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6.

Es herrschte große Aufregung im Hause Bettermann. Selbst Frau Lena vernachlässigte heute ihr kleines Ladengeschäft, und die Kunden, die um ein paar Eier oder ein Pfund Kaisermehl gekommen waren, mußten über Gebühr warten, klopften nervös mit den Sohlen auf, um in der Kälte des Januarabends ihre Füße warm zu erhalten, und ließen endlich ihre Nickelstücke hart auf dem Ladentisch trommeln, um durch den Lärm die Bedienung zu ihrer Pflicht zurückzurufen. Dann eilte Frau Lena atemlos die Stiege hinab und bat, während sie mit geschäftigen Händen abwog, vielmals um Verzeihung. »Unser Fräulein singt heut,« sagte sie mit bittendem Blick. Und die Kunden vergaßen Kälte und Nervosität, zogen die Schürze nach hinten und setzten sich auf die Seifentönnchen, um diese Neuigkeit einmal gründlich durchzusprechen. Bis Frau Lena nochmals den bittenden Blick erhob und sich aufs neue entschuldigte: »Es ist nur wegen der Toilette. Das Kind kriegt ja die Haken allein nicht zu und spürt in der Aufregung kaum seine Hände. Das ist ja auch sehr begreiflich, vor einem ersten öffentlichen Auftreten.«

Und alle fanden, daß man vor einem ersten öffentlichen Auftreten nie seine Hände spüre, und fanden es überdies sehr begreiflich, sprachen Frau Lena Mut zu und fragten, wann das Fräulein abfahre, weil man sie in den Wagen einsteigen sehen möchte.

Helga Nuntius saß in ihrer Schlafkammer vor einem kleinen altmodischen Spiegeltisch. Auf der marmorierten Holzplatte standen zwei Messingleuchter, und die ruhigen Flammen der Kerzen beschienen ihr brünettes Köpfchen, an dem Frau Lena soeben ihre Frisierkunst probiert hatte.

»Das ist eigen mit Ihnen, Fräulein,« hatte die wackere Frau gemeint, »man darf Sie gar nicht extra frisieren wollen. Ein paar Griffe ins Haar, und es sitzt. Nur keine Kunst anwenden wollen. Bei Ihnen ist alles von Natur am schönsten.«

Helga Nuntius schlug die Augen auf und blickte in den Spiegel. »Ist es nicht zu sehr ausgeschnitten, das Kleid – –?« fragte sie zögernd.

»Aber, Kind, der Einschnitt ist ja nicht größer als ein Herzchen. Und wie schön und frei das Hälschen nun herausguckt. Wer so fein ist, der darf den Ausschnitt dreimal größer wagen.«

»Frau Bettermann!« wehrte sie lachend, und sie sah im Spiegel, wie sich der gelobte Herzausschnitt so rosa färbte wie der rosa Tüll, der ihn umschloß. Da erhob sie sich rasch und blickte verwirrt auf die sorgende Helferin.

»Fräulein Helga,« sagte die, suchte nach Worten und strich mit der Handfläche an ihrem Kleiderrock herunter.

»Was denn, Frau Bettermann – –?«

»Fräulein Helga, wer so aussieht wie Sie, der braucht gar nicht erst zu singen.«

»Wie seh' ich denn aus – –?«

»So – so – ich meine nur –« und dann sah sie plötzlich von ihrem Kleiderrock auf und mit ihren mütterlichen Augen Helga an und stotterte, rot werdend: »Ich möcht' Ihnen so furchtbar gern einmal einen Kuß geben.«

Und das junge Mädchen drückte sich an sie und ganz tief in ihre Arme hinein und ließ sich wie ein Kindchen abhätscheln und sagte nur immer: »Sie liebe alte, Sie …«

Herr Johann Bettermann hatte schon ein paarmal an die Tür geklopft. Kein Mensch konnte sich in größerer Aufregung befinden. Als ob er heute abend aufs Podium müßte und Arien singen. Und er hatte das entsetzliche, atemraubende Gefühl, daß er nicht im stande sein würde. Nun rannte er in seinem schwarzen Sonntagsanzug ruhelos durch die Stuben und über den Treppenplatz, denn er hatte ein Billett zu dem Übungsabend im Konservatorium erhalten.

»Fräulein Nuntius, der Herr Grube ist da.«

Und nach einer Weile: »Fräulein, Fräulein, der Herr Braun! Ich hab' gemeint, ich deht Sie ins Konservatorium fahre – –?«

Helga öffnete die Tür und trat heraus. »Ich komm' schon, Herr Bettermann, aber es ist noch so viel Zeit.«

Der aber stand und schaute wie auf ein Fremdes.

