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»Weshalb kommt er nicht?« fragte Helga Nuntius jede Woche die Freundin, wenn Johanna Grube den Schreibärmel abgestreift hatte und in der Abendstunde plaudernd bei ihr saß. »Glauben Sie, daß er krank ist? Oder – daß er uns vergessen hat?«
»Kennen Sie Richard Marschall so schlecht?«
»Oft,« sagte sie nachdenklich, »mein' ich, ich kenn' ihn. Und oft – –«
»Und oft – sträuben Sie sich gegen Ihre Erkenntnis. Ist es nicht so, kleine Frau?«
»Klein?« lachte Helga und streckte ihre schlanke Gestalt.
»Also groß. Nun geben Sie mir aber auch eine große Antwort. Weshalb vermissen Sie ihn so?«
»Ach, Gott, vermissen? Zeigen Sie mal her! Was haben Sie für einen roten Fragemund! Nein, so einen lieben, dummen Mund!« Und ehe es sich die Freundin versah, war sie ihr um den Hals gefallen, hatte sie abgeküßt und war verschwunden, bevor Johanna Grube sich von ihrem Staunen über die jähen Zärtlichkeitsergüsse erholen konnte.
War das wirklich noch Helga Nuntius?
Die Zärtlichkeitsausbrüche wiederholten sich. Oft kamen sie ganz unvermutet. Mitten in einer Unterhaltung konnte Helga plötzlich abbrechen, mit unsicheren Händen nach dem Kopf der Freundin tasten und ihn an ihre Brust ziehen. Oder sie stand ohne Veranlassung auf, wanderte, eine Melodie vor sich hinsummend, durch die Zimmer und streichelte mit weichen Händen jeden Gegenstand. Es war, als ob ein Liebkosungsbedürfnis in ihr aufgewacht wäre, als ob sie eine Unruhe hätte, ihm nicht Genüge tun zu können. Dann wieder stand sie vor dem Klavier und sang mit voller Stimme ihre Lieblingsarien, besann sich und lief zu Meister Bettermann, um ihm bei der Auswahl der Tapeten behilflich zu sein. Und von hier eilte sie zu Professor Faller und trieb stundenlang mit ihm Tonstudien.
Einmal hatte sie den Weg zu dem verwachsenen Park genommen. Aber die Mauer war zu hoch, sie konnte nicht hinüberblicken, so sehr sie sich auch auf den Zehen hob.
»Ohne ihn ist es nichts,« dachte sie wie ein ungeduldiges Kind. »Weshalb hilft er nicht?«
Dann hatte sie vor sich hin gelacht und war fortgehuscht, als ob man sie auf verbotenen Wegen ertappt hätte.
Aber ob sie schweigend bei den Freunden saß oder trällernd herumging, immer war es, als läge ein heimlich Sonnenkrönchen auf ihrem Haar, in dessen Strahlen sie sich wärmte. Und die Wärme sprang über auf ihre Umgebung und machte sie hellhöriger und hellsichtiger für die eigene Freude, und keiner wußte, wer jünger sei, er oder die andere.
Wenn man sie fragte, lachte sie.
»Ich muß Richard Marschall vertreten. Bis er wiederkommt, müssen wir es alle können.«
»Was denn? Was müssen wir können?«
»Sein Lebenslied,« sagte sie wichtig.
»Was ist denn das für ein Kunstwerk?«
»Ach,« erwiderte sie und blickte in die blaue Ferne, »das ist kein Kunstwerk. Das ist das Patengeschenk des lieben Gottes, das mancher, der nachher die Frau Kunst zur Patin wählte, als überflüssig vergaß. Und mit ihm vergaß er die Mutter, die allein selig machende Mutter Erde. Denn wir sind Menschen …«
»Kinder,« flüsterte Professor Faller, »seid's stad. Wir haben eine Philosophin im Haus.«
»Einen mokanten alten Herrn haben wir im Haus,« rief Helga und hielt ihm den Mund zu. –
»Weshalb kommt er nicht?« fragte sie nach einigen Tagen wieder. »Jetzt sind es schon zwei Monate.«
»Weil er will, daß –« und Johanna Grube hielt einen Brief hoch.
»Daß – –?« drängte Helga.
