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Der Sohn seines Vaters.

(1895.)

 

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Der schönste Frühlingstag leuchtete über der Küste von Bordighera. Die schlanken Wedel der Palmen und die Wipfel der Olivenhaine schauerten in der mild durchsonnten Luft, da über die weite See ein frischer Morgenwind heraufkam, der die hohen, dürren Blütenstengel der Agaven leise hin und her schwanken machte. Himmel und Erde blauten in die Wette, und aus dem Grün der Orangen- und Citronengärten, in das schon die ersten Pfirsichblüten ihren röthlichen Schimmer mischten, blickten die weißen Mauern der Villen friedlich träumend hervor, als horchten sie auf das eintönige Rauschen der Brandung, das von unten heraufdrang. Noch war es so früh im Jahr, daß auch die Kaktus- und Aloewildniß auf den Gartenmauern und die üppig wuchernden, tief herabhängenden Geflechte der Hauswurz nicht, wie im Hochsommer, vom Staube gepudert erschienen, sondern ihre fetten, blanken Triebe in der Sonne spiegelten. Dazu eine tiefe Stille ringsum, kaum hie und da ein Vogelruf und nur in langen Zwischenräumen der Pfiff einer Locomotive, die einen Wagenzug unten am Meer an diesen gesegneten Gefilden vorbeischleppte.

Der junge Mann aber, der durch den tropischen Garten des großen Hôtels herunterschritt und die sonnige Straße nach dem hochgelegenen alten Städtchen einschlug, schien für den Zauber dieses frühen südlichen Frühlings unempfänglich zu sein. Langsam, ohne rechts oder links zu blicken, die Augen auf die Kiesel am Boden geheftet, wandelte er unter seinem gelbseidenen Sonnenschirm dahin, als sei er in ein dunkles Problem vertieft, das seinen Geist nach innen kehrte. Ein auffallend hübsches Gesicht, eine schlank gewachsene Gestalt, in einem hellen englischen Sommeranzug vom neuesten Schnitt, ein weißes, weiches Filzhütchen aus dem kurz gehaltenen braunen Haar, in der blauen Crawatte eine große schwarze Perle. Bei alledem in der ganzen Erscheinung nichts Geckenhaftes. Wer ihm begegnete, mochte ihn, nach dem müden Ausdruck seiner Augen, für einen eben Genesenen halten, der sich behutsam wieder an die Sonne wagte. Und doch blühte das runde, regelmäßige Gesicht von frischer, unversehrter Jugendkraft, so daß selbst ein kundiger Zeichendeuter in Verlegenheit gewesen wäre, diesem sonderbaren Sterblichen das Horoskop zu stellen.

Als er sich dem alten Bordighera genähert hatte, blickte er auf und schien zu überlegen, ob er den Weg das steile Gäßchen hinauf fortsetzen solle. Aber die Engländerinnen, die, mit ihrem Malgeräth bewaffnet, dort oben Posto gefaßt hatten, als wollten sie die Straße sperren, mochten es ihm rathsam erscheinen lassen, seitwärts einzulenken. So kletterte er über ein niederes Mäuerchen zur Linken und stieg pfadlos in den Oelwald hinaus, der terrassenförmig sich zu der Strada Romana hinabsenkt.

Hier war es nun bezaubernd kühl und einsam. Aus den Sonnenflecken, die zwischen den spielenden Schatten über dem braunen, harten Grund lagen, schimmerten die wilden Veilchen und Tazetten hervor, und ein leiser süßer Duft wehte über die Halde. Auch das rührte den langsam Wandelnden nicht. Er hatte es zu oft gesehen und für wenig Soldi aus dem Marché de Fleurs in Nizza händevoll weit schönerer Blumen gekauft, um sie einer koketten Dame zu verehren. Hastig stieg er höher, als komme es ihm darauf an, Jemand zu entlaufen, vielleicht nur sich selbst. Denn daß ihm seine eigene Gesellschaft nicht gerade erfreulich war, verrieth der seltsam müde Zug unter dem braunen Schnurrbärtchen, der ein mit sich oder der Welt unzufriedenes Gemüth erkennen ließ.

