der Muttermilch an, die du mir gegeben hast wie deinem eigenen Sohn. Aber schau, da stock' ich schon. Denn dafür allein, daß du mich an deine Brust gelegt und mich gesäugt hast, dafür wär' mir ein Dank wie ein anmaßlich Wort, weil die Gabe zu unfaßlich hoch darüber steht. Und ich bin auch gar nicht gekommen, dir zu danken, weil ich ja von deiner Liebe gar nicht loslasse und immer wiederkommen werd' und gar keinen Abschluß find'.«
»So ist's recht,« ermunterte Frau Christiane. »Es ist recht, weil es das Selbstverständliche ist. Und nun sag das Deine.«
»Mutter,« hob Christoph Attermann von neuem an, »der Martin und ich, wir sind Brüder. Aber der Martin ist ein Opterberg-Erbe, und ich bin ein Attermann-Erbe, und danach muß ich jetzt den Weg, der in die Selbständigkeit führen soll, richten. Es wär' sonst ein falscher Ton in unserem brüderlichen Verhältnis, und ich gäb' mir einen Anstrich auf seine Kosten. Ach, Mutter, lach nicht. Du hast mir bei der Einsegnung vor Jahren vorgezeigt, daß der Erlös aus meinem Väterlichen und Mütterlichen die Summe von sechstausend Mark getragen habe. Wie ich mir mein Studium einzurichten gedenk', wird's auskömmlich reichen. Aber die Freud', mit dem Martin gemeinsam das Studentenleben zu betreiben, werde ich aufstecken müssen. Darum bleiben wir uns doch die gleichen und gehen als Männer wieder Hand in Hand.«
Frau Christiane schaute angestrengt in die aufsteigende Sonne.
»Nun sprich auch jetzt, daß ich Recht hab', Mutter, und nimm mir den Druck.«
»Christoph,« sagte Frau Christiane und blickte immer noch in die junge Sonne, »ich muß dir ein Geständnis machen. Mit den sechstausend Mark stimmt's nimmer.«
Über die breite Stirn Christoph Attermanns zog eine brennende Scham. »Verzeih, Mutter,« stammelte er, »ich hab's in meiner Gedankenlosigkeit nicht berechnet. Das Schulgeld und die Erziehungskosten –«
»Du Narr,« sagte Frau Christiane, ohne den Blick aus der Höhe zu wenden, »sollen wir etwa gegeneinander aufrechnen? Was der Opterberghof an dir gehabt hat und du am Opterberghof? Nein, es ist eine viel größere Leichtfertigkeit, als du es ahnst, und ich muß mit der Sprache heraus. Also ich hab' – ich hab' mit deinen sechstausend Mark – kurz, ich hab' damit, wie man an der Börse sagt, spekuliert.«
»Spekuliert?« Christoph Attermann lachte, wie von einem Alb befreit. »Und hin ist's?«
»Hin? Du bist wohl von Sinnen, Bub? Man spekuliert doch nicht, damit's hin geht? Verdoppelt hab' ich's, und die Zinsen stehen auch noch dazu.«
»Mutter,« fragte Christoph Attermann ungläubig, »wann hast du denn das getan? Sieh mich doch an, Mutter.«
Da schaute ihm Frau Christiane gelassen in die zweifelnden Jünglingsaugen.
»Hör zu, Christoph. Die anderen wissen nicht davon, und aus guten Gründen. Vor einer spekulierenden Mutter wäre die schuldige Achtung ins Wanken geraten. Es ist aber geschehen, und es war, als der Landhunger der Fabriken einsetzte. Da hab' ich heimlich für dein Erbteil gekauft und ums Doppelte wieder verkauft. Es ist geglückt.«
»Und wenn's nicht geglückt wär'?«
»Ja, mein armes Christophel, dann wärst du ein Bettelbub geworden.«
»Das glaub' ich dir nicht, Mutter. Zum erstenmal im Leben glaub' ich dir was nicht.«
»Das magst du dummer Bub halten, wie du willst. Die Haupsach' ist und bleibt: das Geld ist da und ist dein. Und du wärst mir ein netter Geizhals, wenn du jetzt noch den Martin allein nach Freiburg ziehen lassen wolltest.«
Der Junge hob die Arme. Dann warf er sich wortlos an Frau Christianes Brust. –
»So, und nun geh hin und erzähl dem Martin, auf welche Glücksweis' du dein Vermögen verdoppelt hast und daß du mit ihm Schritt halten kannst.«
»Mutter,« stammelte Christoph Attermann, »was sag' ich nur zu all deiner Liebe ...?«
Zu ihren Füßen brauste und schäumte der junge Rhein, kristallen und blau, wie er aus den Bergen kam, in denen seine Quellen lagen.
»Wenn sie dich zu viel dünkt,« sagte Frau Christiane, »so gib dafür von deiner an Martin,« fuhr ihm durchs Haar und ging ins Haus. –
Noch einmal gab es in der Osterwoche Becherklang im Giebelturmzimmer. Professor Barthelmeß war gekommen inmitten seines Familienlebens. Seinem ältesten Sohn Bernhard war, in Anbetracht, daß man ihn zur Rekrutenmusterung vorgeladen hatte, von der Schule nach hartem Kampf das Einjährigenzeugnis bewilligt worden, und die Brüder Fridolin und Hartwig hatten es gleichzeitig erhalten, weil sie die Erklärung abgaben, sich nicht einem wissenschaftlichen, sondern einem künstlerischen Berufe widmen zu wollen.
»Was ihnen der Vater geben kann, vermag ihnen nicht Schule und nicht Hochschule zu geben,« erklärte Professor Barthelmeß feierlich. »Ich werde meine drei Söhne der christlichen Kunst zuführen. Sie erhebt über den Alltag und nährt ihre Jünger.«
Als Martin Opterberg vom Vater ausgeschickt war, neuen Wein in die Giebelstube zu holen, und mit den Flaschen im Arm die Giebeltreppe hinaufgestiegen kam, huschte ihm die zwölfjährige Sabine Barthelmeß entgegen.
»Gib mir schnell einen Kuß, Martin. Daß du an mich denkst.«
»Bist du toll, Mädel?«
Sie stand eine Treppenstufe höher als er, beugte sich schmiegsam vor und küßte ihn auf den Mund, bevor er, die Flaschen im Arm, abwehren konnte, huschte vor ihm die Treppe hinauf ins Zimmer zu den anderen und saß bei seinem Eintritt mit unschuldig gesenkten Augen.
Vierzehn Tage darauf trafen Martin Opterberg und Christoph Attermann in der alten Musenstadt Freiburg ein, um schon am nächsten Morgen als Füchse der Burschenschaft zu erwachen.
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