»Daß Sie kommen.«
»Ich – –?« entgegnete sie langsam und ließ die Arme sinken. »Das geht doch nicht an.«
»Was denkt sich nun wieder Ihr krauses Köpfchen. Er will Sie doch nicht als Gast, das Theater will Sie als Gast.«
»Das Theater –?« wiederholte sie mechanisch.
»Liebe Helga, Sie dürfen unserem Freunde nicht zürnen. Er hat sicher so viel hergedacht, wie wir an ihn.«
»Wie wir an ihn –« sprach sie nach.
»Aber welche Arbeit hat er in diesen beiden Monaten zu bewältigen gehabt. Der Entschluß des Fürsten, die Festspiele zu veranstalten, ist so plötzlich gekommen, daß Richard Kopf und Hände voll Sorgen hatte. Er mußte im Auftrage der Intendanz die Engagements treffen, er mußte Reisen unternehmen und manche Bühnensterne persönlich aufsuchen, um sie in letzter Stunde zu gewinnen, er mußte Absagen durch die Gewinnung neuer Kräfte wett machen. Und zu allem dem mußte er sein Orchester auf eine unerreichte mustergültige Höhe bringen. Wie häufig, wenn ihm abends die Stirn brannte, wird er sich ein ruhsames Plätzchen gewünscht haben.«
»Und ich – –?«
»Sie? Wie weit Sie dabei in Betracht kommen, meinen Sie?«
»Ja, das mein' ich,« sagte sie hastig.
Und Johanna Grube sprach so ruhig weiter, als ob auch sie an keine andere Auslegung gedacht hätte.
»Sie sollen seine Hadwiga singen, Helga. Sie wissen ja, daß der Fürst, um Richard zu ehren, die Oper in den Berlioz-Zyklus eingeschoben hat. Nun ehren Sie ihn auch.«
»Ich soll wieder – auf die Bühne?«
»Ängstigt Sie das? Das ist doch kein Vergleich zu früher. Das ist doch jetzt Lebensfreude, wenn Sie dort oben stehen, die Freude, den Menschen dort unten zeigen zu können, welche Schönheiten das Leben hat, und daß die Kunst die Blüte ist. Das, glaubte ich, würde heute Ihre Empfindung sein, wenn Sie die Bühne wieder beträten.«
»Ja,« sagte sie mit einem tiefen Atemzug.
»Also Sie werden es tun? Sie werden hinreisen?«
Und sie erwiderte mit einem heimlichen Lächeln: »Ich muß ihm doch beweisen, daß der Lehrling nachgerade zur Gesellenprüfung reif ist.«
Da gab Johanna Grube ihr zwei Briefe, die für sie angekommen waren. »Ich hätte sie sonst zurückgehen lassen. ›Adressatin hält sich noch immer in unbekannten Fernen auf.‹«
Helga nahm sie. Doch bevor sie sie öffnete, legte sie der Freundin die Hand unters Kinn und zwang sie, sie anzusehen.
»Weshalb – freuen Sie sich – zuweilen so – –?«
»Weil – weil –« stammelte Johanna Grube, »weil ich zuweilen ein ganz unverständliches Frauenzimmer bin.« Und sie machte sich los und eilte in ihr Kontor.
Helga war tief errötet.
»Nein, nein,« sagte sie, »ich irre mich. Das – und so lieb zu mir zu sein – –. Das ist nicht möglich.«
Der erste Brief war von der Generalintendanz des Hoftheaters. Frau Helga Nuntius wurde in den schmeichelhaftesten Ausdrücken gebeten, den Festspielen, die zu Anfang August in der Residenz stattfinden würden, insoweit ihre gütige Mitwirkung leihen zu wollen, als sie sich bereit erklären möchte, die Titelrolle in Marschalls »Hadwiga« zu übernehmen und im Laufe der nächsten Woche zu den Proben einzutreffen. Es folgten die notwendigen geschäftlichen Erklärungen.
Der geschraubte Kanzleistil kam ihr zum ersten Male wie ein kleines freudiges Dichtwerk vor.
Sie nahm den zweiten Brief und las. Er war von Richard Marschall.
»Wie kurz,« sagte sie enttäuscht. Und deshalb las sie ihn zweimal.