Auch seufzte er zuweilen, nicht weil das Steigen ihm beschwerlich wurde, sondern wie um die Brust von einem unbequemen Gedanken zu befreien. Indessen war er ziemlich hoch hinausgekommen und hielt nun an, um sich nach einem richtigen Wege umzusehen. Der lief nicht fern von ihm in schmalen Windungen zwischen den knorrigen Wurzeln der Oelbäume nach der Fahrstraße hinunter und droben noch ein gut Stück sichtbar hinauf. Als er ihn aber eben betreten wollte, sah er drüben aus einem niedrigen Mäuerchen eine Gestalt sitzen, die ihm einer näheren Musterung werth erschien.

Er wußte selbst nicht recht, was ihn dazu reizte. Auf den ersten Blick war's eben nur eines der vielen weiblichen Geschöpfe, die mit ihren Skizzenbüchern und Malkästchen diese stillen Winkel der Riviera unsicher machen. Auch war das junge Profil unter dem einfachen dunklen Strohhütchen nicht von klassischem Schnitt, ihr Anzug von großer Einfachheit. Als aber das fleißige Fräulein jetzt von seiner Mappe aufsah und mit einem raschen Blick den spähenden jungen Mann streifte, sehr gleichgültig und durchaus nicht verlegen, fühlte er sich unwillkürlich bewogen, die Hand bis zu seinem Hut zu erheben und die Fremde mit einer höflichen Verbeugung zu grüßen.

Sie erwiderte den Gruß nur mit einem leichten Neigen des Hauptes und fuhr dann eifrig fort, ihren Pinsel über das Landschäftchen hinzuführen, als ob ihr die plötzlich aufgetauchte Staffage nicht den geringsten Eindruck gemacht hätte.

Der junge Mann schien von dieser kurz angebundenen Manier ein wenig befremdet zu sein. Offenbar war er gewöhnt, wenn er in seiner ganzen Herrlichkeit vor eine junge Dame hintrat, an der erhöhten Farbe ihrer Wangen oder einer Geberde der Befangenheit zu erkennen, daß man ihn für einen gefährlichen Menschen hielt, dem man entweder sich auf Gnade und Ungnade ergeben, oder gegen den man sich mit kaltem Stolz zur Wehr setzen müsse. Doch in der Einsamkeit eines Olivenhains von einem weiblichen Auge nur so obenhin gestreift zu werden, als habe sich irgend ein Waldgethier zutraulich herangewagt, konnte seine schlechte Laune nicht eben verbessern.

So ging er an der Dame vorbei die Halde hinan, im Stillen bereuend, daß er sie gegrüßt hatte. Doch konnte er's nicht lassen, sich noch weiter mit ihr zu beschäftigen. Was sie wohl für eine Landsmännin sein mochte? Eine Engländerin auf keinen Fall. Er hatte in seinem Hôtel Gelegenheit genug gehabt, die langen Hälse, spitzen Nasen und breiten Füße junger und alter Brittinnen zu studiren, und das Näschen der Malerin, ihr fester runder Hals, der schmale Fuß, der unter dem Saum des Kleides vorsah – nein, das alles war nicht englisch. Für eine Französin schien sie ihm allzu sehr jeder koketten Regung zu entbehren. Also blieb nur, da kein Zug des liebenswürdigen Gesichts an den italienischen Typus erinnerte, die Vermuthung übrig, daß er es mit einer Deutschen zu thun habe, deren Herz vielleicht schon in festen Händen und daher gegen den Zauber seiner Persönlichkeit gefeit sei.

Er war aber noch keine fünfzig Schritt gegangen, als ihm das Emporklimmen zwischen dem Gestein in seinen leichten braunen Juchtenschuhen zu beschwerlich wurde. Also ließ er sich auf einem Wurzelstumpf nieder und sah müde und verdrossen um sich her. Auch hier blühten Veilchen zwischen dem spärlichen Graswuchs und einzelne rothe und weiße Anemonen, daß man nur den Arm auszustrecken brauchte, um einen hübschen Strauß zusammenzubringen. Und wirklich machte sich der junge Wanderer daran, pflückte aber nur eine kleine Handvoll, die er dann neben sich ins Gras legte und gleichgültig betrachtete.

Denn unter ihm zwischen den altersgrauen Stämmen sah er einen Zipfel des blauen Schleierchens herausschimmern, den die Malerin um ihren Hut gewunden hatte, und zuweilen kam hinter dem Stamm, der ihre Gestalt seinen Blicken entzog, eine weiße kleine Hand hervor, die den Pinsel in ein Wasserfläschchen tauchte, um gleich wieder zu verschwinden.

