Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

6

Das junge Mannsvolk war über die Alpen, ins Land Italien. Herr Arnold Opterberg selber hatte den Plan entworfen und ihn durch Einschiebungen großer Fußreisen und Bevorzugung der einfachsten Schenken und Gasthäuser so billig zu gestalten gewußt, daß ihn auch die weniger bemittelten Studenten ohne geldliche Schwierigkeiten auszuführen vermochten. Es herrschte tosende Freude im Auslugzimmer des Giebelturms, als der Hausherr erklärte, die Leitung des Heereszuges selbst in die Hand nehmen, im übrigen aber Kamerad unter Kameraden sein zu wollen.

Fort waren sie wie die Zugvögel, obwohl es mitten in der Ernte war. Herr Arnold Opterberg hatte einen Grund gefunden, endlich aufs neue den Trieben seiner schweifenden Sehnsucht zu folgen, und da er als Lenker und Leiter der Jugend ging, der keine andere Zeit als die Ferienspanne zu Gebote stand, so fiel für ihn der Schein der Selbstsucht hinweg.

Frau Christiane nickte mit ruhigen Augen, stellte einen neuen Knecht ein und stand des Morgens um eine Stunde früher auf. Besser mehr Arbeit mit den Händen als mit dem Herzen, sagte sie sich in ihrer Lebenskunde. Und Unzufriedenheit in der Ehe ist Diebstahl am Maß unseres Lebens.

Und sie schuf den Ausgleich und legte von dem ihren zu, weil sie die reichere war.

Auch die Mädchen waren heimgeflattert in ihre Hausungen am Mittel- und Niederrhein. Ihrer drei nahmen ein Geheimnis mit sich, das den drei Freunden der Opterbergsbuben recht wohl bekannt schien. Nur Therese Baumgart war auf besonderen Wunsch Frau Christianes noch geblieben.

Wenn die Gutsherrin in frühester Morgenfrühe die Fensterläden ihres Schlafzimmers öffnete, stand das Mädchen schon im Hof und winkte ihr den Guten-Morgengruß.

»Du sollst ausschlafen, Kind. Die Ferien sollen Kräftesammler sein.«

»Das Sprichwort lehrt: ›Sieben Stunden sind der Ruh – die achte fällt dem Faulen zu.‹ Von Neun bis Vier lag ich in den Federn. Macht sieben Stunden. Ich bin frisch wie ein Fisch.«

»Lauf in den Stall und trink einen Liter Milch warm von der Kuh, ich komme.«

Den ganzen Tag blieb ihr das Mädchen zur Seite und griff zu, wo es zuzugreifen gab. Am Nachmittag saß es über seinen wissenschaftlichen Büchern, und nach Feierabend hockte es plaudernd neben Frau Christiane auf der Gartenbank, von der sich der Blick auf die strudelnden Wasser des jungen Rheins erschloß, oder spielte auch wohl auf eine Bitte der Hausherrin alte Liedweisen auf der Laute, zu der die beiden Frauen zweistimmig die verträumten Worte sangen.

»Erzähl mir ein weiteres von Daheim, Theresel. Ich lausch' dir gern, und wenn der Rhein die Musik dazu macht, so ist das auch ein Lied.«

Sie hatte das Mädchen von dem Tage an »Du« genannt, an dem die drei Freundinnen die Heimfahrt angetreten hatten. Mit diesem Du schuf sie der Zurückbleibenden zart und still den Heimplatz.

Das empfand das Mädchen tief.

»Ein weiteres soll ich erzählen? Von den Eltern berichtete ich schon, daß sie als rechte Bürgersleute in Karlsruhe lebten und starben. Außer mir war noch eine Nachzüglerin im Nest, mein um zehn Jahre jüngeres Schwesterchen Linde, und da die Eltern erst in gesetzten Jahren geheiratet und kein übergroßes Vermögen erworben hatten, so erzogen sie mich, wie man einen Sohn erzieht, der rechtzeitig als seiner kleinen Schwester Beschützer auftreten kann. Also durfte ich mit achtzehn Jahren meine Reifeprüfung ablegen und zur Universität gehen. Doch das haben die Eltern nicht mehr erlebt. Die starben im Jahre vorher. Eins starb so geschwind dem andern nach, daß es gleich die Probe auf meine Widerstandskraft galt und auf die Berechtigung, trotz alledem das Studium aufzunehmen.«

»Und das Schwesterchen? Die kleine Linde?«

»Die Linde,« sagte Therese Baumgart mit einem warmen Ton, »die Linde zählt jetzt acht Jahre und ist im Schülerinnenstift zu Karlsruhe. Sie ist frisch und gesund und vertraut auf die große Schwester, daß sie fleißig studiere und ihr eine frohe Zukunft schaffe. Bis sie eingesegnet wird, muß ich als Frauenärztin meinen sicheren Wirkungskreis gefunden haben. Dann hol' ich sie zu mir in der Zeit ihrer schönsten und stärksten Entwicklungsfähigkeit und kann ihr mit den selbsterworbenen Mitteln die Wege ebnen helfen.«

»Und wenn die Therese Baumgart inzwischen einen Mann gefunden hat?« fragte Frau Christiane.

»Glauben Sie denn, er wird's mir verwehren, wenn ich selbst verdiene?« fragte sie ängstlich zurück.