»Meine liebe und verehrte Frau Helga! Richard Marschall als Geschäftsmann. Das ist eine neue Nüance. Richard Marschall als Manager, als Impresario. Wollen Sie sich dem einmal anvertrauen? Ich habe die Empfindung, als könnten Sie es eher als dem Brückenbauer gleichen Namens, der sich freventlich den Meistertitel beigelegt, während er selbst bescheiden von seinem Lehrling hätte lernen sollen. Denn dessen Brücken schwingen sich bereits hoch über die des sogenannten Meisters hinweg. Aber als Impresario! Frau Helga, da stehe ich meinen Mann! Sie ahnen nicht, welche Qualitäten der Mensch in sich entdeckt, wenn er sich von der Gefühlsseite auf die Geschäftsseite dreht und in dunkler Kammer schamlos, aber wohlgefällig seinen Egoismus paradieren läßt. Es sieht ja keiner. Und bei Licht sind wir wieder Gentlemen aus purster Liebe zur Kunst. Frau Helga, ich möchte ein Geschäft machen. Ich möchte mit meiner ›Hadwiga‹ ein volles Haus gewinnen und ein Triumphgeheul des Publikums mit dem des Kassierers als Oberstimme. Beides kann nur sein, wenn Sie meinen Impresariofähigkeiten trauen und herkommen. Vor den Leuten können wir ja tun, als ob wir das Gold Perus als Blech erkannt hätten. Alles für die Kunst! Nur um die hehre Festspielstimmung nicht an die gemeine Erde zu erinnern! Aber heimlich blinzeln wir uns zu … Kommen Sie, Frau Helga. Ich habe Sie nötig.
Ihr ergebener – Brandschatzer.«
»Soll ich nun lachen oder weinen?« dachte sie.
»Brandschatzer – – –!« Und sie buchstabierte das Wort und zerlegte es in Silben. »Es kommt etwas wie ›Schatz‹ darin vor.« Und dann hatte sie sich entschlossen, ob sie lachen oder weinen sollte. Wie ein ganz, ganz junges Mädchen – –.
»Es brennt, es brennt!«
Und mit ganz leiser Stimme wiederholte sie den Schlußsatz.
»Ich habe Sie nötig –.«
»Und ich –? Als ich ohne ihn in den Park schauen wollte! In das blühende Paradiesgärtchen …«
Tagaus, tagein war sie bei Faller. Ob er wollte oder nicht, ob er behauptete, er müsse den Schmelz seiner Tenorstimme schonen, die eine baritonale Färbung nicht zuließe, oder ob er schwur, bei solch heißem Liebeswerben verlören seine »Erinnerungen«, und er garantiere für gar nichts: er mußte bei dem erneuten Studium der Oper, dem sich Helga mit flammendem Eifer hingab, die Stichworte des Partners markieren und die Duette von Anfang bis zu Ende mitsingen. Das waren sonderbare Konzerte in der Mansardenwohnung des grauen Hauses. Blühend und schwellend drang die jugendliche Frauenstimme vorwärts, und tastend kam ihr die brüchige Stimme des Alten entgegen, um sich an der Schönheit und Lebenskraft der Jugend zu entzünden, bis der Unterschied der Jahre versank und nur die Begeisterung blieb. Da nahm der ausgediente Kriegsgaul mit der Remonte die Hürden.
*
Berlioz' »Trojaner« waren über die Bühne gegangen. Ein Elitepublikum hatte sich zusammengefunden, um an dem seltenen Genuß teilzunehmen. An jedem Abend saß Helga Nuntius in der kleinen Balkonloge des ersten Ranges, den Blick in zitternder Erregung auf den Dirigenten gerichtet. Sie hatte das Lampenfieber für den Freund. Wenn er sich, bevor er den Stab hob, umwandte, um einen Blick über das Publikum zu werfen, blieb sein Auge sekundenlang an ihrem hangen. Elektrische Spannung war in der Luft. Dann hätte sie ihm beispringen mögen in irgend einer eingebildeten Not. Bis er den Arm über das Orchester reckte und einem temperamentvollen Feldherrn gleich seine Scharen zum Sturm, zum Sieg, auf die Schanzen führte. In sein Haar flammten die Rampenlichter hinein, und sie sah in dem Dunkel des Orchesters nur immer die Lohe. Da war es ihr, als hätte sie ihre Hände hineinlegen müssen, kühle, liebevolle Hände. »Ich bin bei dir –«
Und nun stand sie selbst auf der Bühne, seine Hadwiga.
