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Der alte Pfarrherr hatte am Nachmittag seinen Sohn zum Eppsteiner Bahnhof hinausbegleitet.
»Ich bin so rüstig wie du. Zwei Stunden Marsch machen mir nicht das Geringste aus. Wenn man vierzig Jahre Landpfarrer gewesen ist, läuft man in den Sielen, ohne daß man es weiß.«
»Vater, ich hab' da über etwas nachgedacht –«
»Ja, mein Junge, mir geht seit dieser Nacht auch immer etwas im Kopf herum. Ich möcht' es dir schon sagen.«
»Du hast den Vortritt.«
»Na, dann ohne Umschweife. Was meinst du, wenn ich mich zu Ostern pensionieren ließe?«
»Bravo! Ganz meine Ansicht. Du nimmst mir das Wort vom Mund.«
»So? Das freut mich. Dann wird es mir einigermaßen leichter, mit meinen leichtfertigen Plänen herauszurücken. Denn – erschrick nicht – ich möchte die paar Jahre, die ich bestenfalls noch vor mir habe, gern in der Stadt zubringen, wo das Leben etwas stärker pulst. Sieh mal,« fuhr er fort, als der Sohn ihn unterbrechen wollte, »unser Herrgott kann da nichts wider haben. Nachdem ich die langen Jahre nichts als sein streitbarer Hirte gewesen bin, wird er mir wohl verstatten, die kurze Spanne mit euch Mensch zu sein, im Sinne der Welt. Ich denke, meine Antezedentien werden zu einem Ausgleich schon reichen.«
»Versteh' ich recht, Vater? Du willst übersiedeln?«
»Ich möchte, bevor ich sterbe, gern etwas von der Lebensaufgabe meines Sohnes sehen. Nicht aus Pflichtgefühl – du tust deine Pflicht allein – sondern, nun ja: aus der Blutsverwandtschaft heraus. Ich möchte in eure Welt hineingucken, mich darin herumführen lassen und – mit ein bißchen Eitelkeit auf meine Kinder sehen, die dort mit hellen Augen auf ihrem Posten stehen. Und, um mich nicht besser zu machen als ich bin, ich möchte auch gern einmal wieder etwas von eurer Oper und euren Konzerten hören. Ich hab' die ganze Nacht hindurch eine wahre Kindersehnsucht nach dem Leben gehabt.«
Der alte breitschultrige Herr blickte verlegen von der Seite auf den Sohn.
»Richard, würd' es dir keine Unbequemlichkeiten verursachen, wenn ich – sagen wir: in derselben Straße mit dir wohnte?«
»Mit mir in demselben Haus. Sonst tu' ich's nicht.«
»Schön. Eine Etage höher oder tiefer als du. Meine Wohnung muß ich für mich allein haben.«
»Das sollst du. Und nun laß dir mal recht herzlich danken. Siehst du, wenn wir auch verschiedene Wege gegangen sind und oft verschiedener Meinung gewesen sind – daß wir im Grunde die Wanderungen doch immer miteinander gemacht haben, das verspür' ich heute wieder.«
Und der Alte erwiderte: »Wenn du selbst einmal ein Kind hast, und es nimmt ganz andere Bahnen als du, wirst du das noch stärker spüren. Der Vater läuft im geheimen doch immer hinterher.«
Auf dem Bahnhof umarmten sie sich kräftig.
»Daß du mir nicht ohne die Schwiegertochter heimkommst!«
»Wenn sie nun gar nicht an mich denkt?«
»Was? Das seid ihr mir jetzt schuldig.«
Dann eilte der Zug gen Frankfurt. – – Johanna Grube erwartete den Freund in der Bahnhofshalle, und Richard Marschall blickte sich um, als vermißte er etwas.