»Du lieb, unschuldig Närrchen,« lachte Frau Christiane und huschelte den braunen Mädchenkopf an ihre Brust. »Also denken tust du doch daran, an die Lieb' und die Ehe, trotz Doktorhut und Heilberuf? Brauchst dich nicht verlegen zu ducken, Kind. Aufrecht stehen und selber seinen Mann stellen im Leben, ist notwendig und zumal für uns Frauen, die nicht wissen, wie's kommen kann auch nach dem glücklichsten Rausch, und wie sich der Herr Gemahl im Taglicht entwickelt. Schau her, meine Händ'. Sie haben das Arbeiten gelernt vor der Ehe, und es war gut so, denn sie sind nicht zarter geworden im Lauf der Ehejahre. Oder soll ich ein golden Krönchen legen um meines lieben Herrn Arnold Opterberg Stirn? Mir ist doch, als glichen deine Augen den meinen?«

Da löste sich der braune Mädchenkopf von der Frauenbrust und beugte sich in den Schoß Frau Christianes und schmiegte die Wange auf die kräftigen Hände.

Und ein anderes Mal bat Frau Christiane: »Erzähl mir, wie du meine Buben kennen gelernt hast. Sie waren wohl recht keck und großherrlich, weil sie die frischen Narben trugen?«

»Der Christoph trug noch keine, und der Martin seine erste.«

»Also war's der Martin, der Sonne, Mond und Sterne begehrte. Ein Riß in der Haut, und sie dünken sich Helden und Abenteurer. Früher tat's ein Loch in der Hose. Aber mich freut's bei rechten Buben, und du kannst mir ruhig erzählen.«

Das Mädchen lächelte der Frau in die Augen.

»Er war gewiß nicht schlimm und keck. Nur so ganz mannbar hat er sich gefühlt durch seinen ersten Sieg auf der Mensur und darum auch so – so siegesgewiß. Das stand ihm gut, und sein Benehmen zeigte gleich, daß er eine gute und geliebte Mutter hatte.«

»Schmeichlerin. Weshalb sagst du mir das?«

»Weil es nicht von mir stammt, sondern vom Christoph Attermann. Und der brauchte noch ganz andere Ausdrück' und schmeichelte doch auch nicht.«

»Nicht bös sein, Kind. Ich hör's ja gern und wär' keine Frau, wenn ich's leugnen wollt'. Aber versteh mich auch darin recht: eine Schmeichelei kann eine Anerkennung sein, die den anderen schmücken soll, oder nur ein schönes Wort, mit dem sich der Redner selber aufputzen möcht'. Dafür muß die rechte Frau ein Ohr haben. Nun, und von euch wollt' ich's hören und hab' es gehört. Also du warst bei Christoph Attermann.«

»Bei Christoph Attermann?« verwunderte sich das Mädchen. »Ja doch, ich nannte ihn, als ich von des Martins frischer Fröhlichkeit sprach, mit der er im Kolleg gleich zu mir redete. Er saß neben mir, und sein Verbändlein war gerutscht.«

»Sieh an. Medizinische Kollegs besucht der Bub, der ins Ingenieurfach will? Doch das müßt ihr ja wohl besser verstehen, und seinen Wissensdurst soll der Mensch stillen.«

Überrot saß Therese Baumgart und wußte nicht, wohin mit dem Blick.

»Der Christoph Attermann besuchte doch auch die medizinischen Kollegs,« stammelte sie.

»Ei, nun ist es wieder der Christoph. Ich dächt', der raufte sich inzwischen mit dem Säbel?«

»Gerauft hat er sich wahrhaftig nicht,« verteidigte ihn das Mädchen. »Er hat, und gewiß gegen meinen Willen, einem Studenten die Mütz' abgeschlagen, als er mir unhöflich wurd', und nach den studentischen Bestimmungen mußt' er mit der Waffe einstehen. Aber der Martin hat ihm so herrlich sekundiert, daß er den anderen die Zech' bezahlen ließ.«

»Mein Gott, nun ist es wieder der Martin,« sagte Frau Christiane kopfschüttelnd und erhob sich. Und als sich die Therese Baumgart mit ihr erhob, ganz kopflos geworden von den schnellen und blanken Einwürfen, nahm Frau Christiane sie mit einer mütterlichen Bewegung fest in den Arm. »Ich freu' mich, daß sie dir alle beide gefallen. Hab' ich sie doch beide aufgezogen wie Söhne und Brüder. Der eine ist treu und fest wie Gold, und der andere heiß wie eine Flamme, aber wie eine lautere Flamme, die auch einmal ein Herdfeuer gibt. Schenk du beiden deine Freundschaft, und wenn du einmal irre wirst an einem von beiden oder dich selber ein Zweifel plagt, so ruf mich, Theresel, oder komm selber angereist. Eine Mutter versteht alles; ich mein' eine rechte Frau und Mutter und keine gluckende Henne. Gelt, und das Lindele, das bringst du mir auch einmal zum Anschaun.«

*

Und Herbst ward's, und der Winter kam über Freiburg, und mannshoch lag der Schnee ans den Schwarzwaldbergen. In der Burschenschaft hatten sich die Fünf, die so sommerselig durch den Schwarzwald zum jungen Rhein gezogen waren und so freudetrunken über die Alpen ins Land Italien, die Tillmann, Grüters, Broich und die Opterbergsbuben, trotz aller Verschiedenheiten des Wesens enger aneinander angeschlossen, weil sie von denselben fröhlichen Erinnerungen zehrten. Nicht weniger aber für die Gegenwart, weil der gleiche kleine Mädchenkreis sie anzog: Therese Baumgart und ihre Kameradinnen. Manche Wege noch waren sie mit ihnen gemeinsam gewandert, wenn Vorlesungen und Anatomiesaal die eifrigen Schülerinnen freiließ, und als die Schneemeldungen vom Feldberg und seinen Brüdern kamen, da war der erste Samstag recht, um über den Sonntag hinaus in die Berge zu fahren, die Schneeschuhe auf dem Rücken und die lernbegierigen Mädchen zur Seite.