»Mann,« sagte Frau Lena und gab ihm einen freundschaftlichen Klaps, »mach den Mund zu, es ist unser Fräulein.«

Da griff der Meister in seine Krawatte, ruckte mit dem Kopf und fand die Sprache. »Des geht nu doch net, Fräulein.«

»Was soll nicht gehen, Meister Bettermann? Sind Sie unzufrieden?«

»Es will net angehe, daß wir zwei zusamme vorfahre. Des wär' doch e zu originell Gespann.«

»So, Sie geben mir einen Korb?«

»Wann Sie wolle, wer' ich hinne aufklettere un Körb verteile. Die Korbflechter Frankforts wer'n Sie zum Ehremitglied ernenne, so werd' mer sich in der Stadt um Sie reiße, wann mer des gesehe hat.«

»Mann, nun laß doch das Fräulein schon ins Wohnzimmer. Sie wird sich noch deinetwegen erkälten.«

Da riß der strahlende Meister die Tür auf und meldete in der dienstlichen Haltung seiner fernen Kommißzeit: »Fräulein Helga Nuntius.«

Als das Mädchen an ihm vorüberschritt, lachten sich die beiden wie Kinder in die Augen. Dann begrüßte sie Herrn Grube und ihren Kollegen Braun, den sie mit Verwunderung in der Bettermannschen Wohnung sah.

»Ich hatte geglaubt, als Übungskollege –« sagte Braun und überreichte ihr höflich einen Strauß Chrysanthemen. »Wenn Sie gestatten, nehme ich Sie gleich in meinem Wagen mit. Die Droschke wartet vor dem Hause.«

»Ich bin so überrascht …« erwiderte Helga Nuntius. »Aber nehmen Sie vielen Dank. Guten Abend, Herr Grube, wie geht es Ihnen?«

»In diesem Moment, da ich Sie sehe, so sehe, Fräulein Nuntius, könnte es mir gar nicht besser gehen.«

Herr Bettermann rieb sich die Hände. Bis Frau Lena es ihm mit winkendem Blick verwies.

»Und nun lachen Sie nur, Fräulein Nuntius,« fuhr Grube fort. »Ich war nämlich auch gekommen, um Sie zu Ihrem ersten Ehrenabend abzuholen. Und ich war der erste am Platz. Herr Bettermann kann das bezeugen.«

Das tat Herr Bettermann und deutete dabei verstohlen auf ein paar langstenglige La France-Rosen, die noch in ihrer Umhüllung aus Seidenpapier auf dem Tisch lagen.

»Ich hätte Sie bitten mögen, eine davon anzustecken,« sagte Grube und griff mit einer schweren linkischen Bewegung nach den Blumen. »Entschuldigen Sie, Fräulein Nuntius, ich bin in diesen Dingen so ungeschickt.«

Sie aber schüttelte ihm herzlich die Hand, denn sie wußte, weshalb er aus der Übung war.

Da stolperte es die Treppen herauf, und als Herr Bettermann, neugierig auf den neuen Besuch, die Tür öffnete, stand Richard Marschall auf der Schwelle, mit erhitztem Gesicht, den langen Mantel beschneit, eine große Papierdüte in Händen, aus der mächtige Mohnblüten hervorragten.

»Guten Abend,« sagte er, »komm' ich noch recht? Ich wollte Sie abholen.« Und er schaute verdutzt und erzürnt zugleich im Kreise umher, weil er nicht begriff, weshalb seine Worte ein so schallendes Gelächter hervorriefen.

»Ach so,« meinte er dann, »die Konkurrenz war mal wieder vor mir da.«

»Weshalb kommen Sie denn auch so spät?« flüsterte ihm Herr Bettermann vorwurfsvoll zu, denn er liebte das lustige junge Blut.

»Die Blumen sind daran schuld,« ergrimmte sich Marschall. »Ich hatte mir nun mal in den Kopf gesetzt, daß es meine Lieblingsblumen sein müßten. Sie haben die einzige Farbe, die zu Ihrem Haar paßt, Fräulein Nuntius. Da bin ich denn herumgerannt, bis ich sie bei dieser Jahreszeit aufgestöbert hatte.«

»Aber weshalb machen Sie sich denn um mich so viel Mühe …«

»Das sag' ich Ihnen ein andermal, jetzt ist es höchste Zeit, daß wir knobeln.«

»Knobeln –? Aber ich muß ins Konservatorium.«

»Eben darum! Wer Sie hinbringt. Geben Sie mal Streichhölzer, Meister Bettermann. Kurz gewinnt, lang verliert.«

Da aber legte sich die bescheidene Hausfrau ins Mittel. »Sie müssen das Fräulein jetzt nicht aufregen!«

»Aber es muß doch ein Ausweg geschaffen werden, Frau Bettermann, das sehen Sie doch hoffentlich ein?«

»Gewiß, Herr Marschall. Herr Grube hatte sich zuerst erboten. Dem werden Sie's doch nicht abschlagen wollen. Und Herr Braun leistet ihr als ihr Partner sowieso auf der Bühne Gesellschaft. Und Sie, Herr Marschall –«

»Ich bring' sie zum Schluß nach Haus. Bravo, Frau Bettermann. Abgemacht, Fräulein Nuntius?«

»Abgemacht.«

»So bekommt all die Freundschaft ihr Teil,« schloß Frau Bettermann lächelnd.

