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Erstes Buch


1.

Als sie vor dem quadratischen Bau des Konservatoriums stand und zu den in blanker Septembersonne glitzernden Fensterreihen emporsah, wußte sie sich des Wegs nicht zu entsinnen, den sie hierher genommen hatte. Mit keinem Gedanken hatte sie an die Straße gedacht, mit jedem Gedanken nur an das Ziel. Da lag es vor ihr.

Weiß und breit streckten sich die Quadern in ruhiger Gelassenheit übereinander hin, bis sie das flache Dach erreichten. Die Kunst des Architekten hatte es nicht versucht, der Schwesterkunst, der sie dies Haus errichtet, eine offensichtliche Deutung zu geben. Keine steingewordene Musik redete aus den Profilen, kein gemächlich fortschreitendes Andante führte zum sanft sich wiegenden Adagio, und nirgend kicherten aus heimlichen Ecken oder luftig geschwungenen Linien leichtherzige Musikantengeister in den ernsten Tonfall ihrer großen Genossen hinein. Es war ein nüchterner, praktischer Bau.

Aber die Septembersonne lag auf ihm und wischte ihm die Augen und schminkte ihm die Wangen und putzte an seinem Gewand, daß es wie ein weißes, fleckenloses Feiertagskleid erschien, schlicht und erhaben. Und Helga Nuntius schaute aus dunklen Augen, in denen Sehnsucht und bewundernde Verehrung sich eng aneinanderschmiegten, auf das Haus wie auf einen geweihten Tempel …

Die Straße war mit dichtbelaubten Kastanien bestanden und weitete sich zu einem kleinen Platz voller Blumenrabatten und Buschwerk, in das sich ein paar Ruhebänke verstohlen hineindrückten. Vor wenigen Minuten hatte sich ein Herr dort niedergelassen, eine aufgeschossene, langgliedrige Gestalt, der die eigentümlichen, vorsichtig lässigen Bewegungen körperlich großer Menschen anhafteten, die da stets vermeinen, mit Kopf oder Ellbogen an unsichtbare Hindernisse zu rühren. Den hohen Filzhut in den Nacken geschoben, saß er vornübergebeugt, strich mit der aufgestützten Linken mechanisch den kurzgehaltenen Vollbart und sah zu, wie die Rechte den Spazierstock allerlei Figuren in Kies und Sand ziehen ließ. Aus einem Seitenweg tönten Schritte, die sich rasch näherten. Er achtete nicht darauf, sondern fuhr fort, um einen Sonnenkringel, der wie eine Lazerte vor seinen Füßen hin und her schlüpfte, einen kunstvollen Rahmen zu zeichnen.

»Franz, aber Franzl –!!«

Da richtete er sich mit hastigem Ruck auf und sah die beiden jungen Leute, die sich zur Rechten und zur Linken über seine Bank beugten, einen nach dem anderen aus verlegen lachenden Augen an.

»Die Sonne,« sagte er nur. Es fiel ihm im Augenblick nichts anderes ein.

Der zu seiner Rechten zog die Augenbrauen hoch, blickte scharf hin und meinte: »Richtig. In der Tat, sehr richtig. Eh, Marschall, was sagst denn du zu Grubes Entdeckung?«

»Junge, alter Junge,« ermunterte der und rüttelte den Dasitzenden an beiden Schultern. »Laß dich doch von dem Säugling, dem Braun, nicht veralbern. Was weiß denn so 'n prosaischer Mensch von den wackeren Schildbürgern, die die warme Sonne in Mausfallen fingen, um sie in ihre kalten Häuser zu tragen. Ich werde doch deinen Junggesellenwigwam kennen?!«

»Schildbürger? Ich?«

»Na, nun schlag einmal die Augen auf! Müht sich der Franzl, einen einzelnen Sonnenkringel einzufangen, und steht doch Frau Sonne leibhaftig und auf den kleinsten Mädchenfüßen armsweit vor ihm. Singt, Kinder, singt und faltet die Hände – –

Sah ein Knab' ein Röslein stehn – – –«

»Wirst du Ruh' geben? Du bist wohl noch nicht zu Bett gekommen?«

»Ich war in der Nacht im Wald, bei den Elfen. Die haben mich in der Früh mit Morgentau gewaschen. Da bin ich hellsichtig geworden, ihr blinden Hessen. Wahrhaftig –? Habt ihr's jetzt heraus? – Nein, wie sie spannen! Macht die Mäuler zu! Wenn sie sich umdreht, fällt sie in Ohnmacht.«

»Still!« gebot Grube und rückte unbewußt den Hut gerade.