Die Fürstenloge war gefüllt, das Theater bis in den letzten Winkel besetzt. Und mitten unter den fremden Menschen saß Johanna Grube, ohne Unruhe, mit gläubigen Augen, als säße sie in der Kirche, und sie hatte die Hände gefaltet. »Meine beiden Lieblinge«, sang es in ihrem Herzen.
Richard Marschall ging über die Bühne. An einer Kulisse traf er, die er suchte.
»Ich mußte Sie vorher sehen,« sagte er. »Wie fühlen Sie sich?«
»Ich kann es Ihnen nicht erklären. Als ob ich auf eine Wiese hinaustreten sollte, und überall läge die Sonne und beschiene festlich gekleidete Menschen mit heiteren Mienen. Das dank' ich Ihnen.«
»Mir?« fragte er zurück. »Das liegt an Ihnen.«
»Wir wollen uns doch keine Komplimente machen. Wir beide doch nicht. Sehen Sie, da ist jetzt so viel Lebenslust und Lebensempfindung in mir aufgespeichert, daß es mich ordentlich drängt, den Leuten davon mitzuteilen. ›Sehet und schmecket, wie freundlich der Herr ist!‹ Das steht in der Bibel. Seit Sie mich vom Walde holten, versteh' ich's. Und nun erst ist mir meine Kunst eine Mission geworden.«
»Ja,« sagte er, »man muß das Leben fest unter den Füßen spüren, wenn man von ihm singen und sagen soll.«
»Ich spür's, ich spür's. Deshalb dank' ich Ihnen ja, für beides. Geben Sie mir schnell Ihre Hände. So, das tut gut. Es klingelt. Taktstock hoch! Adieu, lieber Freund.«
»Und Rosen oder Wunden – trag' heute ich nach Haus,«
summte Richard Marschall, als er, den Arm erhoben, vom hohen Dirigentenpult aus blitzenden Augen seine Musikerschar überblickte. Ein schnelles Lächeln über Geiger und Bläser hin, ein kurzes Neigen des Kopfes – und durch das Haus weinte und lachte, kämpfte und siegte die Mär von Hadwiga mit den Stimmen der Musik. Die Ouvertüre hatte begonnen.
Und Helga Nuntius schritt über eine Wiese, und wo sie stand, lag die Sonne um sie her, und die Menschen fühlten die Sonne. Das war die große, bezwingende Keuschheit der Kunst, die selbst in den Armen des stürmisch Werbenden rein bleibt wie eine selig lachende Frau. Und es wurde Feiertag …
Johanna Grube empfand sie fast körperlich, die frohen Schauer des Festtages. Kein Ton ging ihr verloren und keine Bewegung. Immer wieder mit demselben Blick umfaßte sie Richard Marschall und Helga Nuntius. Gesundheit, Fröhlichkeit, Schönheit, die die Kunst durchstrahlte und sich, rückwirkend, von der Kunst durchstrahlen ließ. Ein weißes Haus tauchte vor ihr auf, das lag in einem blühenden Garten. Und Haus und Garten waren voll von dem Jubel großer und kleiner Menschen. Und als sie einen Vorübergehenden fragte, sagte er ihr zur Antwort: »Hier haben Leben und Kunst eine Musterehe geschlossen, und die Kinder haben den hohen Sinn der Kunst und das siegreiche Lachen des Lebens.« Da nickte sie, denn sie verstand ihn wohl, und sie spürte, wie durch ihre Schwerblütigkeit ein feines und rasches goldenes Bächlein rieselte.