Beschuht mit derbem Rindsleder, in dickgestrickten Jacken und flauschigen Wadenstrümpfen, die Wollmütze über das Haar gezogen und den Schal um die Schultern, glichen sich die Mädchen zum Verwechseln, und es konnte nicht ausbleiben, daß ihnen ihre Begleiter öfter als sonst unter das Mützlein blicken mußten, um festzustellen, mit wem sie sprachen. Das war Martin Opterbergs liebstes Spiel, und er übte reihum manche kleine Zärtlichkeit, um sich mit einem jähen Erschrecken zu entschuldigen, er habe eine andere gemeint. Die rheinischen Mädchen aber, selber viel zu glücksfröhlich, ließen sich den Übermut des hübschen und immer sprühenden Burschen ohne viel Aufhebens gefallen, da er doch überdies der beste Freund ihrer lieben Freunde war, und die Freunde selbst, die Tillmann, Grüters und Broich, nahmen sein lustiges Wildern, das immer in den Grenzen des Knabentollens blieb, als eine schickliche Gelegenheit, besonders warm für ihre Schützlinge einzutreten und sichernd den Arm um ihre Schultern zu ziehen. Nur Therese Baumgart blickte die ersten Male verwundert auf, wenn ein kleiner Aufschrei dartat, daß Martin Opterbergs Hand wieder einmal versehentlich unter das Kinnlein einer ihrer Kameradinnen gegriffen hatte. Dann aber nahm auch sie es als unschuldige Schneebahnfreiheit und lustigen Winterspuk.

So wurde das schwerfällige Hinauftapsen auf die Bergeshöhen zu einer gleich großen Köstlichkeit wie das selige Hinabgleiten in die schneeverwehten Weiten, das sausende, brausende Sturmfliegen die steileren Hänge hinab, das atemversetzende Hinüberschwingen von Halde zu Halde und das jubelnde Sichwiederfinden im fernen Talgrund. Oft hieß es eine Schleife fahren, um einer im Schnee versinkenden Gestalt wieder auf Füße und Schneeschuhe zu helfen. Dafür wurden hohe Belohnungen oder derbe Strafen zugesichert, je, ob es ein Mägdlein oder ein Bürschlein war. Und in den großen Schutzhütten, in denen es von sportliebendem Jungvolk wimmelte, gab es nach heißem Erbsenbrei zu Lautenklang und Zitterschlag Tanz und Gesang vor dem lodernden Kamin, bis die Mitternachtsstunde die Nimmermüden zur Strohrast rief.

Christoph Attermann war wie ein mächtiger Berghund. Er sicherte in kühnem Vorlauf die Bahn, hielt zurück, um die ungeübten Mädchen vorüberbrausen zu lassen, war als Erster zur Stelle, um hilfreiche Hand zu bieten, und ließ dennoch keine Sekunde das Auge von Therese Baumgart, an deren Schneeschuhen er die kleinste Unregelmäßigkeit erblickte, ordnete und heilte.

»Ihr Wintervergnügen ist durch mich nur halb,« klagte das Mädchen.

»Wenn das Ihre durch mich nur ein ganzes wird,« lachte der Wetterfeste.

»Sie sind ein Mensch, dem man sich blindlings anvertrauen kann,« sagte das Mädchen und reichte ihm die Hand.

»Tun Sie das nur zu jeder Stund'. Sie mag hell oder dunkel sein, Fräulein Therese.« –

Es war im März, und Neuschnee auf den Bergen. Wenige Tage noch, und das Wintersemester schloß ab, und der Abschied war da von Freiburg, der lieben, alten Stadt. Wie auf Sturmflügeln kam Martin Opterberg auf Schneeschuhen vom Feldberg daher, und Therese Baumgart war mit ihm, weil es den Abschiedstag galt, den er sich auserbeten hatte. Durch die schneeverhängten Tanneneinsamkeiten fuhren sie dahin wie die wilde Jagd, und die Zottelbartriesen der Wälder schraken aus dem Schlummer, und es war, als flögen sie im Sprunge zurück, wo die jungen Menschenkinder mit einem Lustschrei vorüberbrausten.

»So dahinfliegen in alle Unendlichkeit!« schrie Martin Opterberg. »Das ist Leben!«

»Ja! Ja! Ja!« scholl es ihm nach.

Die Wälder des ›Notschrei‹ nahmen sie auf. Sekundenlang gedachte das Mädchen des bedrückenden Namens. Aber das Jauchzen des Jünglings riß sie darüber hinweg, und da breitete sich die Halde, und das Haldenwirtshaus winkte.

Auf der Kaminbank hockten sie dicht bei einander und ließen sich durchwärmen von der Glut der harzigen Kloben und dem roten Glühwein, den ihnen der Wirt mit Späßen kredenzte. Und als sie wiederum die Schneeschuhe angeriemt hatten und mit erfrischten Kräften die Tafel des Schauinsland erreicht war, fiel jäh die Nacht herein.

»Was tun wir jetzt?« fragte das Mädchen.

»Wir machen Licht!« rief der Begleiter. »Fackelträger vor für die Königin!«

Zwei handliche Pechfackeln wählte er aus seinem Rückenbündel, entzündete ein paar Kienspäne und stieß die Fackeln in die Glut. Da flammten sie lichterloh auf und warfen ihren wilden Schein über das schweigende, weiße Schneegefilde und die erhitzten Gesichter der beiden Menschenkinder. In jeder Hand schwang Martin Opterberg eine Fackel, daß das Schneeland wie ein königlicher Purpurmantel flammte.

»Bahn frei für die Märchenkönigin!« schmetterte er in das widerhallende Tal, hob die Fackeln hoch über den Kopf und brauste, das Madchen in seiner feurigen Spur, die Hänge hinab.

Von der letzten Höhe glitten sie in die Niederungen der Menschen. Nebeneinander fuhren sie jetzt, und die Fackeln waren bis auf den Stumpf niedergebrannt. Martin Opterberg schleuderte sie zur Erde, daß ein Funkenregen um ihre Köpfe flog.