»Sie wollte nicht mitkommen,« sagte Johanna Grube, »sie hatte den absonderlichen Einfall, spazieren zu gehen.«
»Wissen Sie, wohin sie gegangen ist, Johanna?«
»Hinauf zu dem alten Park am Öderweg.«
»Und – und sie hat mir nichts bestellen lassen?«
»Doch. Das gerade sollte ich Ihnen sagen.«
»Es ist jetzt sechs Uhr. Wenn wir pünktlich bei Bettermanns sein sollen –«
»Ich war schon drüben und habe mitgeteilt, daß Sie nicht vor neun Uhr dort sein könnten. War das recht so?«
»Johanna, das sind drei Stunden. In drei Stunden kann man kein Haus aufbauen, aber zur soliden Grundsteinlegung langt's.«
»Es wäre schön,« meinte sie lächelnd, »wenn wir heute abend eine doppelte Feier begehen könnten. Meister Bettermann würde es für ein gutes Omen halten, wenn sich an seine Hauseinweihung gleich eine Grundsteinlegung knüpfte.«
»Ach, Johanna, was tät' ich nicht alles Meister Bettermann zuliebe!«
»Jetzt werde ich Sie allein lassen,« sagte Johanna Grube, als sie die Haltestelle der Straßenbahn erreicht hatten. »Dort kommt der Wagen zum Öderweg. Schnell, springen Sie auf. Gott befohlen!«
Dann ging sie, ihm nachwinkend, elastischen Schrittes ihrer Wohnung zu, und alles war hell und frei in ihr, und ihre Gedanken beschäftigten sich nur mit dem Glück der beiden Menschen, auf die sie ihre Liebe verteilt hatte, um ihre Liebe nicht zu verlieren.
Helga Nuntius stand an der Parkmauer, als Richard Marschall von der Lersnerstraße herüberkam. Aber sie schaute nicht in den Garten, sie schaute ihm entgegen.
»Richard – –!«
Er griff nach ihren Händen und hielt sie fest, bis sich ihr fliegender Puls beruhigt hatte.
»Frau Helga …«
»Da geb' ich Ihnen ein Stelldichein,« und ihr Blick irrte scheu an ihm vorüber in den Park. Der lag in harrender Sommerstille.
»Wie lieb mir dieser Platz ist,« antwortete er, »wie eine heimliche Wiege des Lebens.«
Jetzt muß ich sprechen, dachte sie, und nun finde ich nicht ein einziges Wort.
Da kam er ihr zur Hilfe.
»Wollen wir ein Stück in die Felder gehen? Die Straße ist heute so laut.«
»Ich möchte es gern. Aber – wir werden erwartet?«
»Die Feldeinsamkeit wartet nicht minder.«
Wortlos gingen sie vorwärts und bogen in die Feldmarken ein. Der rote Mohn brannte in dem gelben Getreide. Da hatten sie beide dasselbe Bild, und ihre Blicke begegneten sich.
»Entsinnen Sie sich, wie wir zu Ihrem Vater kamen? Ich hatte Haar und Kleid mit rotem Mohn besteckt und war ganz erschrocken, als ich seinen großen Blick auf mir fühlte. Er hat sehr strenge Ansichten, Ihr Vater, nicht wahr, Richard?«
Da dachte Richard Marschall an die letzte Nacht und weiter an den Weg zum Eppsteiner Bahnhof.
»Die Ansichten meines Vaters sind jetzt auch die meinen.«
»O – –,« machte sie fassungslos.
Er blickte sie überrascht an. Und dann sagte er lachend: »Oder besser: mein Vater denkt jetzt wie ich. So oder so! Es bleibt in der Familie.«
»Gott sei Dank!« kam es unwillkürlich über ihre Lippen.
»Weil ich mich sonst – gefürchtet hätte, Sie – etwas – zu fragen, Richard.«
»Also fragen Sie, Frau Helga.«
»Nein, nein, jetzt nicht, später.« Und sie ging schnell vorauf auf dem engen Feldrain.
»Sie tragen ein weißes Kleid wie damals, als wir durch den Taunus wanderten,« sagte er nach einer Pause, und sein Auge umfaßte die geliebte, mädchenhaft schlanke Gestalt.
»Das muß ein Zufall sein,« erwiderte sie schnell.
»O, Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen.«
»Nein, ich entschuldige mich auch nicht.«
»Also ist es kein Zufall?«
»Nein.«
Da begann er, allen Mohn zu pflücken, der seinen Händen erreichbar war, und sie mußte anhalten und sich Kleid und Haar damit bestecken.
»Ich will Sie haben, wie Sie damals waren, Frau Helga,« und er bog eine widerspenstige Blume in ihrem Haar zurecht. »Dann ist mir, als läge zwischen dem Damals und dem Heut gar kein Zwischenraum von sechs Jahren, sondern wir nähmen das Leben wieder auf, wo wir es damals verlassen haben.«
Heiß stieg es ihr unter seinen Händen in die Wangen. Sie bewegte die Lippen, aber die Worte wollten nicht. Und Richard Marschall tat, als merkte er nicht ihr Bemühen.