Dies artige Versteckspiel schien dem Späher so anziehend zu sein, daß er die Augen unverwandt darauf gerichtet hielt. Als aber nach einer Weile aus irgend einem Grunde die Hand mit dem Pinsel nicht mehr zum Vorschein kam, litt es ihn auf einmal nicht länger an seinem Ruheplatz. Er richtete sich lebhaft auf, nahm die abgepflückten Blumen zu sich und stieg langsam den steinigen Waldpfad wieder hinab, bis er an die Stelle kam, wo die junge Fremde ihre Werkstatt aufgeschlagen hatte.

Sie wandte auch jetzt den Kopf nicht nach ihm um. So hatte er Muße, ihr verlorenes Profil zu studiren und den Umriß ihrer Büste, die von einer leichten Blouse umschlossen war. Die Mappe mit dem Aquarell ruhte auf ihren Knieen, auf einen Stein daneben hatte sie das Farbenkästchen gestellt. Das war alles so alltäglich, daß man schwer begreifen konnte, was einen zufällig des Weges Kommenden festzuhalten vermochte. Aber das Seltsame geschah, der junge Mann konnte nicht von der Stelle.

Endlich aber mochte er doch fühlen, daß es nicht wohl schicklich sei, als stummer Beobachter einer fremden Dame hier einzuwurzeln. So näherte er sich noch einen Schritt, lüftete wieder den Hut und sagte:

Würden Sie es sehr zudringlich finden, mein gnädiges Fräulein, wenn ich Sie um die Gunst bäte, mich Ihre Malerei sehen zu lassen? Sie werden von meinem Kunstverständniß eine sehr schlechte Meinung bekommen, wenn ich Ihnen den Grund gestehe. Ich habe nämlich keine Vorstellung, was Ihnen in diesem Olivenwäldchen als ein malerischer Gegenstand erschienen sein möchte.

Sie sah jetzt zu ihm auf, mit einem stillen Lächeln der Verlegenheit, und schien erst prüfen zu wollen, ob es der Mühe werth sei, sich mit dem unberufenen Störer näher einzulassen. Dann sagte sie: Es ist hier freilich keine Vedute vorhanden, unter die man schreiben könnte »Motiv von Bordighera«. Es handelt sich nur um einen Patriarchen des Oelwalds, dort drüben den uralten, rissigen, geschwärzten Stamm, der eigentlich nur noch Rinde ist, und doch – sehen Sie, wie frische Triebe er nach allen Seiten ausstreckt, und ich bin sicher, sie werden alle noch Früchte tragen. Es hat etwas Rührendes, einen solchen Invaliden nicht wie andere alte Knorren sich zur Ruhe setzen, sondern fortarbeiten zu sehen, bis er zu Staub zerfällt. Und wie hübsch sich seine jüngeren Nachbarn zu ihm herüberkrümmen! Diese bescheidene Studie hat mir mehr Vergnügen gemacht als die glänzendsten Meer- und Strandlandschaften, die für mich auch zu schwer zu sein pflegen.

Er war dicht an sie herangetreten und hatte sich in das beinah vollendete Blatt vertieft.

Es fehlt noch viel, sagte sie. Und das silberne Laub, das sich wie ein leichtes Gewebe um die schwarzen Aeste legt, bring' ich überhaupt nicht recht heraus. Es macht ja auch keine Ansprüche, ein fertiges Kunstwerk vorzustellen.

Sie sind aber doch Malerin, gnädiges Fräulein?

Durchaus nicht. Nur eine mittelmäßige Dilettantin. Und leider habe ich nie einen richtigen Unterricht genossen; ich hätte es sonst wohl ein bischen weitergebracht.

Wie? Das haben Sie Alles sich selbst zu verdanken? Dürfte ich wohl auch die anderen Studien sehen, die Sie in Ihrer Mappe haben?

Sie zauderte ein paar Augenblicke mit der Antwort. Wie kam sie dazu, mit einem wildfremden Menschen plötzlich so vertraut zu werden? Und nun setzte er sich gar, ohne um Erlaubniß zu bitten, auf das niedere Mäuerchen neben sie, freilich in respectvoller Entfernung. Aber der müde, unfrohe Zug in seinem Gesicht beruhigte sie über alle Bedenken, ob sie klug thäte, ihm so weit entgegenzukommen.