»Ich bin gar nicht mehr ängstlich, ich bin jetzt nur noch glücklich,« sagte ihr das Mädchen leise beim Abschied, und sie klopfte ihm die Wangen …

Während Meister Bettermann eiligst zur Hauptwache trabte, um einen zweiten Wagen herbeizuholen, fuhr Franz Grube mit Helga Nuntius in der Droschke, die vor der Tür wartete, von dannen. Er hatte seine lange Gestalt tief in die Ecke gedrückt, um ihr zartes Kleidchen nicht zu knittern. Aber so unglücklich er auch saß, in seinen Augen war ein tiefes warmes Leuchten. Denn sie saß neben ihm wie eine selig verträumte Braut. Und auch er kam sich vor – er schüttelte über sich selbst den Kopf. Aber das bräutliche Gefühl wurde er den ganzen Abend nicht mehr los.

»Sehen Sie, Fräulein Nuntius, so hatte ich es mir gewünscht. Sie beim ersten wichtigen Schritt führen zu dürfen.«

»Weshalb sind Sie nur alle so gut mit mir …?«

Und der lang aufgeschossene Mann, der auch mit seinem Sinnen und Grübeln über das Leben hinausragte, erwiderte: »Weil Sie ein so reines Menschenkind sind. Sie dürften selbst Dinge begehen, die andre nicht begehen dürften, weil Sie sie mit reinen Gedanken begehen würden. Das ist es.«

Da schwieg sie erschrocken. Und als er es bemerkte, nahm er ihre Hände zwischen die seinen, streichelte sie und setzte mehrmals an, um etwas hinzuzufügen. Nein, nein, sagte er sich, ihre Reinheit wird schon nichts Unechtes an sich herankommen lassen, oder sie wird es bald erkennen. Nur nicht eingreifen wollen. Die echte Natur hilft sich am besten selbst. Ich bin ja auch schon zu alt und zu müd, um lang noch den Eckart zu spielen.

»Woran denken Sie?« vernahm er nach einer Weile ihre Stimme.

»Ich denke darüber nach, ob ich Sie heut noch um was bitten darf.«

»Um alles, Herr Grube.«

»Wollen Sie nach dem Übungsabend noch zu uns in den Grubeshof kommen? Meine Schwester Johanna ist daheim geblieben, um das Abendbrot zu richten. Sie würden mir eine große, große Freude machen.«

»Aber was ist denn das für eine große Freude,« wies sie beschämt zurück.

»Ich habe heute Geburtstag. In meinem Alter kann man das wohl sagen, ohne aufdringlich zu erscheinen.«

Sie wollte ihm gratulieren. Da hielt der Wagen vor dem Portal des Konservatoriums. Und sie stopfte ihm alle ihre Blumen in die Hand. Nur seine Rosen behielt sie.

»Singen Sie heute für mich,« bat er, und sie nickte und war verschwunden.

Er stand auf dem Trottoir, ließ sich den wirbelnden Schnee um die Hutkrempe wehen und drehte lächelnd den Blumenflor in seinen Händen. Bis ein zweiter Wagen heranrollte, dem Braun und Marschall mit Herrn Bettermann entstiegen. Der Sänger ging schnurstracks mit vorgehaltenem Tuch ins Haus hinein. Marschall aber entdeckte den Freund und entdeckte die Blumen.

»Mensch,« sagte er und weckte ihn durch kräftigen Schulterschlag aus seiner Versunkenheit, »du hast ja vergessen, ihr die Blumen zu geben. Die werden hier draußen auch nicht besser. Erlaube mal gütigst!«

»Sie haben ihren Zweck bereits erfüllt.«

»Nee, nee, Franzl, da muß ich schon bitten. Das ist ein Irrtum. Sie haben noch gar nichts; meine nicht!«

»Sei gut, Richard, und gönn' sie mir schon. Fräulein Nuntius hat sie mir zum Geburtstag geschenkt.«

»Zum – Geburtstag? – Du hast –? Und sagst nix? I da soll dich doch der Deubel hol– Pardon, herzlichsten Glückwunsch wollt' ich sagen. Aber allerherzlichsten Glückwunsch!«