»Sßt!« machte Braun mit ärgerlicher Handbewegung und drückte den Zwicker auf die Nase.

Marschall lachte.

Dann standen die drei, halb vom Gebüsch versteckt, und starrten zu dem Mädchen hinüber, das nicht den schmeichelnden Spätsommertag gewahrte und nicht die Passanten und nicht die Kompanie Füsiliere, die mit Trommeln und Pfeifen die Straße schnitten, das nichts sah als das quadratische weiße Haus, das ihm wie die Vorhalle des Paradieses erschien. Der köstliche kleine Kopf, der so fein modelliert war, als habe ihn der Meister daheim, in einer sonntäglichen Feierstunde, vorgenommen, war ein wenig zur Seite geneigt, daß das brünette Haar die Schulter berührte und das graue Reisehütchen zur Seite rutschte. In dem schlanken Leib war jeder Nerv angespannt, die Hände schlossen sich fest um eine Notenrolle. Und in den groß aufgeschlagenen Augen war ein stiller Heißhunger …

Jetzt tat sie einen zögernden Schritt. Die Kniee drückten sich gegen den blauen Kleiderrock, den rundum eine weiße Borte schmückte. Die feine Linie der Glieder lief schlank an ihm herunter. Dann ging sie geradeswegs durch die Eingangspforte und betrat das kühle Vestibül.

Braun ließ den Kneifer fallen. In seinem hochmütigen, blassen Sängergesicht zuckte es einen Augenblick. »Der Professor wartet,« sagte er kurz, »ich muß hinein. Auf später!«

Ohne eine Antwort abzuwarten, schritt er über den Platz, und seine breite, muskulöse Gestalt verschwand im Torbogen.

»Herr Gott!« sagte Grube nach einer Pause, und die beiden Zurückgebliebenen sahen sich in die Augen.

Da nahm Marschall des Freundes Arm und marschierte singend auf das weiße Haus zu. In seinen hellen Augen saßen der Übermut, die Jugendtorheit und die Lust am Leben, und laut und unbekümmert schwang sich seine Stimme über den Platz:

»Weg mit den Grillen und Sorgen,
Brüder, es lacht ja der Morgen
Uns in der Jugend so schön!
Laßt uns die Becher bekränzen – kränzen,
Laßt bei Gesängen und Tänzen – Tänzen
Uns durch die Pilgerwelt gehn,
Bis uns Zypressen umwehn.«

»Richard, sei gescheit, die Leute kommen ans Fenster. Da schnauzt schon der Hausmeister. In fünf Minuten weiß es der Direktor.«

»Aber es ist doch dein Leiblied, Franzl.«

»Wenn ich das heut' nicht gespürt hätt'.«

»Heut'? – – Ach so, die Sonne. – Na, denn adjüs. Kompositionsstunde, Harmonielehre, was kann der junge Mann mehr verlangen. Grüß die Sonne!«

Plötzlich kam er noch einmal zurückgerannt und umfing den anderen stürmisch. »Wie kann nor 'n Mensch net von Frankfort sei – –!«

»Mach 'nein!« rief der Überrumpelte unwirsch und schüttelte ihn ab. Aber es war eine heimliche Freude in der Unwirschheit. –

Helga Nuntius hatte die Loge des Hausmeisters betreten und ihren Namen genannt. Sie hatte erwartet, in dem Wärter des Konservatoriums eine Art musikalischen Hans Sachs zu finden, nur älter, mit einem feinen, lieben Gesichtchen, auf dem die Mitfreude an der Welt der Töne um ihn her wie eine immerwährende Verklärung lag. Und sie fand einen groben, korpulenten Mann, der seiner Stimme einen polternden Unteroffizierston gab, als stände er hier als Stellvertreter höchster direktorialer Gewalt.