Es ist nicht viel Gescheidtes in der Mappe, sagte sie. Ich kam vor vier Wochen noch sehr matt von einer schweren Influenza hieher und wurde durch meine ersten Versuche, die kläglich ausfielen, ganz eingeschüchtert. Erst nach und nach fand ich mich wieder hinein. Sehen Sie, diese Klippenstudie ist noch ganz kindisch und nicht viel besser dieser Palmengarten neben der Villa Garnier. Hier aber, das alte Städtchen über dem Strandkirchlein giebt schon eher einen Begriff, wie hübsch sich's in der Wirklichkeit ausnimmt, und mit dieser Cypressengruppe neben dem Treppenausgang zum Stadtthor bin sogar ich selbst zufrieden, immer mit dem Vorbehalt, daß zwischen so bescheidenen Pfuschereien und wirklichen Kunstwerken ein Unterschied ist, wie zwischen einer kümmerlichen Fächerpalme in einem Holzkübel bei uns zu Hause und den Riesen, die hier ihre Stämme hoch in die Luft heben, nachdem sie sie durch eine dicke steinerne Mauer durchgezwängt haben.

Er hatte Blatt für Blatt aufmerksam betrachtet, ohne irgend ein Wort zu äußern. Als sie die Mappe wieder schloß, sagte er:

Ich habe genug Galerieen durchwandert, um doch nicht ganz der Laie zu sein, der ich Ihnen nach meiner ersten Aeußerung scheinen mußte. Und so dürfen Sie's nicht für ein leeres Compliment nehmen, wenn ich sage, daß Sie das entschiedenste Talent hätten, eine richtige Künstlerin zu werden, wenn Sie nur wollten. Warum wollen Sie also nicht?

Ihr heiteres, offenes Gesicht wurde plötzlich ernst.

Sehr einfach, sagte sie, weil ich Anderes zu thun habe, was nicht ganz so vergnüglich ist, aber wichtiger und nothwendiger.

Und darf man fragen –

Warum nicht? Ich bin Erzieherin in einem Mailänder Hause, schon seit zwei Jahren. Die Frau ist eine Schweizerin, die ihre Kinder, zwei Mädchen und einen jüngeren Knaben von sieben Jahren, etwas besser erziehen will, als italienische Kinder in der Regel erzogen werden, und ihr Mann, ein reicher Seidenhändler, läßt sie gewähren. Da wird nun von so einer deutschen maestra alles Mögliche verlangt, auch verschiedene Talente, aber beileibe keine Künstlerschaft. Mein Klavierspiel steht ungefähr auf derselben Stufe wie meine Malkunst, und die Hauptsache sind die obligaten Schulfächer und fremden Sprachen. Nur so in den Ferien, wie jetzt – die guten Leute haben mich auf vier Wochen beurlaubt, da ich stockheiser geworden war und meine Stunden nicht mehr geben konnte – da reizt es mich, es wenigstens mit dem Malen noch ein bischen weiterzubringen.

Er war, während sie dies mit dem einfachsten Tone vorbrachte, sehr nachdenklich geworden.

Es ist doch jammerschade! sagte er. Statt ein solches Talent frei auszubilden, müssen Sie in der drückenden Frohne schmachten.

O, Sie brauchen viel zu starke Ausdrücke. Ich habe von früh an gewußt, daß mir ein solcher Beruf zugewiesen sei, und Zeit gehabt, mich darauf vorzubereiten. Nun lebe ich in einem reichen Hause, wo man mich aber meine Armuth nicht empfinden läßt, habe die Kinder lieb und ein freundliches Verhältniß zu ihren Eltern. Tausende in meiner Lage hätten Grund, mich zu beneiden, und da ich trotz Ihres schmeichelhaften Urtheils die Ueberzeugung habe, zu keiner Kunst eine geniale Anlage zu besitzen, warum sollte es schade sein, daß ich von diesem Talent nur so nebenher Gebrauch mache? Ich erfahre es gerade jetzt, wie wenig dieses Dilettiren mich ausfüllt. Es ist, wie wenn man von Naschwerk leben soll, da hungert man nach seinem täglichen Brod. Meine sechs bis sieben täglichen Lectionen verschafften mir einen ganz anderen Appetit und Schlaf als dieser ästhetische Müßiggang. Ja, ich kann meinen alten Olivengreis nicht ansehen, ohne mich ein bischen zu schämen, daß ich mich hier mit meiner Stümperei vor ihn hinpflanze, während er im Stillen fortfährt, seine Arbeit zu thun, ohne viel Wesens davon zu machen.