»Danke dir. Du kommst doch heute abend? Johanna rechnet sicher darauf.«

»Kommt Fräulein Nuntius auch?«

»Ja. Du bringst sie dann gleich mit. Ihr fahrt ja zusammen.«

»Franzl,« sagte Richard Marschall bewundernd, »du bist doch ein verdammt großmütiger Mensch.«

Herr Johann Bettermann hatte sich unter das Portal geflüchtet. Es waren ihm ein paar Schneeflocken auf seinen Hochzeitszylinder gewirbelt, und bei dem Bemühen, sie zu entfernen, waren sie geschmolzen, und als er weiter wischte, waren feuchte, etwas pappige und fuchsrote Streifen zum Vorschein gekommen. Das bekümmerte ihn tief. Denn er wünschte heute mit seinem inneren wie mit seinem äußeren Menschen Ehre einzulegen.

»Kommen Sie, Meister,« ermunterte ihn Marschall, »bis Sie zum zweiten Male heiraten, ist der längst trocken. Hier draußen können Sie doch nicht drauf warten.«

Dann stiegen sie die Treppe zum Konzertsaal hinauf, und Herr Bettermann, freundlich nach allen Seiten lächelnd, hatte das Gefühl, als müßte er jedem, der ihnen in diesem feierlichen Hause begegnete, geschwind seine Eintrittskarte hinhalten, um sich als wirklich geladener Gast zu legitimieren und nicht etwa als Eindringling zu erscheinen. Dicht hielt er sich an der Seite Grubes, dessen Lässigkeit ihm in dieser Umgebung doppelt imponierte.

Der Saal war schon gefüllt. Aber sie fanden auf einer der hinteren Sitzreihen noch Platz. Die erste Stunde war der Instrumentalmusik gewidmet, dann erst folgte das Duett zwischen Braun und Helga Nuntius.

Franz Grube folgte einer Beethovenschen Sonate mit tiefer Andacht. Er hatte die Blumen über seine Kniee gelegt, unbekümmert der erstaunten Blicke seiner Konzertnachbarn, und während die Klänge des Flügels die Luft durchschwebten und die stillen Gläubigen suchten, die ihre Stimmen verstanden, streichelte er unablässig die Blumen von den Stielen bis zu den Kelchen. Und keiner war wohl im Saale, dem so feiertäglich zu Mute war wie Franz Grube.

Herr Bettermann aber wandte seine Aufmerksamkeit mehr der zweiten Darbietung zu. Eine junge Geigerin spielte ein Bravourstück von Wieniawski. Das war ihm neu, daß eine Dame öffentlich Violine spielte, eine wirkliche Dame, nicht etwa eine von den angeschminkten Vagabundinnen, die am Wäldchestag beim Forsthaus inmitten einer ganzen weiblichen Kapelle den Fiedelbogen strichen. Eine wirkliche Dame! So fein fast wie sein Fräulein. Er kam aus dem Verwundern gar nicht mehr heraus.

Richard Marschall zog die Uhr und langweilte sich.

Dann war die Instrumentalmusik und auch die Pause zu Ende, ein Korrepetitor nahm am Flügel Platz, und durch die schmale Tapetentür des Künstlerzimmers betraten Helga Nuntius und Robert Braun das Podium.

Franz Grube legte den Kopf weit zurück. Er tat es mit einer ihm selbst fremden Bewegung. Schnell, selbstgewiß, wie ein Besitzender. Er wußte: was jetzt folgte, gehörte ihm. Es war ein Teil seines Geburtstagsgeschenkes. Sie sang für ihn. Sie hatte es ihm versprochen. Die Erstlinge ihrer Kunst – –.

Und weshalb nicht die Erstlinge ihres Lebens? zog es ihm durch den Sinn. Darüber erschrak er. Vor zwanzig Jahren, sagte er sich bitter, und wenn die andre nicht gewesen wäre.

Und mit einem Male schwieg Verlangen und schwieg Bitterkeit in ihm, und er wurde ganz still und ganz fröhlich, wie ein kleiner Junge, der vor Freude sprachlos vor seinem Gabentische steht, denn nun wußte er: er hatte sein Geburtstagsgeschenk, er hatte es wirklich.

Helga Nuntius' Augen sahen ihn an.

Aus der Menge heraus hatten sie ihn gefunden, über die Menge hinweg blickten sie ihn an, trotz der Menge blieben sie auf ihm haften. Und Helga Nuntius sang. Scheu zuerst, als fühlte sie sich bei ihrem Tempeldienst, den sie so heilig nahm, durch die Zuschauer bedrückt, dann mit der Stimme keuscher weicher Jungfräulichkeit, und wieder, wie einst auf der Probe, mit der wildvisionären Leidenschaft der in der Mannesliebe zum Weibe Erwachten. Herrlich klang Robert Brauns machtvolles Organ mit dem ihren zusammen. Wie zwei Geschwisterglocken, vom Glockengießermeister als ein Paar gegossen, in derselben Domeskuppel ihre Stimmen zum Akkord zu vereinen.