Den Arm streckte er aus und riß die auf den Schneeschuhen Schwankende an sich.

»Mädchen, Mädchen, hast du mich lieb? Hast du mich lieb, Mädchen?«

»Ja, Martin, ich hab' dich lieb. Ja, Martin ...«

Er küßte ihr die Wangen, die Augen und den Mund. Und dann nahm sie sein Gesicht in ihre beiden Hände und blickte lange hinein. Als müsse sie sich jeden Zug, so wie er war, einprägen für immer.

Die Schneeschuhe wurden gelöst und aufgepackt. Durch die Vordörfer ging es nach Freiburg hinein.

Die Brunnen auf den Straßen rauschten vom Abschiednehmen.

»Nun gehst du auf die Hochschule nach Darmstadt, Martin –«

»Geh du nach Heidelberg, Theresel. Du findest eine glänzende medizinische Fakultät, und ich finde dich leichter von Darmstadt aus.«

»Wollen sehen, ob's glückt. Wenn du heimgehst, grüß die Mutter.«

»Leb wohl. Ich sag' dir all meinen Dank.«

»Leb wohl, du –«

*

Sommer war es geworden und wieder Winter, seitdem Martin Opterberg und Christoph Attermann ins Hessische gezogen waren, um an der technischen Hochschule zu Darmstadt ihren Studien obzuliegen. Vom ersten Tage an nahm sie ihr erwähltes Fach gefangen, und der buchenbestandene Odenwald durfte lange locken, bevor er in den wenigen Mußestunden, die sich die Eifernden ließen, die heißen Arbeitsstirnen zu kühlen bekam. Wie ein Bergmann ging Christoph Attermann in seiner Arbeit Stollen für Stollen ab und wühlte sich unermüdlich durchs Gestein, während sich Martin Opterberg, sobald er die Unterlagen unter den Füßen spürte, mehr und mehr in die großen Zusammenhänge vertiefte, die die Wunder der Technik mit dem Hoch- und Ausbau des gesamten Wirtschaftslebens verband, und ihrer Herr und Meister zu werden versuchte. Da tat sich manche Lücke auf, der nicht lediglich mit dem Winkelmaß und der Logarithmentafel beizukommen war, und schon nach einem weiteren Jahr stand es ihm fest, daß er zur Abschließung seiner Studien noch ein paar Semester Volkswirtschaft an einer Universität hinzunehmen müsse. Aber das eilte ihm vorläufig nicht. Alle Säfte der Jugend stiegen in ihm auf, wie in einem jungen Baum, der nach allen Seiten seine Äste recken möchte und doch fürerst in die Höhe schießt.

Von Zeit zu Zeit traf ein Brieflein von Therese Baumgart, die nach Heidelberg übergesiedelt war, als Antwort auf einen fröhlichen Kartengruß ein. Darin berichtete das Mädchen gar ernsthaft von Studien, Übungen und ersten Fachprüfungen, die es leicht bestanden habe, von seinen weiteren wissenschaftlichen Plänen und ein wenig auch von seinem eingezogenen und doch glücklichen Leben auf der Studentenbude hoch oben in der Neckarstadt. Und nur zwischen den Zeilen zitterte zuweilen ein Wort: ›Denkst du noch an die sommerselige Schwarzwaldwanderung? Denkst du noch an die glührote Fackelfahrt durch Neuschnee und Nacht, von Berg zu Tal?‹ Dann schrieb Therese Baumgart wohl: »Wenn ich zur Erholung und Erfrischung ans Fenster tret' und die Hand ausstreck', so greif' ich in ein Bäumlein des Odenwalds, und wenn du von deinem Fenster aus dasselbe tust, so greifst auch du in ein Bäumlein des Odenwalds, und das Blätterrauschen geht von Süd gen Nord und von Nord gen Süd im selben Wald. Ist das nicht, als schüttelten wir uns wie nur je die Händ'?«

Kam ein Brieflein, so gab es Martin Opterberg auch Christoph Attermann zu lesen, und wenn der Freund nach Tagen fragte, ob dem Theresel auch geantwortet sei, und erfuhr, daß der Martin noch nichts zu berichten gewußt habe, so setzte er sich selber hin und füllte manchen Bogen mit der Beschreibung des gemeinsamen brüderlichen Lebens. So kam es, daß Therese Baumgart letzthin ihre Briefe an die beiden Freunde zusammen richten mußte, an den fleißigen Schreiber und an den fröhlichen Kartengrußsender.

Als die Freunde zum erstenmal nach Heidelberg gefahren waren, hatten sie das Theresel am Bahnhof kaum erkannt; so blaß und schlank war es von allem Studieren geworden. Aber die Wiedersehensfreude loderte mächtig in seinen Augen.

»Mädel, Mädel, hab deiner Schönheit acht,« rief Martin Opterberg und schwang des Mädchens Hände hin und her. »Das Stubenhocken schafft's nimmer. Der Wald muß hinzu.«

»Hab deiner Gesundheit acht,« sagte Christoph Attermann und wußte nicht, wie ihm das »Du« über die Lippen gesprungen war, bekam einen flammenden Kopf und wollte sich entschuldigen.

Therese Baumgart lachte ihn aus.

»Laß gut sein, Christophel. Wenn ich in Gedanken mit dir red', hab' ich dich längst Du genannt.«

»So tu's weiter und alle Zeit und schenk auch mir die Freud'.«

Sie nickten sich mit frohen Augen zu und gaben sich den Handschlag darauf. Martin Opterberg aber mahnte kräftig zum Aufstieg auf das Schloß, und die frischgebackene Heidelbergerin machte stolz die Führerin und leitete zuvörderst zur Universität, der uralten und ewig jungen Ruperto-Carola, die sie in begeisterten Worten pries und den Hörern als die älteste aller hohen Schulen Deutschlands einprägte, im Jahre 1386 vom Kurfürsten Ruprecht von der Pfalz begründet im Wettbewerb gegen die hohen Schulen von Prag und Wien.