Und oben auf der Bühne standen die beiden vor dem brausenden Beifall des Publikums. Und als der Vorhang endlich drunten blieb, faßte Marschall seine Hadwiga mit beiden Händen um die Taille und stieß hervor: »Herrgott, bis in die Soffitten möcht' ich Sie werfen. Da gehören Sie hin. In den Himmel.« Und sie, die Hände auf seinen Schultern, stieß nicht minder heftig hervor: »Nein, nein, ich will auf der Erde bleiben. Das ist ja alles so schön!« – –
Im Hotel fand sie eine Depesche vor. Aber bevor sie sie las, drängte sie sich wortlos in Johanna Grubes Arme. Und Johanna Grube sagte: »Ich möchte Glück wünschen.«
Die Depesche hatte der Buchhalter aus dem Grubeshof gesandt. »Heute abend dringlicher Brief von Rechtsanwalt für Frau Nuntius eingelaufen.«
Mit glanzlosen Augen starrte Frau Helga auf das Papier. Daheim – wartete das Schicksal.
»Ich fahre noch diese Nacht. Um drei Uhr kommt der Schnellzug durch. Um halb Sechs kann ich in Frankfurt sein.«
»Ich fahre mit Ihnen.« Johanna Grubes Hände zitterten leicht, als sie die Depesche nahm und wieder zusammenfaltete.
Richard Marschall schickte seine Karte hinauf. Und dann saßen sie in einem kleinen Salon zusammen, und jeder litt um den anderen. Bis sie zur Bahn fahren konnten.
Es war ein hastiger Abschied, und man schaute sich nicht in die Augen.
Der Zug eilte durch die Nacht. Helga saß am Fenster und beobachtete schweigend die Dämmerstreifen, die sich langsam in bunten Tinten lösten. Wogende Felder, durch die der Frühwind ging, rauschende Wälder, die mit langenden Armen ihr Gezweig nach ihr streckten, flogen an ihr vorüber. Und plötzlich packte sie die Angst: Du sitzest wieder im Eilzug! Wie ein Alb würgte es sie. Sie hätte schreien mögen: »Anhalten, anhalten, ich will aussteigen!« aber der Alb hielt fest, und der Zug eilte weiter. Dann kam Frankfurt.
»Jetzt werde ich wissen, ob ich lebe oder sterbe,« sagte Helga Nuntius. Durch das runde Fenster, an dem sie mit Franz Grube gesessen hatte, fiel die Sonne. Da öffnete sie mit ganz ruhigen Händen den Briefumschlag. »Als ich die Hadwiga zum ersten Male sang,« ging es ihr dabei durch den Kopf, »wollte ich die Freiheit. Und als ich die Hadwiga zum zweiten Male sang –«
Eine Erschütterung durchrüttelte ihren Körper. Sie griff nach der Brust. Und dann kam ein einziger Laut – –
»Frei – –!«
Johanna Grube hatte sie in einen Sessel gedrückt und kniete vor ihr und streichelte ihr Gesicht und sprach tausend Worte.
»Helga, Frau Helga, wachen Sie auf! Hören Sie denn nicht, wie alles um Sie her singt? So horchen Sie doch! Kennen Sie denn die Weise nicht? Liebste, Liebste, tauschen Sie Ihre Freiheit ein für dies Lied!«
Da kam sie zu sich und hörte Johanna sprechen.