Auserwählte Menschen, dachte Franz Grube. Und dann verbesserte er seine Gedanken und dachte: Auserwählte Künstler, denn ihr Menschentum hatten sie ja beide noch zu bekunden. Wenn einmal ihre Stunde kam. Die mit der Stimme des Lebens und nicht die mit dem Echo der Kunst.

Um ihn herum regten sich alle Hände, und sie ließen nicht nach, bis die beiden Sangesschüler noch einmal und zum zweiten Male auf dem Podium erschienen waren und sich verbeugten. Dann rief eine Stimme, heiser vor Aufregung: »Bravo!« Und noch einmal, ganz allein: » Da capo!«

Alles schaute sich nach dem Enthusiasten um und lachte.

Es war Herr Bettermann.

In zornigem Eifer fuhr er von seinem Platz auf. Da erhob sich in der ersten Stuhlreihe ein älterer Herr mit einem vertrockneten, faltenreichen Gesicht, winkte ihm zu, schickte ihm mit den Fingerspitzen einen Extraapplaus und rief dem verdutzten Meister mit harter geborstener Stimme ein »Bravo!« zu.

»Wer war denn des?« fragte der seinen jungen Freund Marschall schüchtern, als sie zur Garderobe drängten.

»Das war der Professor Faller, der größte Gesangsmeister.«

Als Herr Bettermann glücklich Winterrock und Zylinder erwischt hatte und pietätvoll bemüht war, mit dem Rockärmel den Spiegel des Hutes aufzubügeln, legte sich eine knochige Hand auf seine Schulter. Er fuhr diensteifrig herum und schaute in Professor Fallers unrasiertes Gesicht.

»Sagen S' einmal, Freunderl, dös war vorhin sehr hübsch von Ihnen, wirklich hübsch. Dös war impulsiv, wissen S'. Dös war die Stimme der Natur in der ganzen vorsichtigen, blasierten Banausenversammlung. Geben S' mir Ihre Hand. So, dank' schön. Sie sind ein Kunstkenner. Der Faller hat's g'sagt.«

»Mein Name ist Bettermann.«

»So, so. Wo trinken S' denn Ihren Wein?«

»Bei Heiland, am Markt,« sagte Herr Bettermann mit starkem Herzklopfen.

»Ah, Äppelwein – –« machte der Professor mit hochgezogener Braue. »Soll auch sehr gesund sein.« Und ließ ihn stehen. Herr Johann Bettermann aber, ohne über den kurzen Abschied gekränkt zu sein, setzte sich in einen eiligen Trab, um Frau Lena die Ereignisse des Abends warm zu berichten. In seiner Äpfelweinschenke aber sprach er von Stund' an nicht mehr ausschließlich von Häuserspekulation, sondern auch ausschlaggebende Worte über die Kunst der Musik. »Er is e Kenner,« raunten die Leute, »der Professor Faller hat's gesagt.« –

»Weshalb haben Sie mich beim Singen nicht angesehen, Fräulein Nuntius?« fragte Braun, als sie wieder im Künstlerzimmer standen.

»Ich hörte Sie ja, das war mir die Hauptsache.«

»Deshalb brauchten Sie aber doch den Marschall nicht immer anzusehen.«

»Herrn Marschall? Ich weiß gar nicht, wo er gesessen hat. Ich habe nur immer Herrn Grube angesehen. Wissen Sie, Herr Braun, ich glaube, das ist das beste Mittel, das Lampenfieber zu überwinden. Man sucht sich im Saal einen sympathischen Menschen heraus oder einen, der so ausschaut, und singt nur für ihn.«

»Sie haben ausgezeichnet gesungen, Fräulein Nuntius. Sie werden noch einmal eine Spezialität, und das ist das, was ich auch werden will. Etwas haben, was andere nicht haben. Was wird denn sonst bezahlt!«

»Ich möchte eine Künstlerin werden,« sagte Helga Nuntius mit heißen Wangen.

»Wir müßten zusammen auftreten. Unsere Stimmen sind wie füreinander geschaffen. Während wir sangen, habe ich immer daran denken müssen.«

»Nicht an Ihren Lohengrin?« lachte sie.

»Der singt sich von selber.«

Sie schaute ihn nachdenklich an und schüttelte den Kopf.