»Mich drängt's heut mehr nach dem großen Faß als nach dem Born der Weisheit, Theresel.«

»Folg mir nur brav, Martin. Wir kommen noch immer zu früh, denn das Faß ist leer bis auf den Grund.«

»So wüßt' ich mir eine andere Quelle,« lachte er und schaute ihr auf den Mund.

Nun stiegen sie plaudernd den Schloßberg hinan, und während sie sich heimlich mit den Blicken maßen und einer im anderen sich selber suchte, ging Frage und Antwort eilig zwischen ihnen hin und her, und es war, als läge Freiburg jählings am Neckar.

»Der Broich war der fleißigste,« berichtete Therese Baumgart. »Sein juristisches Examen war ein gutes, und er arbeitet mit Macht auf den Assessor, um, wie ich glaub', in die Industrie zu gehen und schneller einen Hausstand zu gründen, als es ihm sonst glücken könnte.«

»Einen Hausstand? Ist es denn so fest und richtig zwischen ihm und der Hilde Falkenroth?«

»Ich glaub's, Martin. Die Hilde hat der Medizin entsagt und ist heim in den großen Gasthof ihres Vaters bei Koblenz, wo sie das Kochen und Wirtschaften übt.«

»Und die Klarenbachsmädchen machen's ihr wohl nach?«

»Sie studieren und studieren nicht, just so, wie es ihre guten Freunde, die Herren, Tillmann und Grüters tun. Der Tillmann verliert dabei ein wenig seinen Weg und denkt mehr an seine Elfriede als an seine Kunstgeschichte. Um ihn ist mir leid. Aber der Grüters weiß, was er will, und was er an Zeit mit der Gerda verliert, das holt er sicherlich des Nachts wieder bei, denn er wünscht dem reichen Industrieherrn Klarenbach als ernsthafter Bewerber unter die Augen zu treten.«

»Wie das alles nach dem Versorgungshafen drängt,« spottete Martin Opterberg und schüttelte sich. »Gerad, als ob die einzige Jugendzeit nicht das Beste bedeutete im Leben. Und nun sag noch eins zum Schluß: was macht denn das Theresel?«

Das Mädchen sah ihn mit Erstaunen an. Dann wurde ihr Blick ruhig.

»Das Theresel dankt für gütige Nachfrag' und hofft, bald größere Verbänd' anlegen zu dürfen als den ersten kleinen Wickel in Freiburg.«

»Das Theresel ist wohl arg stolz geworden als wohlbestallter Kandidat der Medizin?«

»Nicht gerad stolz, aber stetig in seinem Weg, weil's keine Sterntaler mehr schneit, wenn der Mensch träumt, und nur, wenn er wacht.«

»Bist auch du mit auf der Jagd nach dem Mammon? Das scheint heut die Losung zu sein im lieben Vaterland.«

»Narr du. Hast du schon einmal für Geld gearbeitet und arbeiten müssen? Oder haben dir Vater und Mutter das Tischlein des Lebens gedeckt? Bevor du nicht den ersten selbstverdienten Taler auf den Tisch legst, würd' ich an deiner Stell' kein Wörtlein über den Gelderwerb sagen. Denn er kann auch heilig sein, Martin, und ein Durchgangstor zum rechten Glücklichwerden und Glücklichmachen bilden. Denk mir zuliebe nur einmal an die kleine Linde, mein Schwesterchen, und wie ich dem Lindele wohl mit meinen Rieseneinnahmen zu einem Königtum verhelfen werd'.«

Martin Opterberg reichte ihr beim letzten Bergan die Hand und hielt sie eine Zeitlang in der seinen.

»Ich hab' so dahergered't, Theresel. Die Jugend macht mir halt immer noch so warm, daß ich fast mein', ich dürft' sie nimmer und nimmer auslassen. Und nun gar noch vorzeitig Schluß machen, wie die Freunde zu Freiburg? Ach, du verstehst mich schon.«

»Bist halt immer noch das Sturmherz?«

»Es stammt vom Vater, Therese. Von der Mutter hab' ich die heiße Arbeitsfreud', die der Vater nimmer besaß. Hoffentlich wird's ein Ausgleich.«

»Der Martin ist ganz einfach überarbeitet,« erklärte Christoph Attermann ruhig, »darüber helfen selbst die schönsten Wörter, die ihr tauscht, nicht hinweg. Er ist seit der Bubenzeit an die freie Natur gewöhnt, und wenn du ihm ein Arzneilein verschreiben willst, das ihm hilft und auch dir, so schreib zuweilen im Brief: Wir wollen nächsten Sonntag durch den Odenwald rennen oder die Bergstraß' entlang durch die Weindörfer.«

»Christoph, wenn Mutter Christiane wüßt', daß du schon wieder der Medizinwissenschaft ins Handwerk pfuschst! Aber ich will das Rezeptlein schreiben.«

»Still,« bat Martin Opterberg und zog ehrfürchtig den Hut vom Kopf. Sie hatten im Gespräch die Elisabethpforte durchschritten, die gesprengte Bastei, den Stückgarten durchquert, waren über die Burggrabenbrücke und durch den vierkantigen großen Wartturm gelangt und standen im Schloßhof, im Märchenhof der Wunder und Träume.

»Mein Gott,« stieß Martin Opterberg hervor, »ist das möglich ...«

Und die anderen taten wie er und gingen über den moosbedeckten Hof, den die rotleuchtenden Sandsteinbauten wie ein Prachtgeschmeid von Schlössern und Burgen umgaben, auf Zehenspitzen einher, als fürchteten sie, aus den zerborstenen Mauernischen ein Elflein aus dem Sommermittagschlummer aufzustören oder den großen Pan selber.