»Ich werde erwartet,« sagte sie und glaubte noch immer, der Mann würde ihre Hand ergreifen und sie im Triumph vor das Lehrerkollegium führen. »Hier ist sie, auf die ihr wartet.«

»Sie werden sogar schon lange erwartet, Fräulein,« verbesserte der Mann scharf. »Soll mich nur wundern, ob man Sie heute überhaupt noch anhören wird. Unpünktlichkeit gibt's hier nicht.«

Er schritt ihr ohne weiteres vorauf, und während sie ihren Fuß leicht machte, um die Heiligkeit des Ortes nicht zu stören, ließ er seine Schritte gewichtig auf den Fliesen erschallen, daß es beängstigend laut an den Wänden widerhallte. Sie wagte nur scheu, den Kopf zu heben und durch das weite Treppenhaus einen Blick nach den oberen Etagen zu senden. Aber das Ohr war offen. Und sie vernahm aus allen Zimmern ein geheimnisvolles Singen und Klingen, ein Studieren und Musizieren, dort die perlenden Läufe einer Klavierpassage, die sich wiederholten und wiederholten, als könnten sie sich nicht genug tun an ihrem spiegelblanken Flusse, dort eine Geige, deren plötzliches Aufschluchzen fast wie eine leidvolle Menschenstimme klang, das lang anhaltende lockende Schmeicheln einer fernen Flöte, und hier und da und überall Gesang, Tonleitern und Triller, Vokalisen von Aprile und Concone, Übungen der Marchesi. Eine wundervoll geschulte Sopranstimme begann die Kanzone des Cherubino aus »Figaros Hochzeit«:

»Ihr, die ihr Triebe des Herzens kennt,
Sprecht, ist es Liebe, was hier so brennt?«

Da blieb Helga Nuntius stehen und lauschte. Ihr Gesichtchen wurde ganz weiß vor innerer Aufregung, und die Augen weiteten sich übernatürlich groß und hatten einen ernsten, starren Glanz.

Liebe, Liebe, ging es ihr durch den Mädchenkopf. Was ist Liebe gegen die Kunst … Kunst, Kunst, sonst will ich nichts. Gott im Himmel, ob ich das je erreiche? So zu singen wie die da drinnen? Und sie wurde ganz kleinmütig.

»Sie sollen eintreten, Fräulein,« rief sie der Hausmeister an und ließ die Tür offen, durch die er soeben dem Direktor seine Meldung gemacht hatte.

Da stand sie in einem langgestreckten, kahlen Raum, dessen Mitte ein schwarzpolierter Konzertflügel einnahm, vor dem sich eine Anzahl Herren und Damen in lautem Gespräch bewegten. Nun verstummte das Gespräch. Alles sah auf sie hin. Dann sagte eine harte, geborstene Stimme: »Donnerwetter …«

Der Direktor, groß, vornehm und schlohweiß, unterdrückte ein Schmunzeln über den unparlamentarischen Ausdruck. Er trat auf sie zu und bot ihr die Hand. »Fräulein Nuntius, wie ich höre.«

Sie nickte befangen, sah ihn stumm an und vergaß fast das Knicksen.

Sonderbare Augen, dachte der alte, lebenskundige Konservatoriumsleiter. Die ganze Gestalt wie ein Jugendtraum, und die Augen ohne alle Jugend.

Dann sagte er laut: »Das Lehrerkollegium unserer Anstalt.« Und er nannte die Namen.

»Na, eine Patschhand können S' mir schon geben, Kleines,« ertönte da wiederum die harte, geborstene Stimme. »Was treibt die Frau Mutter? Hübsch g'sund? Wird Ihnen erzählt haben, daß ich sie auch einmal als Kleines unter der Fuchtel gehabt hab'. Jetzt ist sie ja die große Nuntius.« Es war ein Griesgram in der Stimme, aber ein gemütlicher Griesgram.