Sie tauchte den Pinsel wieder in einen der dunklen Farbenkleckse auf der Palette und fuhr fort, das Innere des hohlen Stammes zu vertiefen.

Er sah ihr eine Weile schweigsam zu, und sie schien seine Gegenwart völlig zu vergessen. Da hörte sie ihn auf einmal sagen:

Wissen Sie, mein Fräulein, daß ich Sie von Herzen beneide?

Mich? – Sie wandte einen Augenblick den Kopf und musterte ihn von Kopf bis zu den Füßen. – Sie scherzen! Was ist an meiner Lage beneidenswerth? Das bischen Aquarelliren könnten Sie am Ende auch noch lernen. Und im Uebrigen – da Sie wohl kaum wünschen können, Hauslehrer bei einem Seidenhändler zu werden –

Nein, unterbrach er sie. Ich meine es ganz ernst. Ich beneide Sie darum, daß Sie einen Beruf haben, der Ihnen jeden Abend das angenehme Bewußtsein giebt, wieder einmal Ihre Schuldigkeit gethan und Ihren Schlaf verdient zu haben. Dies Gefühl kenne ich nicht.

Sie sah ihn betroffen an.

Aber Sie werden doch irgend etwas thun. Wie kann man sonst über den langen Tag hinüberkommen?

Das ist ja eben das schwierige Problem, das mich jeden Tag von Neuem peinigt. Doch ich weiß nicht, wie ich dazu komme, Ihnen dergleichen vorzuklagen, da ich Ihnen ja ganz fremd bin und auf Ihr Interesse nicht den geringsten Anspruch habe.

Sie legte den Pinsel weg und fing an, ihr Malgeräth zusammenzupacken.

Wenn Sie mir auch ganz fremd sind, sagte sie – ich selbst habe Ihnen ja in den ersten fünf Minuten allerlei von mir erzählt; warum sollten Sie nicht ebensoviel Vertrauen zu mir haben? Zwei Menschen, die sich in der Fremde begegnen, pflegen unbedenklich am ersten Tage sich soviel von einander mitzutheilen, wie manchmal zu Hause nicht in drei Jahren. Man weiß es ja, es ist sans conséquence, da man morgen schon auf Nimmerwiedersehen auseinandergeht. Und wenn Sie an ein tieferes menschliches Interesse bei mir nicht glauben, befriedigen Sie eine sehr verzeihliche Neugier. Wie ist es möglich, daß ein gesunder Mensch durchs Leben geht, ohne sich irgend eine Aufgabe zu stellen, irgend welchen Platz auszufüllen, den kein Anderer ihm streitig machen kann?

Er zerpflückte eine der Anemonen, die er aus dem Sträußchen gezogen hatte.

An einem solchen Platze fehlt mir's nicht, sagte er, vor sich hinblickend. Aber gerade das ist der Grund meines bitteren far niente. Ich bin nämlich der Sohn meines Vaters.

Ja, fuhr er fort, als sie erwartungsvoll schwieg, was das heißen will, wird Ihnen schwerlich klar sein. Haben Sie einmal den Namen der Firma Georg Schmidtlein & Compagnie gehört? Nun, wie sollten Sie! Der Mann, der diesen Namen trägt, hat sich von kleinen Anfängen an zu einem der reichsten Fabrikbesitzer im Königreich Sachsen heraufgearbeitet, die Tochter eines noch reicheren Bankiers geheirathet und commandirt jetzt so und so viel Millionen. Ich aber habe den verhängnißvollen Vorzug, der einzige Sohn dieses wackeren Paares zu sein.

Darin kann ich noch kein Unglück finden, sagte sie ruhig. Hätten Sie denn nicht den natürlichen Beruf, Ihrem Vater bei seinen Unternehmungen zur Seite zu stehen, da Sie doch einmal früher oder später an seine Stelle treten werden?