Es klopfte, und Marschall trat in das Künstlerzimmer. Ohne sich um Braun zu kümmern, ergriff er sofort des Mädchens Hände und preßte seine Lippen darauf.

»Mädel, Fräulein!« stieß er hervor. »Herr Gott noch mal! Na und so weiter! Wie soll man denn nur seine Freud' auslassen? Braun, komm her, opfere dich. Ich hau' dich windelweich.«

»Benimm dich!«

»Schon gut. Ein andermal. Und nun schnell, Fräulein, ich hab' den Wagen unten. Jetzt wird gefeiert!«

Sie konnte kaum ihrem Partner Gute Nacht wünschen, so schnell zog er sie von dannen.

»Fräulein Nuntius,« bat er, als sie im Wagen saßen, »Sie sind mir doch nicht mehr bös? Wissen Sie, wegen meiner vorlauten Rederei, damals im Oktober auf der Insel. Und betrunken – als ich am Abend den wackeren Meister Johann Bettermann nach Hause brachte – betrunken war ich mal gar nicht. Das sah nur so aus. Mein Wort darauf, ich war ganz nüchtern. Nach so einer Mainfahrt, wie ich sie gerade mit Ihnen verlebt hatte, wirft man sich doch nicht in den ersten besten Rinnstein. Das müssen Sie doch auch fühlen. Tun Sie's? Nicht mehr bös? Ah, Sie geben mir selbst Ihre Hände? Alle beide zugleich? Ich möcht' Hurra schreien. Hurra!« Und er stieß mit dem Kopf gegen die niedere Wagendecke, daß ihm der Hut bis über die Augen fuhr.

Draußen fegte ein Schneegestöber. Die wenigen Menschen, die über die Straße huschten, nahmen sich in dem dichten Flockentanz aus wie Schemen und merkwürdige Luftgebilde. Die beiden in der Droschke hatten ein Stückchen Fensterglas blank gerieben und amüsierten sich damit, den Karikaturen, die sie entdeckten, Namen und sinnfällige Bedeutung zu verleihen.

Da hielt der Wagen. Marschall bezahlte zunächst den Kutscher, trat dann an den Schlag zurück, hob das Mädchen aus dem Wagen, hielt es aber fest in seinen Armen und rannte mit ihr, ohne ihre glacébeschuhten Füße den Schnee berühren zu lassen, ins Haus und hier, ohne zu pausieren, gleich mit seiner Beute die Treppen hinauf bis zur Wohnung Franz Grubes.

»Aber Herr Marschall,« wehrte sie sich, glühendrot.

»'s is derselbe Preis,« sagte er und setzte sie nieder.

»Wenn Sie einer gesehen hat, Herr Marschall!«

»Machen Sie sich keine Sorge, Fräulein, das schadet meinem Rufe wirklich nichts.«

»Gott,« rief sie lachend, »wie soll man sich denn mit Ihnen zanken!«

»Sehen Sie,« triumphierte er, »Sie wissen's selber nicht. Wird auch von mir gar nicht verlangt. Im Gegenteil! Na, das wird sich schon finden. Bitte, hineinzuspazieren. Oder ziehen Sie vor, auf meinen Armen –«

»Riskieren Sie's!« sagte sie, ging an ihm vorbei und betrat auf das »Herein« des Hausherrn das Zimmer.

Sie hatte ihm herzlich die Hand gedrückt und ihren Glückwunsch wiederholt. Und dann hatte sie mit einer stillen, nachwirkenden Freude in ihrem Herzen den Worten gelauscht, die Franz Grube über ihre Kunstleistung sprach:

»Ich gehöre nicht zu denen, Fräulein Nuntius, die die Größe einer Kunst nach ihrer Schwierigkeit bemessen, sondern ganz einfach nach ihrer Wirkung. Das mag altmodisch klingen, aber im Grunde fühlt wohl keiner anders. Nur auszusprechen getrauen sie es sich nicht, lieber langweilen sie sich. Übrigens war das vor hundert und mehr Jahren nicht anders. Und zum Schluß kommt es doch immer nur auf die Persönlichkeit an. Persönlichkeit haben, ist tausendmal mehr als modern sein.«

Nun saßen sie bei Tisch. Nur zu viert: Franz und Johanna Grube, Helga Nuntius und Richard Marschall. Eine ältere Aufwärterin ging geräuschlos ab und zu und bediente.