»Muß man wirklich wissen,« sagte Martin Opterberg leise, »daß das eine rosenrote Wunder der Otto-Heinrichsbau geheißen ist und das andere der Friedrichsbau? Und daß das dritte Wunder der gläserne Saalbau genannt ward und das vierte der Frauenzimmerbau und das fünfte der Ruprechtbau und was sonst noch immer? Fragt man im Märchen nach Nam' und Art? Da heißt es: es war einmal ein Königssohn, der auszog an den Hof einer Prinzessin, und die war so schön ... Und hier schauen uralte deutsche Kaiser und Könige, Kurfürsten und Pfalzgrafen aus den Fenstern und blinzeln in die pralle Sonne und wohl auch ein wenig nach dem Frauenzimmerbau. Kinder, und wenn mir jetzt einer daherkäm' und würd' mir Sprüche machen von Gotik und Frührenaissance oder gar von köstlicher bengalischer Beleuchtung, ich tät' den Lästerlichen wegen Gottesdienstschändung hinunter befördern bis in den Neckar.«

»Und die Händ' sollen sie lassen vom Wiederaufbau,« setzte Christoph Attermann hinzu. »Wie's der Wahnsinn der Franzosen nach dem Dreißigjährigen Krieg im Raubüberfall zersprengt hat, so muß es erhalten bleiben. Ein Wahrzeichen: auch unter Trümmern sterben wir nicht.«

»Nun ist die Reih' des Gebets an Therese Baumgart.«

»Ich denk' wie ihr,« meinte das Mädchen aus seinem Sinnen, »und ich denk' hinzu: Nur, wo unsere schönsten Gedanken und Erinnerungen aus den zerbrochenen Säulen und Bildwerken das alte Wunder neugestalten und ausschmücken dürfen, wird es ein Märchen. Und Märchen machen glücklich. Ich kann sie lesen, wann ich will, und immer mir das meine daraus lesen.«

»Du hast das Rechte getroffen,« sagte Martin Opterberg. »Unsere Märchenschlösser müssen wir uns selber bauen und selber bevölkern können. Das trifft der gescheiteste Baumeister nicht. Hier zwischen Moos, Efeu und Heckenrosen in den Trümmern liegen, ein Mädchen im Arm, und wortlos, wortlos die versunkene Welt beschwören, bis sich die Zinnen heben, Fahnen von den Zinnen wallen, weiße Frauenarme von den Marmoraltanen winken und goldengerüstete Ritter zu unserem Verstecke sprengen, um uns einzuholen in feierlichem Zuge.«

»Es gibt ein noch schöneres Plätzchen, um hinunterzulauschen in die Vergangenheit. Kommt,« bat Therese Baumgart, »ich führe euch. Hoch oben im Wald ist's gelegen.«

Kaum einen Seitenblick schenkten sie dem Keller mit dem Heidelberger Faß und dem Säuferzwerg Perkeo. »Das ist der Jahrmarktsgroschen für den Herrn Gevatter, dem es derber kommen muß als Elfenzauber,« riefen sie sich lachend zu, stiegen den Waldweg hinauf zur Molkenkur, träumten ein Stündlein mit weitgeöffneten Augen im Grase, als läge unter ihnen die waldgebettete, efeuumsponnene Ruinenwelt auf einem anderen, fremden Stern, und stiegen noch einmal bis zur Höhe des Königstuhles und sahen nichts mehr zu Füßen als ein grünwogendes Wäldermeer.

Im Abendschein ruderten sie auf dem Neckar. Es waren viel Boote draußen mit buntbemützten Studenten und andere mit den schönen Jungmädchen der Stadt. Von hüben und drüben warf man sich Rosen in den Kahn, und als Martin Opterberg einen wilden Bergjauchzer tat, reckten sich die weißen Hälslein nach ihm, und es gab einen Rosenregen über seinem Haupt. Da lachte er aus vollem Herzen und breitete den Spenderinnen die Arme entgegen.

Der letzte Zug erst entführte die Freunde nach Darmstadt, und doch war der Tag nicht ausgeschöpft. Das empfanden sie, weil sie sich wortarm im Abteil gegenüber saßen.

»Morgen hab' ich einen heißen Arbeitstag,« sagte kurz vor der Ankunft Martin Opterberg.

»Ich nicht minder, Martin, und das Theresel kaum anders.«

»Fandst du nicht, Christoph, daß sich die Therese Baumgart verändert hat? Es ist ein Zug Hausbackenes in sie hineingeraten.«

»Ich fand nur einen vertieften Frauenernst, wie ihn die vertieftere Erkenntnis vom Leben mit sich bringt. Als wir noch Buben waren, sagte die Mutter einmal: ›Seht darauf, daß euch immer das richtige Zeitalter zu Gesichte steht.‹ Das war auf den Professor Barthelmeß gemünzt. Du weißt ja, der sich immer auf den goldenen Jugendleichtsinn herausspielte und die Seinen schmarotzen und borgen ließ. Die Therese Baumgart hat heute das Gesicht, das ihr ansteht.«

»Also hab' ich's nicht. Darauf kommt's hinaus.«

»Mir scheint eher, Martin, es macht dir augenblicklich noch keine Freud', es zu haben. Denn auf die Dauer bist du ja viel zu stolz von der Mutter her, unter einer Maske herumzulaufen und nach Lärvchen auszuspähen, statt nach Gesichtern. Nein, nun laß mich meine Standred' zu Ende halten, Bruderherz. Das Theresel kam dir blaß und schmächtig vor. Woran lag's? Es war einer zuviel bei der Partie und hinderte das nähere Zuschauen. Das wollen wir schleunigst ändern.«

»Also mach du mit ihr die Fahrt durch die Bergstraß' und laß mich daheim.«

»Ah,« sagte Christoph Attermann gedehnt. »So ist's gemeint? Dann ist's schon besser, wir drei bleiben noch eine ganze Weil' beisammen.« – –

Nur eine Fahrt machten sie zu dritt von der weinfrohen Bergstraße aus in den sagenrauschenden Odenwald. Als das Sommersemester sich neigte. Fast in der Mitte zwischen Heidelberg und Darmstadt, in dem uralten Städtlein Auerbach, dessen gewaltige Burg Karl der Große baute, trafen sie zusammen. Und gleich begann der Marsch in den grünwogenden Wald.