Sie irren, mein Fräulein. Eben dazu bin ich gründlich verdorben, zum Theil durch mein Naturell, das sich gegen eine solche praktische Thätigkeit sträubt, zum Theil durch die Erziehung meiner Mutter, die einen etwas schwärmerischen Hang, eine ideale Geistesrichtung hat und mich in meinem Abscheu gegen das klappernde Maschinenwerk unserer Spinnereien bestärkte! Auch konnte ich die blassen Gesichter der sechshundert Arbeiter und ihrer Frauen und Töchter nie sehen, ohne mir zu sagen: die alle darben, damit du aus dem Vollen leben kannst.

Sie verstehen nun wohl, fuhr er fort, daß ich glücklich war, als ich aus unserer rußigen Luft in die reinere der Universitätsstadt kam, wo ich drei Jahre blieb. Aber zu einem sogenannten Brodstudium kam es nicht. Ich hatte Interesse für alle geistigen Probleme der verschiedensten Wissenschaften. Wozu aber sollte ich mich an eine binden, um die Concurrenz noch zu vermehren und einem armen Teufel den Bissen Brod vorm Munde wegzufischen, wenn ich Assessor oder Privatdocent der Philosophie oder Arzt wurde? Konnte man mir nicht mit Recht vorhalten, daß ich's nicht »nöthig hätte«, da ich ja der Sohn meines Vaters sei?

Und so ist es denn gekommen, daß ich ein leidlich gebildeter Mensch geworden bin – ich habe sogar meinen Doctor gemacht – und doch in keinem Bereich des öffentlichen Lebens festen Fuß gefaßt habe. Meiner Mutter scheint das ganz in der Ordnung, der Papa zuckte zwar die Achseln, fand sich aber damit ab, da er beschloß, die Fabrik in ein Actienunternehmen zu verwandeln, wobei ich dann von jedem Eingreifen in das Geschäft dispensirt sein würde.

Anfangs war mir die Sache auch nicht unheimlich. Ich sagte mir vor, auch diejenigen unter den Römern und Griechen, die dazu die Mittel besaßen, haben sich nur mit ihrer geistigen Ausbildung zu schaffen gemacht. Die jungen Leute zum Beispiel, die sich um Sokrates und Plato sammelten, waren Tagediebe meines Schlages und befanden sich wohl dabei. Und dann – ich konnte ja auch reisen, wohin mich's gelüstete. Das half mir wirklich über meine innere Leere hinweg – zwei, drei Jahre. Dann freilich – kam's um so drückender über mich.

Er warf den zerpflückten Blumenstengel fort und stand auf. Auch sie erhob sich.

Verzeihen Sie, mein Fräulein, sagte er, daß ich Sie mit dieser uninteressanten Geschichte eines unfruchtbaren Lebens gelangweilt habe. Glauben Sie mir, es ist gar nicht meine Schwäche, als Märtyrer des Glücks zu posiren, um mich von schönen Seelen bemitleiden zu lassen. Sie sind der erste Mensch, dem ich eine solche Beichte abgelegt habe, und jetzt kommt es mir selbst ganz verrückt und unverzeihlich vor, daß ich's gethan. Unheilbare Leiden soll man schweigend ertragen.

Sie zuckte, ernsthaft vor sich hin blickend, die Schultern.

Unheilbar? Ich kann mir vorläufig nicht vorstellen, daß sich für Ihre chronische Thatlosigkeit nicht irgend ein hülfreiches Mittel finden lassen sollte. Warum werfen Sie nicht das viele Geld, das Ihnen lästig ist, von sich und behalten nur so viel, um die Ueberfahrt nach Amerika bezahlen zu können? Gegenüber der Notwendigkeit, Ihr nacktes Leben sich zu verdienen, würde die Erwägung, daß Sie im Grunde der Sohn eines Millionärs seien, Ihnen nicht störend sein. Irgend eine Ihrer Kenntnisse und Anlagen müßten Sie drüben doch hervorsuchen, und wenn Sie die ersten zwanzig Dollars verdient hätten, würde das Geld, das Sie jetzt hassen, Ihnen recht liebenswerth erscheinen, und Sie verdienten sich Ihren Schlaf wie jeder Tagelöhner oder eine Erzieherin von drei italienischen Kindern.