Helga Nuntius sah ihm in das vertrocknete, faltenreiche Gesicht, in dem die grauen Bartstoppeln kleine Kolonien gegründet hatten. Sie wußte, sie stand vor ihrem Lehrer. Vor dem Mann, der ihr in den nächsten zwei Jahren das Letzte und Tiefste ihrer Kunst offenbaren sollte, soweit es in der Konservatoriumsausbildung ein Letztes und Tiefstes gibt. Ihre Phantasie hatte ihr sein Bild gezeigt mit einem Jupiterkopf und einer flammenden Stimme. Professor Faller! Mit scheuer Verehrung hatten ihre Gedanken zu ihm die Augen aufgeschlagen wie zu einem Überirdischen. Da stand er, lang und schlotterig, knickte beim Gehen in die Kniee und sprach mit dem heiseren Beiklang des alten Weinkenners.

»Ja, ja, die kleine große Nuntius …«

»Mama hat mir herzliche Grüße aufgetragen,« sagte sie leise.

»So, so. Also denken tut sie doch noch an den Faller? Schön is'. Und merken Sie sich's, Kleines. Es ist was Schönes um die Dankbarkeit.«

Einige der Herren machten es wie der Direktor vor kurzen Augenblicken: sie schmunzelten.

Dann aber hielt es der Leiter der Anstalt an der Zeit, die Zügel der Unterhaltung selbst wieder in die Hand zu nehmen. »Ihre Frau Mutter hat Sie unterrichtet. Seit wie lange?«

»Seit zwei Jahren.«

»Vorher haben Sie keinerlei Gesangunterricht gehabt?«

»Nur theoretisch. Mutter wollte meine Stimme nicht anfassen, bevor ich siebzehn Jahre war.«

»Sehr gescheit. Erst den Körper trainieren. Singen ist keine Spielerei, wie sich die liebe Menschheit immer einbildet. Das greift an wie Ackern und Pflügen, Säen und Ernten.«

»Ein Hundeleben!« knurrte die geborstene Stimme, »bellen und heiser werden.«

»Also neunzehn Jahre zählen Sie, und seit zwei Jahren hatten Sie geregelten Unterricht?« fuhr der Direktor fort. »War Ihre Frau Mutter denn nicht auf Gastspielreisen?«

»Seit dem Tode meines Vaters – –« begann das Mädchen und sah geradeaus.

»Ah – Ihr Vater ist tot?«

»Er verunglückte auf der Jagd. Vor zwei Jahren. Da blieb Mutter daheim. In dem Jagdhaus, das Vater sich gebaut hatte. Sommer und Winter mitten im Kaufunger Wald. Zuerst hat Mutter mich unterrichtet, um – um über den Schmerz hinwegzukommen. Dann sah sie darin einen Ausgleich für die eigene Kunst, die sie nicht mehr ausüben wollte. Und dann – dann kam es über sie, und sie hatte keine Ruhe mehr bei Tag und Nacht, und sie mußte wieder hinaus. – Ich kann das wohl verstehen,« fügte sie ruhig hinzu.

Der Direktor sagte eine Zeitlang nichts. Er blickte sie nur an und studierte sie. Dann fragte er wohlwollend: »Und nun möchten Sie den Rest Ihrer Ausbildung bei uns genießen? Ihre Frau Mutter hat uns das Honorar für einen zweijährigen Kursus eingesandt.«

»Der Impresario, der Mutter abholte, glaubte, daß die Tournee durch England und Amerika solange dauern würde. Vielleicht auch länger.«

»Nun,« meinte der Direktor und winkte einen jungen Korrepetitor an den Flügel, »so wollen wir einmal sehen, was Sie schon gelernt haben. Was haben Sie denn da Schönes in Ihrer Notenrolle? Möchten Sie uns das vorsingen?«

Helga Nuntius nickte. Sie trat an den Flügel, streifte die Umhüllung von den Noten und strich die Blätter glatt. Es sah aus, als ob sie das Papier streichelte. So zart und liebevoll glitt die schmale Mädchenhand darüber hin.