»Sieh dorthinaus,« bat Christoph Attermann die Gefährtin, »die Ruinen bildeten einmal das sagenhafte Kloster Lorch, in das sie die Leiche Siegfrieds trugen, als er hier im Odenwald erschlagen war. Und viel blutige Geschehnisse aus der Karolingerzeit drücken auf die Mauern.«

»Weshalb heißt es der Odenwald?« fragte die Gefährtin.

»Weil der Wald so öde war. Nichts als Bäume und seltsame Felsenmeere.«

»Nein,« sagte Martin Opterberg, »es war der Odinswald. Hierherum liegt ja auch die Burg Rodenstein, der Horst des ewig nach Wild und Wein jagenden Jägergrafen, von dem wir so manches Lied auf der Kneipe geschmettert haben. Was ist er anders als eine Auferstehung des wilden Jägers, und der wilde Jäger am Sturmhimmel ist der Germanengott Odin oder Wodan. Dies war der wilde Odinswald.«

»Ja,« nickte das Mädchen, »so wird es sein, denn der Berg, den wir ersteigen, führt auch einen Namen wie aus der Welt der Götter und Riesen. Der Melibokus!«

Durch den dunklen Buchenwald arbeiteten sie sich zum Gipfel und stürmten die Stiegen des Turmes hinauf, ohne sich umzuwenden. Einen Aufschrei taten sie wie aus einer Kehle, als sie auf der Plattform die Augen öffneten und nicht wußten, wohin zuerst mit dem Blick: Wälder, Berge, Burgen, Städte – geliebtes Land am Rhein.

Der Taunus hüben in blauer Lieblichkeit, der Spessart drüben in rauher Herbheit.

Dort stieg der Donnersberg auf, Donars Opferstätte, und weiter, weiter der Schwarzwald, das Kinder- und Heimatland, von den Vogesen jenseits des Rheins überragt. Und dicht zu Füßen die blühende Kette der Städtlein und Weiler der sonnigen Bergstraße, die niederglitt in die schier unübersehbare Rheinebene. Und nun zeigten sie sich in fiebernder Freude die Dome und Türme, die wie Schwurfinger aus dem Rheintal ragten, und jeder Name war wie ein tiefes deutsches Glockenläuten: Worms – Speyer – Mainz.

»Laßt uns singen,« bat Christoph Attermann. Aber keiner sang.

Eine jugendliche Schwermut lag auf ihren Gemütern, die nach einer erlösenden Zärtlichkeit verlangte oder einer bannenden Umarmung. Und sie zogen nach stündiger Rast wortlos weiter und hinüber nach dem Felsberg und wortlos und mit schlagenden Herzen durch die ungeheuerliche Öde des Felsenmeeres, aus dem schon die Römer die Quadern zu ihren Bauten holten und Karl der Große die Riesenpfeiler zu seiner Pfalz in Ingelheim.

»Laßt uns eins singen,« bat Christoph Attermann noch einmal.

Da hob Martin Opterberg wie ein Trunkener das Rodenstein-Lied an.

»Und wieder sprach der Rodenstein:
Pelzkappenschwerenot!
Hans Breuning, Stabstrompeter mein,
Bist untreu oder tot?«

Erschrocken blickte Therese Baumgart auf den wild dahersingenden Freund. Der aber hob unbekümmert um die erschrockenen Augen mit Macht die zweite Strophe an:

»Er eilt, bis er gen Darmstadt kam,
Kein Fahnden war geglückt;
Da lacht er, als am schwarzen Lamm
Durchs Fenster er geblickt:

Er lebt noch! ... lebt noch und hebt noch!
Doch frag' mich keiner: wie?
Wie kommt mein alter Flügelmann
In solche Kompanie?!«

»Jawoll! In Darmstadt! Dort sitzt er! Unter den braven Schöppleinschlürfern, die um acht Uhr in die Federn kriechen! Naus da! 'naus aus dem Haus da! O Horn und Sporn und Zorn! O Rodenstein! O Maienwein! Noch bin ich nicht verlor'n! Christoph, daß du's weißt, zum Oktober treten wir ein bei den Pionieren in Mainz, und gefällt's dir in Darmstadt besser, so geh' ich allein!«

»Einstweilen geht's nach Jugenheim und von dort zur Bahn. Der Tag ist zu End'.«

Das war für lange Zeit das letzte Mal, daß sie miteinander wanderten. –

Ein Jahr lang dienten Martin Opterberg und Christoph Attermann bei den Mainzer Pionieren und fuhren den goldenen Rheingau stromauf und stromab. Heiß war der Dienst, heißer der Wein und am heißesten die braunen Mädchenaugen. Aber der Dienst ward geschafft, der Wein vertragen, und nach den Mädchenaugen fragte Christoph Attermann den Freund nicht mehr. Als sie übers Jahr, in der letzten Septemberwoche, das lustige Mainz verließen, hatten sie beide die Offiziersprüfung mit Auszeichnung bestanden. Herr Arnold Opterberg aber war zum Empfang nach Rüdesheim gekommen.