Er schüttelte langsam den Kopf. Das klingt ganz vernünftig, sagte er, aber erstens kann ich's meiner Mutter nicht anthun, sie zu verlassen, und dann – Sie glauben nicht, wie Müßiggang entnervt. Natürlich nur ein geistvoller. Denn ich habe zwar nicht Geist genug, irgend etwas Bedeutendes hervorzubringen, aber genug, um mich furchtbar zu langweilen, zumal unter banalen oder innerlich rohen Menschen, wie sie in meiner Welt der jeunesse dorée die Mehrzahl bilden. Dies habe ich eben wieder in Paris erfahren, wo ich ein Paar Monate zubrachte. In Montecarlo vollends konnte ich nicht acht Tage aushalten, obwohl ich ein fabelhaftes Glück hatte, so oft ich spielte. Was aber liegt mir am Gewinn? Dann bin ich in dies einsame, ländliche Bordighera geflüchtet, mit allerlei interessanten, neuen Büchern. Aber immer sehen zu müssen, wie gute und redliche Arbeit Andere gemacht haben – auf die Länge hält man das vor Neid nicht aus. Und doch – in einem neuen Welttheil von der Pieke auf dienen, nur um siebenmal in der Woche satt zu werden, – wenn man mir das mit Engelszungen predigte, ich würde nicht die Kraft dazu haben. Ich muß nun so verbraucht werden, als ein unnützes Glied der menschlichen Gesellschaft.

Darauf schwiegen sie Beide und stiegen langsam durch den Oelwald auf die breite Straße hinab. Er fühlte sich so wohl, wie lange nicht, da er sein Herz einmal erleichtert hatte, und bedauerte nur, daß er keinen Vorwand hatte, die liebenswürdige Bekanntschaft sogleich noch ein Weilchen fortzusetzen. Denn auf die Frage, ob sie etwa auch in seinem Hôtel wohne, obwohl er sie bisher nicht bemerkt habe, da er sich um die Hausgenossen nicht zu bekümmern pflege, erwiderte sie, das sei kein Quartier für eine arme Gouvernante. Sie habe sich bei einem Buchbinder unten im Ort einlogirt und in Kost gegeben. Sie sei zufällig in sein Lädchen getreten, wo Schreib- und Zeichenmaterialien, Karten und Photographieen der Umgegend und etliche Exemplare der billigen Biblioteca amena ausgelegt waren, und zumal die Frau habe ihr so gefallen, daß sie gefragt habe, ob sie nicht ein Zimmer zu vermiethen habe. Das habe Jene nun schon früher zuweilen gethan, und zufällig sei die letzte Insassin vor wenigen Tagen abgereis't, so daß sie habe einziehen können, zu einem lächerlich geringen Preise. In seinem großen Hôtel würde sie das Vierfache zahlen müssen. Und außer dem reinlichen Zimmer und Bett und der ganz genügenden Verpflegung genieße sie noch den Umgang mit ihren biederen Wirthsleuten und studiere die Sitten des Volkes.

Nun erzählte sie lachend, daß der Buchbinder ein strebsamer Mann sei, der die Bücher, die man ihm zum Binden gebe, in aller Eile oft bis in die späte Nacht hinein durchzulesen pflege. Eine seiner drolligsten Lesefrüchte seien die hochtönenden Namen, die er seiner Nachkommenschaft, einem halben Dutzend derber Jüngelchen, gegeben habe, als da sind: Adherbale, Senosonte, Aminto, Palamede, Dante, Fortunato. So müsse sie immer von Neuem lachen, wenn Aminto Schläge bekomme, weil er aus der Pfanne mit den gebackenen Fischen genascht habe, oder Dante für irgend einen Schelmenstreich una grossa lavata di capo erhalte.

Ihre Heiterkeit steckte auch ihn an, und er erzählte allerlei, was er unter dem niederen italienischen Volk erlebt hatte, das er für einen Haufen pathetischer Kindsköpfe erklärte. Das Wort schien ihr sehr treffend; sie fragte ihn, warum er sich nicht zum Schriftsteller ausgebildet habe. Er würde gewiß viel Interessantes von seinen Reisen zu erzählen haben. Er zuckte die Achseln. Es giebt so Viele, sagte er, die davon leben, daß sie müßig gehen und darüber berichten. Ich würde mich schämen, mir mein Nichtsthun noch honoriren zu lassen.