Dann blickte sie auf, und auf den jungen Zügen lag ein feierlicher Ernst. Dieselbe Feierlichkeit, mit der sie in dem nüchternen weißen Bau, auf dem heute die Sonne spielte, einen Tempel gesehen hatte.

»Darf man wissen?« fragte der Direktor.

»Die Erlöserarie aus Händels ›Messias‹,« erwiderte der junge Mann vom Flügel her.

»Hm, hm.«

»Nicht gerade das Leichteste.«

Nun Stille. Das Vorspiel ertönte. Helga Nuntius setzte ein.

»Ich weiß, daß mein Erlöser lebt – –«

Es war eine Inbrunst in ihr, die den Ton erfüllte und die Stimme voller erscheinen ließ, als sie war.

»Und daß er mich einst erweckt –«

Das war ihr Glaube, an dem sie hing, ihr Mädchenglaube, der in der Kunst den Himmel sah, den einzigen, alleinigen im Leben.

»Merkwürdig,« murmelte der Direktor und meinte die Augen des Mädchens, in denen er so wenig Jugend gefunden hatte, und in denen er jetzt so viel Begeisterungsfähigkeit fand. »Sie wird eines Tages viel nachzuholen haben.«

Er wandte sich mit fragendem Gesicht Professor Faller zu, der zusammengeknickt auf der Fensterbank saß und mit vorgeschobenem Kopf horchte. Wie ein altes Schlachtroß aufhorcht, wenn es plötzlich aus der Ferne, dem Leben, Signale vernimmt.

»Sonderbare Stimm',« sagte er leise, als der Direktor sich zu ihm beugte. »Das heißt, die Stimm' ist es nicht, aber der Vortrag. Der Vortrag! Zahl 's Geld zurück, Alter. Gutwillig. Die lernt dir hier nix Gescheit's mehr dazu.«

»Die Stimme sitzt noch nicht überall fest, Faller. Noch nicht ausgeglichen. Sie nimmt die Übergänge willkürlich, wie es ihr mit der Atmung paßt. Da hast du Arbeit vollauf.«

»Ach was. Sie soll die Register ziehen, wie sie mag. Aber den Vortrag soll sie behalten. Ich sag' dir: Schaff das Mädel hinaus aus der Kleinkinderbewahranstalt da, aus der Horde von Einfaltspinseln und Gänsen, die auf ihre Dummheit extra stolz sind, weil der liebe Gott den Einfältigen einmal das Himmelreich versprochen hat! Alter, versündig dich nicht.«

»Ob du sie unterrichten willst, Faller!? Frau Professor Kruse macht mir schon Zeichen.«

»Die soll ihre Dampfnudeln und Klöß' für andere Kehlen präparieren,« knurrte der Griesgram grimmig, stieg vom Fensterbrett, daß ihm die Gelenke knackten, und – lächelte.

»Da! Ob du hinschaust!« Und er zog den Anstaltsleiter vertraulich am Ärmel. »Ein Esel ist der Faller all sein Zeit g'wesen, sonst wär' er ja net hier. Aber so ein Esel, auf seine alten Täg' so ein süß-selig's G'schöpferl laufen zu lassen, die Dummheit traust mir schon gar net zu. Mir ni-icht!«

Der Direktor wandte sich um. Er kannte die Eigenheiten seines besten Lehrers.

»Fräulein Nuntius, es wird Ihnen Freude machen, zu hören, daß Sie aufgenommen sind. Herr Professor Faller wird Sie weiter unterrichten. Er bringt Ihnen großes Vertrauen entgegen. Täuschen Sie es nicht. Und nun seien Sie mir herzlich als Schülerin unseres Konservatoriums willkommen, dem Sie eines Tages Ehre machen sollen.«

Er schüttelte ihr wohlwollend die Hand.