»Richard!«
»Hat – hat Ihr Herr Vater sich meiner erinnert?«
»O, wie eitel!« lachte er belustigt.
»Es ist keine Eitelkeit,« sagte sie, und ihre Augen blickten nach innen, »aber ich möchte es wissen.«
»Er hat mehr von Ihnen gesprochen als von mir. In dieser Nacht trank er Ihr Wohl, und noch auf dem Bahnhof trug er mir Grüße auf.«
»Und das – das mit der Scheidung – weiß er?«
»Er trug mir seine Grüße auf,« wiederholte Richard Marschall.
»Und trank mein Wohl –,« meinte sie leise und schloß eine Sekunde die Augen. »Ich glaube, das war das Schönste.«
Sie schritt wieder vorauf, bis der Feldrain sich verbreiterte und ihnen beiden Platz ließ.
»Richard –«
»Frau Helga?«
»Das Urteil –«
»Das Urteil ist erfolgt?«
»Ja, nun ist es erfolgt. Seit vorgestern bin ich frei!«
Dann wurde es ganz still zwischen ihnen.
Kommt er mir nicht zu Hilfe? dachte sie, und ihr Herz schlug so laut, daß sie glaubte, der andere müsse es hören. Da ging sie nur umso schneller.
Ist das alles, was sie mir zu sagen hat? dachte er erblassend und hielt Schritt. Weshalb spricht sie nicht weiter? Weshalb ist es hier so still? Aber auch ihm kam kein Wort, und er quälte sich an ihrer blassen, mohngeschmückten Schönheit.
Sie erreichten das Dorf Eschersheim, abgespannt von der inneren Unruhe.
»Lassen Sie uns ein paar Minuten rasten,« bat sie.
Er kannte das Wirtshaus am Ende der Dorfgasse, und sie suchten es auf. Nur um eine Limonade zu trinken. Aber sie kühlte nicht.
»In anderthalb Stunden müssen wir zurück sein.« Das klang in seinem Mund wie Selbstverspottung.
Da rang sich alles in ihr los. Diesen bitteren Mund jetzt küssen, mit ganz heißen Lippen, ganz wild und ganz demütig.
»O Sie blinder, blinder Mann.«
»Machen Sie mich sehend!«
»Ich weiß nicht, was mir ist. Aber daß ich jetzt unaussprechlich fröhlich bin, das weiß ich. So fröhlich, daß, wenn wir nicht schnell die Wirtsstube verlassen, ich irgend eine unerhörte Dummheit mache.«
»Frau Helga! Eine Dummheit? Eine richtige junge Dummheit? Das ist das erste vernünftige Wort!«
Dann standen sie draußen und sahen sich mit blitzenden Augen an.
»Laufen möcht' ich. Wie damals die Halden hinab im Taunus. Bitte, Richard!«
Da rannten sie zusammen durch die dämmerige Dorfstraße.
Und im Laufen schoß es Helga durch den Sinn: Bevor wir dort hinten das letzte einsame Gehöft erreicht haben, muß ich es ihm sagen.
Da hielt sie ein. Ein wilder, nie gekannter Übermut war über sie gekommen.
»Ich kann nicht mehr. Ich bin todmüde. Wenn Sie mich heimbringen wollen, müssen Sie mich tragen.«
Sie sprang auf einen Feldstein und streckte die Arme nach ihm aus.
Da nahm er sie.
»Kommen Sie her, Sie liebes, müdes Kindchen.«
Sie legte ihm die Arme um den Hals und lag ganz still an seiner Brust.
»Ich bin aber gar nicht müde,« sagte sie nach einer Weile.
»Was sind Sie nicht?«
»Ich bin gar nicht müde. Ich habe gelogen.«
»Das ist doch mal eine angenehme Lüge. Für den Betroffenen wenigstens. Aber nun auf der Stelle heraus mit dem Grund!«
»Ich wollte mich von Ihnen tragen lassen.«
»Stellen Sie sich das so schön vor?«
»Richard, Richard! Ja, ja! Wunderbar schön!«
Das schwang sich wie ein Lachen über die abendliche Flur.
Wie angewurzelt stand der Mann, und er schaute schweratmend zu der Frau empor.
Da hob sich Helga Nuntius rasch auf seinem Arm, daß ihre Augen leuchtend über den seinen standen. Und dann legte sie ihre Lippen fest auf seinen Mund.