Herr Arnold Opterberg war grau geworden, aber unter dem künstlerisch wuschligen Grauhaar leuchtete weinfroh sein schmales Gesicht.

»Zwei Fliegen schlag' ich hier mit einer Klappe,« rief er den stolzen Buben entgegen, die er vom Schiff holte und auf dem Laufsteg stürmisch umarmte. »Was sag' ich? Zwei? Ein halbes Dutzend fast! Der Professor Barthelmeß ist hier mit Frau und Tochter, und die Weine haben wir geprobt zu Kloster Eberbach, Kiedrich und Eltville, zu Oestrich und Winkel und Geisenheim seit drei Tagen und Nächten! Herr Jesus, welche Tropfen! Der Barthelmeß hat's gut. Der kommt, wo er arbeitet, von den Kirchen in die Keller. Das ist der alte Mönchsweg. Kinder, und heute wollen wir einen Rüdesheimer Abend feiern.«

»Wie geht's der Mutter?«

»Königlich wie immer, Kinder. Aber nun kommt zu den Barthelmeß! Hinein in die Weinlaube!«

Der Professor war ein schwerbeleibter Mann geworden, aber die faltigen Säcklein unter den Augen rührten nicht von Tränen her. Mit dröhnender Stimme begrüßte er die Angekommenen, als sei er der Herr der Weinlaube, und rief seine Damen auf, das Willkommglas darzubringen. Quecksilbern wie vor Jahren kam die immer noch zierliche Frau Hadwiga dem Gebote nach und reichte unter einem Schwall von Worten Christoph Attermann das Glas, während Sabine im schwarzen Gelock stumm das Glas Martin Opterberg bot. Aber die Augen des zigeunerhaft schönen Geschöpfes, das sich wie eine Weide zu dem jäh Erstaunten bog, hefteten sich scheulos, bettelnd und heischend, an den aufflackernden Blick des Mannes.

»Wie alt bist du jetzt, Sabine?«

»Bald Siebzehn.«

»Ei, da hab' ich mich verrannt mit dem ›Du‹.«

»Ich kann's ja auch zu dir sagen.«

Das ging hastig von den Lippen.

Sie saßen dicht beieinander, und der Wein funkelte in den Gläsern und funkelte bald in den Augen. Wenn Martin Opterberg eine Bewegung machte, streifte er das schlanke Mädchenknie, wenn Sabine ihm das Glas hinhielt, streifte sie mit der Fingerspitze seine Hand. Ihre Augen hingen heimlich immerdar an den seinen, aber in der Heimlichkeit, die es ihn fühlen ließ und ihm das Blut durcheinander wirbelte, daß er nur noch das berückende Mädchen spürte und nichts mehr von der zigeunernden Barthelmeßtochter.

Und nun stiegen die Rheinlieder und die Weinlieder und die Liebeslieder im Gefolg zu dem mondscheinhellen Rheingauhimmel, und ein Händedrücken hob an, und die Alten wollten die Jüngsten sein. »Denn dies ist die letzte Zaubernacht am Rhein,« rief Herr Arnold Opterberg, »und wir wollen sie ausschlürfen bis zur Neige, bevor uns der Herbst verjagt!«

Eine Mondscheinfahrt schlug er vor. »Zum seligen Abschluß!« Und alle drängten sie jubelnd ihm nach an den Rhein. Und Arnold Opterberg sprang wie ein Jüngling als erster in den Kahn, stand hochaufgereckt auf der Steuerbank und schwang sein Glas dem Märchenzauber des Rheins zu. Der Arm stand in der Luft. Das Glas schlug klatschend aufs Wasser. Arnold Opterbergs Augen schlossen und öffneten sich. Standen weit auf, als sähen sie ins Unsichtbare. Und der Körper sank hintüber und wurde vom Rhein weggerissen.

»Ein Schlag! Ein Schlag!« schrie Professor Barthelmeß und umklammerte Frau und Tochter.

Das mondscheinhelle Wasser sprühte auf. Ohne eine Sekunde zu zögern, hatten sich Martin Opterberg und Christoph Attermann in die raschfließende Flut geworfen. Ein paar Worte riefen sie sich im Wasser zu. Kurz. Hart. Ihre Körper tauchten nieder. Wer im jungen Brauserhein das Schwimmen erlernt hatte, fürchtete die Strudel nicht. Unter Wasser schwammen sie und tauchten hoch, sicherten und tauchten nieder. Wieder lagen sie auf den Wellen und ruderten schwerfällig weitab an Land, eine Last zwischen sich.

Herr Arnold Opterberg hatte gefunden, was er sich erwünscht hatte: den seligen Abschluß, bevor der Herbst ihn verjagte. – –

Die Leiche lag geborgen. In triefenden Kleidern stand Martin Opterberg im Zimmer seines Gasthofes, mit stieren Augen und kreisenden Gedanken, die um Hilfe riefen. Da öffnete sich die Tür, und ein Mädchen schlüpfte herein und warf sich ihm an die Brust.

»Martin! Martin! Ich mußt' zu dir hin!«

»Du! du!« sagte er mit schlagenden Zähnen und preßte seine kälteschauernden Glieder in die wärmenden Arme. »Das vergesse ich dir nicht. Daß du in der Stund' meiner Not gekommen bist.«

Schweren Schrittes trat Christoph Attermann ein. Sabine Barthelmeß huschte an ihm vorbei und durch die Tür. Ein Schluchzen schüttelte Christoph Attermanns Körper.

»Martin – Martin – nun hat der Rhein beide zu sich geholt – deinen Vater und den meinen.« Und als er Martin Opterbergs qualvoll sich vordrängende Tranen sah, trat er auf ihn zu und wischte ihm so weich wie eine Mutter mit der Hand über die Augen.

*

 


 << zurück weiter >>