»Morgen beginnen Sie. Herr Professor Faller wird Ihnen noch den Stundenplan geben. Und« – der alte Herr lächelte in sich hinein, als dächte er an vergangene Zeiten – »und: vergessen Sie mir über der Kunst das Jungsein nicht. Manche müssen das auch noch lernen. Wenn sie alt werden, merken sie, daß es das Beste von allem war. Guten Morgen. Guten Morgen, meine Herrschaften!«

»Schön g'red't. Sehr schön sogar,« sagte Faller, als das Kollegium das Zimmer verlassen hatte und er allein mit seiner Schülerin zurückgeblieben war. »Das vom Jungsein nämlich. Das mit dem Stundenplan weniger. Geben S' mir altem Krauter noch einmal die Hand. So! Sehen S', akkurat wie Sie bin ich auch g'wesen – – Jung nämlich und mächtig draufgängerisch, wo ich g'meint hab', es tät' in der Kunst brennen. Und der Meister von Baireuth hat mir mehr als das eine Mal auf die Schulter geklopft, wenn ich den Maulaffen in München den Schwanenritter hab' erstehen lassen, der zu früh Abschied g'nommen hat, oder den Herrn Tannhäuser, der's halt zu spät versucht hat. Kind, Kind, das Leben ist alles. Und wir zwei beide wollen's uns gegenseitig nicht sauer machen. Jetzt gibst mir einen Kuß.«

Sie war gar nicht verwundert über den Schluß. Sie hatte nur das vom »Meister von Baireuth« gehört, und nun sah sie in dem alten, ledergelben Lehrer einen Begnadeten, einen der wenigen Auserwählten, die an der Tafel der Götter gespeist. Als die schmalen Lippen des einstigen Gralsritters ihren jugendweichen Mund berührten, war es ihr wie eine Weihe. Unbewußt hob sie die Arme, und für eine Sekunde lagen ihre Hände auf seiner Schulter …

Sie schritt durch den Korridor dahin. Diesmal nicht scheu und auf den Fußspitzen. Vor jeder Tür blieb sie stehen, als wäre es ihr gutes Recht. Und es war ihr, als ob in all den Räumen die Musik anschwölle und hinausdrängte, um sie zu begrüßen und an ihr emporzusteigen. Einen Atemzug lang war ihr in Wahrheit, als ob eine Wasserflut sie umbrauste und sie in den Strudel zöge. Da überkam sie ein Schwindelgefühl, und sie mußte sich an den Pfeiler des Treppenhauses lehnen.

Der Hausmeister kam herbei. »Gelle, Fräuleinche, des is e Stimmche? Des is der Herr Robert Braun, der steckt sie alle zusamme in die Tasch'. 's wird einer von die ganz Große, für Amerika.«

»Ein Weib sah ich, wonnig und hehr;
Entzückend Bangen zehrt mein Herz.«

Und weiter und wühlender, schwelgend in seiner Not, zog die Liebesklage Siegmunds durch das Haus. Um plötzlich in die Wehr zu springen und nach dem Sieg zu schreien:

»Wälse! Wälse! Wo ist dein Schwert?
Das starke Schwert, das im Sturm ich schwänge,
Bricht mir hervor aus der Brust,
Was wütend das Herz noch hegt?«

Helga Nuntius stand bis in die Lippen bleich am Treppenpfeiler. Nie hatte sie solche Stimme vernommen, eine Stimme, die ins Blut ging. Jetzt, jetzt als Sieglinde hervortreten können und zu ihm hingehen, dem Sänger, und ihm antworten mit der Sehnsucht und Hoffnung, die im Weibe eins geworden:

»Eine Waffe laß mich dir weisen: oh, wenn du sie gewännst!
Den hehrsten Helden dürft' ich dich heißen: dem Stärksten allein ward sie bestimmt.«

Unmerklich glitt sie in ihre Welt der Phantasien hinein, und sie hörte fremde silberne Brunnen rauschen, spürte den Duft fremder farbentrunkener Gärten und sah fremde weiße Tempelhallen, angefüllt mit marmornen Göttern. Da riß die Stimme des Hausmeisters sie heraus, und sie eilte, um dieser geschwätzigen Alltagsstimme zu entgehen, und nun stand sie am Ausgang, und die Septembersonne, die auf der Wacht gelegen hatte, stürzte herbei und warf ihr alles Gold vor die Füße, um ihr zu zeigen, wie schön diese Welt sei. Auch diese Welt.