»Was ist das nur, von dem Sie sprechen –?«
»Von der Lebensfreude, Frau Helga. Von der Ihren und Richards.«
»Und – Richards? Ach, ich mit meiner späten Zärtlichkeit –«
»Aber sie ist gekommen. Spät oder früh.«
»Mit meiner späten Zärtlichkeit – –« wiederholte sie. »Was weiß er davon?«
»Frau Helga,« sagte Johanna Grube und erhob sich, »das ist eine Sünde.«
»Ach, Sie, Sie! Verstehen Sie das denn nicht? Ich hab' sie ihm ja gezeigt. Ich kann mich doch nicht anbieten. Das kann ich doch nicht.«
»Wir Frauen,« sagte Johanna Grube ernst, »können so viel, wenn wir lieben.«
»Das nicht! Das nicht! Ich will ihm ja Antwort stehen, wenn er mich fragt.«
»Er hat Sie schon einmal gefragt. Und er hat daran getragen. Jetzt ist die Reihe an Ihnen. Nehmen Sie ihm die Last ab, und wenn es Sie ein Opfer kostet, so wird es erst recht ein Freudenopfer werden.«
»Danach,« sagte Johanna Grube, »fragt die Liebe nicht. Sie denkt nur an die Möglichkeit, dem Geliebten ein Glück zu bringen. Verhüllen Sie nicht Ihre Augen, Frau Helga. Denn ich, ich denke nur an die Möglichkeit. Denn ich liebe Richard Marschall.«
Die Sitzende war aufgefahren. Sie starrte der Sprecherin ins Gesicht. Und dann löste sich ein Krampf in ihrer Brust, und sie schrie verzweifelt: »Nein, nein!«
»Ich liebe Richard Marschall,« sagte Johanna Grube noch einmal. »Einst liebte ich ihn, wie Sie ihn lieben. Dann habe ich meine Liebe gewandelt, um seinetwillen und um Ihretwillen, Frau Helga. Ich sah, wo sein Glück wohnte, und bin zurückgetreten, ohne zu kämpfen, Frau Helga. Denn wir Frauen vermögen zu kämpfen, wenn wir es auch nicht eingestehen. Er war mein Freund von Jugend auf. Wenn ich hätte kämpfen wollen, Frau Helga, ich hätte gesiegt. Und wenn ich durch sein Mitleid gesiegt hätte, auch das Mitleid hätte ich genommen und Tag und Nacht daran gearbeitet, eine wärmere Flamme zu schaffen. Aber da kam die Möglichkeit zurück, ihn noch viel glücklicher zu machen. Und diese Möglichkeit hätte ich nicht aufgreifen sollen? Da kamen Sie, Frau Helga. Und alle meine Liebe hatte nur noch ein Ziel, mütterliche Liebe zu werden, für ihn und für Sie. Denn Sie beide wurden mir eins. Frau Helga, wenn von Opfern gesprochen wird, ich habe ein Opfer gebracht. Und wer ein Opfer gebracht hat, der hat doch das Recht, zu wissen, für was er es gebracht hat. Und nun geben Sie mir Antwort.«
Aber kein Laut kam über die Lippen der Gefragten. Alles Leben schien aus ihr gewichen.
Da ging Johanna Grube auf sie zu und schloß sie fest in die Arme.
»Willst du meine Schwester werden? Ich brauch' etwas zum Liebhaben.«
»Du liebst ihn, du liebst ja ihn – –!«
»Nein,« sagte sie lächelnd, »das ist lange gewesen. Jetzt liebe ich dich in ihm.«
»Johanna!«
»Quäl dich nicht. Es ist so.«
Da nahm Helga mit hastiger Bewegung den Kopf der Freundin zwischen ihre kalten Hände.
»Du – du! Ich hätte ja auch nichts mehr gehabt.«
»Hast du ihn so lieb?«
»Horch!« sagte sie, »jetzt – jetzt höre ich auch das Singen.« Und dann rief sie statt aller Antwort laut seinen Namen in den Morgen. »Richard!«
Das klang, wie nur ein Weib zu rufen vermag. Helga Nuntius stand auf der selbstgebauten Brücke und rief.
»Er wird dich hören und wird kommen.«
»Wann – wann?«
»Wirst du es ihm sagen, wenn er hier sein wird?«
»Alles, alles. Das ist doch kein Opfer, das ist doch eine Freude!«
»Jetzt,« meinte Johanna Grube, »glaube ich auch, daß du die Melodien hörst. Das ist ein Lied, das vergißt sich nicht. Wenn ihr beisammen seid, denkt daran, daß ich das Echo habe.«
Durch das offene Fenster strömte die Sommerluft. Goldstäubchen tanzten darin wie Sonnensamen. Unter dem Dachgiebel des Bettermannschen Neubaues lugte ein vergnügtes altes Kindergesicht hervor.
»Scheene gute Morje!« rief Meister Johann und schwenkte die Mütze. »Alles klar zum Gefecht. Iwwermorje wird eingeweiht! Soll ich's dem Herrn Marschall schreiwe?«
»Ich werd's schon besorgen!« rief Helga durch die hohle Hand zurück, und der Meister schrie: »Hurra,« zum Zeichen, daß ihm das sehr angenehm sei.
»Nun können wir doch nicht mehr schlafen gehen,« sagte Helga, und sie hatte bettelnde Augen.
Da gingen die beiden Frauen Arm in Arm hinaus in den Sommermorgen.