Wie ein Staunen kam es über sie beide …
Und als Helga Nuntius den Kopf wieder hob, war sie blaß bis unter das dunkle Haar. Aber das Leuchten in ihren Augen war geblieben.
»Richard – –«
»Sprich weiter oder küß' mich. Nur daß ich weiß: das ist kein Scherz!«
Da glitt sie zu Boden und nahm schnell seinen Kopf zwischen ihre Hände.
»Nein, nein, das war kein Scherz! Du, du! Das überkam mich, daß ich es tun mußte! Mußte! Mußte! Damit du sahst: mir ist alles gleich, wenn du mich in die Arme nimmst.«
Da schlang er den Arm um sie. – – Und sie maßen sich verwundert, als seien sie gewachsen.
»Komm, Helga!«
Sie strich ihm über die Augen.
»Ob du mich willst, sag mir!«
»Seit ich dich kenne! Das sind sieben lange Jahre.«
»Deshalb, deshalb, weil es so lange geworden ist! Die Helga, die du liebtest, existiert ja gar nicht mehr.«
Er hatte ihren Arm in den seinen gezogen und schritt mit ihr quer über das Wiesenland.
»So liebe ich dich doppelt! Die Helga Nuntius und – die Helga Marschall.«
»Die Helga Marschall – –« wiederholte sie, als wäre das Wort eine ganz feine Melodie.
Und sie wanderten weiter, bis zu einer leichten Anhöhe, auf der sich der Weg schied, und sie wandten sich um und blickten auf Frankfurt, dessen Lichter aus dem Dämmer tauchten und die Konturen der Türme und Warten zeichneten.
Links und rechts wogte das Getreide, und ein süßer, schwerer Duft stieg aus den reifenden Halmen.
»Das ist ein gesunder Duft,« sagte Richard Marschall.
»Ach, du, du! Das ist so schön, gesund zu sein.«
»Nun liegt dein Leben in meiner Hand,« erwiderte er, »und ich will es vor Krankheit hüten.«
»Richard, ich hab' das Leben so lieb gewonnen, weil du für mich das Leben wurdest.«
»Und ich? Alles, was ich für die Kunst schuf, waren heimliche Lieder an dich. Ich hab' ja nur immer an das Leben gedacht, an das Leben mit dir.«
»Im Frühjahr …« sagte sie.
»Bis dahin bauen wir uns unser Heim. Ein kleines weißes Haus in einem großen Garten. Du mußt mitkommen und bauen helfen.«
»Ich lass' dich nicht mehr allein. Nun teile ich Arbeit und Muße mit dir.«
Sie saßen auf dem Feldrain und blickten noch immer auf die Stadt. Aus dem duftschweren, zitternden Korn um sie her leuchtete der rote Mohn.
Da legte Richard Marschall den Kopf in ihren Schoß und lag ganz still.
»Du – –!« sagte sie mit seltsam bebender Stimme. Und nach einer Weile beugte sie sich über ihn und sah ihm ins Gesicht und streichelte unablässig seine Stirn und sein Haar.
Er hörte ihren tiefgehenden Atem.
»Was ist dir, du Liebste?«
»Was mir ist? Frag' mich doch, wo ich bin? Du, du – nun bin ich zu Haus.«
Da hob er die Arme und zog ihren Kopf zu sich herab, und ihre Lippen suchten sich unter reifendem Korn und fanden sich unter brennendem Mohn.
Und aus dem Korn läuteten tiefe Lebensstimmen, und die Blumen sangen die helle, schmückende Melodie. Das waren Akkorde voll Kraft und Schönheit.
»Kennst du das Lied?« fragte Richard Marschall und horchte.
Und sie horchte mit und vernahm es wie er, und sie sagte: »Du hast es mich gelehrt. Da bin ich froh und stark geworden, denn es sagt uns, weshalb wir leben.«
Schulter an Schulter gingen sie über die Felder, aus denen das Lied stieg, und sie hörten es in den Straßen der Stadt und unter den Menschen, die sie erwarteten.
Wenn sie sich anblickten, hörten sie es, und wenn sie sich mit der Hand berührten.
»Es ist unsterblich,« sagte Richard Marschall, »und wir sind es auch, wenn wir daran glauben.«
»Ich glaube daran, Liebster.«
Und fern am Horizont stieg es vor ihnen auf wie ein Park, in dem ein ständiges Blühen war und ein ständiger Gesang.
»Tritt ein,« sagte Richard Marschall, »wir sind daheim.« – –
Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft
in Stuttgart