Der Hausmeister aber, der ihr gefolgt war, machte ein mißglücktes Kompliment und gratulierte der neuen Künstlerin zur Aufnahme in dies weltberühmte Konservatorium, aus dem Leute wie der Herr Braun hervorgingen, und erkundigte sich, ob sie schon eine Wohnung gemietet hätte. »Alsdann, da wär' eine sehr solide Frau zu rekommandieren. Ein Zimmer wie ein Tanzsaal, und eine Verpflegung, die nächstbest' nach dem reichen Rothschild.«

Und er selbst hätte nix davon, weder Prozente noch Liebesgaben. Er vermittelte halt nur, um die Schüler, die vor den anderen über ein paar Groschen verfügten, vor gewissenloser Ausbeutung zu schützen.

Sie dankte. Sie hätte bereits eine Wohnung. In der Bleidenstraße. Und ob er ihr den Weg angeben könne, da sie heute früh nicht auf die Richtung geachtet habe.

Da knurrte der Grobian, er habe mehr zu tun, als den Dienstmann zu spielen, ging in seine Loge und warf die Tür hinter sich ins Schloß.

Noch stand Helga Nuntius im Torbogen und blickte unschlüssig nach allen Himmelsrichtungen aus, als ein langaufgeschossener Herr, von vorgeneigter Haltung, höflich vor ihr den Hut zog. »Sie wollen zur Bleidenstraße, mein Fräulein. Würden Sie mir erlauben, Ihnen Auskunft zu geben? Dem Hausmeister schien es nicht – nun, nicht lohnend genug zu sein.«

Er lächelte sie dabei verständnisvoll an, und im selben Augenblick, als sie ihm in die offenen, von einer verschämten Schwermut leicht beschatteten Augen sah, empfand sie ein starkes sympathisches Band.

»Sie sind sehr freundlich,« sagte sie.

Er lüftete aufs neue seinen Hut und nannte seinen Namen: »Franz Grube.«

Und vertrauensvoll nannte sie dem Manne, der ihr Mitte der Vierzig dünkte, den ihren und schritt neben ihm einher.

»Kennen Sie die alte Mainstadt schon?«

»Ich war noch nie in Frankfurt.«

»Wenn es Sie interessiert, einen kleinen Überblick zu erhalten –? Ich für meine Person versäume nichts und bin selbst auf dem Spaziergang.«

»Kommen wir an der Oper vorbei?«

»Das hatte ich erwartet,« sagte er vergnügt, »und ich habe mir schon erlaubt, den kleinen Umweg zu wählen.« Die Freude, ihre Gedanken richtig erraten zu haben, machte sein bärtiges Gesicht jünger, und er richtete seine langgliedrige Gestalt gerader auf. »Ist das hier nicht eine wundervolle Promenade, mein Fräulein? Die zieht sich nun als Parkstreifen um die ganze Innenstadt herum und stützt sich an ihrem Ausgangs- wie ihrem Endpunkt auf das Mainufer. Das ist das Gelände der alten Festungswälle aus Frankfurts selbstherrlicher Zeit. Na, die ist ja seit dem Jahr 1866 unrettbar dahin, und wir müssen schon mit einem weinenden, aber mehr noch mit einem lachenden Auge sagen: Wir haben einen guten Tausch gemacht. Wie ist jetzt erst die Stadt in Handel und Wandel emporgeblüht. Sie hatte die Renaissance dringend nötig. Von der Überlieferung allein kann man nicht leben, man muß auch selbst was zu überliefern haben.«

»Das ist in der Kunst nicht anders,« flocht sie ein.