»Ich hätte so gern das ganze Haus voll gehabt,« sagte die Schwester, »aber Franz sträubte sich diesmal dagegen, und dem Geburtstagskind muß man schon zu Gefallen sein.«

»Ihr ist nur wohl,« erklärte Grube seiner Nachbarin, »wenn sie zu sorgen hat, je mehr desto besser. Die reine Martha. Es ist schon so weit gekommen, daß eine ganze Reihe von Konservatoristen in ihrem Küchenschrank besser Bescheid wissen als in den Klassenzimmern des Konservatoriums.«

»Stimmt,« bestätigte Marschall. »Als jüngst einmal die Rede von dem abenteuerlichen Kerl war, der, ohne einen Kopeken in der Tasche, eine Fußreise von Moskau nach Paris machte und mit einem Plus von dreißig Pfund Körpergewicht nach einem Vierteljahr anlangte, sagt der Neumann mit seinem Baß: ›Ich getrau' mich, drei Studienjahre in Frankfurt am Main zu leben, ohne einen Muttergroschen, vorausgesetzt, daß Fräulein Johanna inzwischen nicht nach auswärts heiratet, was Gott verhüten möge. Zwei Jahre hab' ich schon herum.‹«

»Aber das liegt doch nicht an mir,« verteidigte sich das Mädchen gegen das fröhliche Gelächter, »das liegt doch nur an der Bedürfnislosigkeit der guten Jungen.«

»Das ist richtig,« stimmte Marschall bei, »wenn sie den Magen voll haben, sind sie bedürfnislos. Alles Ausnahmenaturen!«

»Und Sie, Richard?«

»Ich hab' einen Organfehler. Bei mir ist es das Herz, das immer Hunger hat. Also 'ran mit Ihrer Fürsorge, Fräulein Johanna!«

»Ich glaube fast,« entgegnete sie und nickte ihm freundlich zu, »meine Speisekammer reicht nicht aus.«

Da verstummte er und drehte vor sich hin sinnend sein Glas zwischen den Fingern.

Während die Tafel abgeräumt wurde, führte der Hausherr Helga Nuntius in das Nebenzimmer, das der Schwester gehörte. Alte trauliche Mahagonimöbel standen umher, an den Wänden hingen in vergoldeten Ovalrahmen die Bilder der Familie und ihrer Vorfahren, aus bauchigen Porzellanvasen der Biedermeierzeit hoben sich Büschel duftender Blumen.

»Wollen wir uns auf das Fenstersofa setzen, bis drinnen abgeräumt ist? Marschall wird nachher spielen. Ich freue mich darauf.«

Als sie beide in dem kleinen lederüberzogenen Ecksofa saßen und durch das runde Fenster in das lustige Schneegetriebe hinausschauten, kam Grube auf den Freund zurück: »Marschall – –, ja, das ist ein prächtiger Mensch – wenn er einmal fertig ist. Vorläufig liebe ich gerade das Unfertige an ihm, diesen Saus und Braus seiner raschen Jugend, in dem ich – vielleicht ich allein – den Most erkenne, der sich toller und leichtsinniger als bei andern gebärdet, weil er auch viel schneller und stärker nach der Reifezeit drängt. Aus diesem Schlag entwickeln sich die Menschen von lächelnder Tiefe, die Menschen der ewigen Jugend, für die alles verstehen alles verzeihen heißt, weil ihnen selbst nichts Menschliches fremd geblieben ist.«

»Und Braun – lieben Sie nicht?«

»Lieben – – das wäre das falsche Wort. Ich bewundere, bestaune ihn als Künstler. Aber was ihm sein Ruhm bringen soll, ist Geld, um in großer Lebensführung zu glänzen, was Marschall der Ruhm bringen soll, ist Glück, um aus einer verschwiegenen Ecke heraus die Welt auszulachen.«

»Aber der glücklichste Mensch sind Sie – trotz allem.«

»Weil ich vom Glück nichts mehr will.«

»Aber Sie könnten doch, wenn Sie wollten.«

»Meinen Sie? Ich will Ihnen einmal ein Reiseerlebnis erzählen, wenn es Sie nicht langweilt.«

Aus dem Nebenzimmer klangen das übermütige Lachen Marschalls und die tiefe ruhige Stimme Johanna Grubes. Im Kamin krachte ein Holzscheit, und an das Fenster schwirrten die Flocken. Helga Nuntius saß zurückgelehnt. Ihre Augen hingen an der lässig zusammengesunkenen Gestalt des Mannes, der neben ihr saß, und alle ihre Gedanken waren ihm zugewandt.