»Freilich,« bestätigte er, überrascht, daß ihre Gedanken nicht an der Naturschönheit des Weges hafteten. »Aber das Leben geht vor.«

»Oh, Sie sagen das, weil Sie kein Künstler sind.«

»Nein, ich bin kein Künstler.«

Eine Wegstrecke schritten sie schweigend nebeneinander her. Dann ragte zur Linken eine mächtige altersgraue Warte hinter dem Grün der Bäume auf.

»Der Eschenheimerturm,« bedeutete Grube, als er ihren fragenden Blick gewahrte. »Noch aus mittelalterlicher Zeit. Sehen Sie auf seiner Spitzkappe die durchlöcherte Wetterfahne? Ein elender Wilddieb, den die Frankfurter nach vielen Mühen eingefangen hatten, legte ein Meisterstück ab und schoß eine regelrechte Neun hinein. Das rettete ihm den Hals …«

»Er rettete sich also durch seine Kunst.«

»Gewiß, aber nachdem ihn vorher seine Kunst ins Elend gebracht hatte.«

»Das ist dasselbe,« beharrte sie.

»Es kommt nur darauf an, was dazwischen liegt,« schloß er.

Und weiter und weiter schritten sie über den grünen Gürtel dahin, das Mädchen, das die Kunst wollte, mit dem elastischen Gang der Lebenskraft, und der Mann, der das Leben pries, mit den schweren, lässigen Bewegungen der Menschen, deren Wurzelboden sich merklich lockert. Auf die Blumenbeete, deren Duft die Täuschung hervorrief, als ob es immer noch Frühling wäre, rieselten aus dem Geäst der Linden und Kastanien herbstgefärbte Blätter. Kinder jauchzten beim Spiel, Reiter trabten durch den Sand und ließen die Gäule kurbettieren, wenn wieder und wieder eine glänzend angeschirrte Karosse vorüberglitt, aus der sich die Damen Frankfurts, elegant wie Pariserinnen und andere schön wie Orientalinnen, grüßend neigten. Und es war ein Vogelgesang ringsum, aus dem Buschwerk zu Füßen und den wiegenden Kronen zu Häupten. Eine Stadt des Glücks.

Dann standen sie auf dem Opernplatz, und auf herrlichen Rundbogen und Säulengängen hob sich vor Helgas Augen ein weißer griechischer Renaissancebau.

Mit seltsam starrem Blick schaute sie auf das Gebäude. Und die Mauern öffneten sich und zeigten ihr einen Thron unter immer grünenden Lorbeerbäumen, und eine leise Musik kam herausgezogen und wurde lauter und berauschender und nahm das Mädchen auf und trug es auf brausenden Tonwellen bis auf den Thron. Kühle grüne Lorbeerzweige senkten sich zum Diadem auf ihr Haupt, und zu ihren Füßen lagen heiße rote Rosen, die welkten hin …

Helga Nuntius richtete sich tiefatmend auf. Da haftete ihr Blick, unter dem reliefgeschmückten Giebelfeld der Front, an hohen goldenen Lettern, und sie las, Buchstaben für Buchstaben, mit den Augen und mit der Seele: »Dem Wahren, Schönen, Guten!«

Franz Grube war zurückgetreten und wartete. Sie sah seinen Schatten lang neben sich fallen, und plötzlich, sie wußte nicht wie, gedachte sie der Mär vom getreuen Eckart. Da wandte sie sich schnell nach ihm um und streckte ihm die Hand entgegen. »Ich danke Ihnen, Herr Grube.«

»Wollen wir jetzt weiter gehen?«

»Ja. – – Wenn ich Sie nicht zu sehr bemühe.«

»Ohne Sorge. Ich bringe Sie sicher nach Hause.«

Als sie in die Kathrinenpforte einbogen, glaubte sie, aus der Neuzeit ins Mittelalter hineinzuwandern. Aber das Gassengewirr mit den schiefen Giebelzeilen hatte etwas Heimeliges, Heimatliches. Wie alte Märchen. Und nun wurde es ganz jung und froh in ihr …


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