»Aus der Reihe der Grubes sind nur Kaufleute hervorgegangen. Diese Berufswahl war so selbstverständlich wie die Taufe. Ich meinesteils hatte starke künstlerische Neigungen. Und so wurde ich, um ihnen doch in etwas gerecht zu werden, in meinen kaufmännischen Mußestunden Sammler. Ein paar Jahre sind es her, da wurde in Düsseldorf eine besonders großartige Ausstellung veranstaltet. Ich reiste hin und wohnte bei einem befreundeten Maler. In der Ausstellung war hauptsächlich die neuere Richtung, die Jungen, zu Wort gekommen. Es war höchste Zeit, denn die Pinselei in Düsseldorf war nicht mehr ganz schön. Aber die Alten, die zu ihrer Zeit etwas gegolten hatten und nicht begriffen, daß die Sonne nicht still steht, wollten das nicht zugeben, erhoben ein großes Geschrei über Vergewaltigung und brutale Rücksichtslosigkeit und beriefen eine Versammlung, um in ihr einen Salon der Zurückgewiesenen zu beschließen. Nun, in dieser Versammlung war ich. Ich wohnte ihr mit meinem Freunde bei und werde sie nie, nie vergessen. Da saßen in einem separaten Saal einer Bierwirtschaft an die zwanzig bis dreißig ältere Herren an einer hufeisenförmigen Tafel. Weiße Locken, weiße Bärte, verbissene Gesichter – ich könnte sie zeichnen. Und einer nach dem anderen erhob sich und protestierte gegen die neue Kunst, und aus dem Protestieren wurde ein wildes Geschrei, und aus dem Geschrei heraus rang sich nicht mehr der Schrei um die Kunst, sondern der Schrei um das größere Brot. Zwanzig, dreißig Menschen, die ihre Zeit gehabt hatten und sie erfüllt hatten, und die jetzt nicht begreifen konnten und wollten, daß ihre Zukunft in der Vergangenheit lag. Sie hielten das Glück in Händen, denn sie brauchten nur nichts mehr von ihm zu fordern und in der Vergangenheit zu leben. Aber sie mußten das alte Glück und den alten Ruhm aufs Spiel setzen, um – ihrer künstlerischen Impotenz zu schmeicheln. Fräulein, ich sah das Bild vor mir, ich sah den furchtbaren Jammer vor mir und den trostlosen Lebensabend der Greise, die aus kämpfenden Menschen zu grotesken Menschen wurden, weil sie nicht die Kraft gehabt hatten, zur rechten Zeit aufzuhören.«

Und nach einer Pause hob er den Kopf und blickte in die mitleidschweren Augen Helgas, denn sie hatte ihm ihre Hand auf die seine gelegt. »Haben wir den Mut der Klarheit und Wahrheit,« fuhr er fort. »Wie es in der Kunst ist, so ist es auch im Leben. Ich habe meine Zeit gehabt und sie erfüllt. Was von mir übrig geblieben ist, darf ich als ehrlicher Mann nicht auf den Markt des Lebens tragen, denn es sind keine fruchtbringenden Werte mehr darin. Oder würden Sie wünschen, daß zum Schlusse noch – zum Schlusse noch – eine groteske Persönlichkeit aus mir würde?«

»Nein,« sagte Helga Nuntius fest und drückte krampfhaft seine Hand. »Aber soweit ist es noch nicht.«

Er erhob sich und lehnte die Stirn gegen die schneekalte Scheibe. Dann wandte er sich entschlossen um.

»Es ist soweit, Fräulein Nuntius, es ist soweit.« Und plötzlich ihre Hände nehmend, daß auch sie sich jäh erhob, stieß er hervor: »Ja, glauben Sie denn wirklich, ich ginge sonst so neben Ihnen her, säße so neben Ihnen da, ließe mich von Ihrer jungen Güte beschenken und beschenken und streckte nicht die Arme nach Ihnen aus und bäte und forderte: Du – du – kleine – wunderliche – überreiche Helga, werde meine Frau? Werde – meine – Frau – –?«

Ihr strömten die Tränen aus den Augen, aber sie wischte sie nicht fort und schaute ihm in die Augen, die dicht über den ihren lagen, und schämte sich nicht.

»Ich habe Sie sehr, sehr lieb, Herr Grube …«

»Weil ich Sie so lieb habe – darf ich Sie nicht betrügen wollen. Ich hab' nichts mehr einzusetzen. Also aufhören können. Ich kann es. Und nun, Sie liebes wunderbares Mädchen aus der Fremde, haben Sie Dank für den Frühlingsgruß. Den Gruß nehme ich, der Frühling gehört Ihnen.«

Da hob sie sich, mit ganz ernstem stillem Gesicht, auf den Fußspitzen und küßte ihn auf den Mund.

Und er hielt ihren Kopf zwischen seinen Händen und lächelte in ihre Augen hinein, als wäre dort ein See, auf dem ein bewimpelter Kahn schwämme, und in dem Kahn stände die Jugend und winkte ihm einen Abschiedsgruß … Dann berührte auch er sie mit den Lippen. Und sie gingen zu den anderen. – –

Und Helga Nuntius hatte ihre erste Begegnung mit der Liebe erlebt.


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