*

Vor dem Hause des Buchbinders verabschiedete er sich von dem Fräulein, ohne zu fragen, ob er hoffen dürfe, sie wiederzusehen. Das verstand sich ja von selbst, da auch sie einsam war und keinen Grund hatte, sich vor ihm zu verstecken. Er stand noch einen Augenblick und hörte, wie die Frau des Buchbinders sie begrüßte: die Colazione warte schon auf sie, und wie einige der schwarzhaarigen Buben ihr entgegensprangen, ihr das Malgeräthe abzunehmen, Senosonte im Wetteifer mit Palamede und Adherbale sich darum zu raufen anfingen, bis die Mutter mit einigen festen Püffen Frieden stiftete. Sie schien sehr beliebt in der Familie zu sein. Auch sprach sie ja sehr hübsch und fließend die Landessprache.

Langsam ging er dann die einzige Straße des Städtchens entlang, blickte hie und da in ein Schaufenster, horchte auf die Brandung des nahen Meeres hinter den Häusern und kam endlich, immer tief in sich versunken, ohne zu wissen, worüber er nachdachte, in seinem Hôtel wieder an. Es war längst zum Lunch geläutet worden. Er that einen Blick in den hohen, hellen Speisesaal, wo er an zwei langen gesonderten Tischen die deutsche und die englische Hausgenossenschaft andächtig mit der Stillung ihres Hungers beschäftigt sah. Seinen leeren Platz aber zwischen einem deutschen Professor und einer dicken Hamburgerin einzunehmen, gegenüber einem stummen Flitterwochenpaar, das sich nach deutscher Sitte auch bei Tisch beständig die Hände drückte, konnte er sich nicht entschließen.

Er stieg in sein Zimmer hinauf, das einen Balkon nach dem Meere hinaus hatte, saß dort, eine Cigarette rauchend, in den Anblick der purpurnen Bläue vertieft, zum erstenmal seit langer Zeit von einem Gefühl des Wohlseins durchdrungen, über dessen Ursache er sich vergebens Rechenschaft zu geben suchte.

Was hatte er so Besonderes erlebt? Eine halbe Stunde mit einer fremden jungen Dame verplaudert, von deren Gesicht ihm nur der Mund ganz deutlich im Gedächtniß geblieben war, mit den festen, etwas vollen Lippen, hinter denen die gesunden kleinen Zähne blitzten, wenn sie lächelte. Er hatte einmal gelesen, daß es kluge und dumme Zähne gebe, sogar geistreiche Zähne. Das war ihm gesucht und unwahr erschienen. Jetzt fand er es plötzlich richtig: das Fräulein hatte kluge Zähne.

Uebrigens, so angenehm es sich mit ihr plaudern ließ, etwas Ungewöhnliches hatte sie nicht gesagt. Auch hatte ihn mehr ihr Charakter als ihr Geist angezogen, dies heitere Aufsichselbstberuhen, das genaue Wissen, was sie im Leben wollte und sollte. Wenn sie ihn das lehren könnte! Aber das wird einem ja angeboren, zugleich mit den besonderen Verhältnissen, die Niemand sich aussucht, die Jeder mit auf die Welt bringt.

Er fand es endlich sonderbar, über etwas so Unbedeutendes beständig nachzugrübeln, ließ sich aus dem Zimmer serviren und hielt dann, einen neuen Roman in der Hand, seine Siesta, bei der er fest einschlief.

Doch sobald er erwachte, stand die Gestalt der Malerin wieder vor seinen Augen, die Züge des Gesichts, nun völlig verschwommen, bis auf das Streifchen der »klugen« weißen Zähne, und nur ihr Lachen hörte er deutlich durch alles Meeresrauschen hindurch, wie sie ihm die Namen der Buchbinderbübchen herzählte: Adherbale, Dante, Senosonte, Aminto …

Eine unbezwingliche Begierde ergriff ihn, dies Lachen wieder zu hören. So trat er vor den Spiegel, sein Haar zu ordnen und sich zum Ausgehen zu rüsten, und stand eine ganze Weile in das Studium seiner eleganten Erscheinung vertieft. Man hatte ihm gesagt, daß er eine entfernte Aehnlichkeit mit Lord Byron habe. Er legte aber kein Gewicht darauf, da er es vorzog, seinen eignen Weltschmerz in seinen Augen dämmern zu sehen und auf seine eigene Hand interessant zu sein. Nur seinen hellen Anzug vertauschte er mit einem unscheinbareren und setzte einen schwarzen Hut auf, der seine Stirn tiefer beschattete. Dann verließ er das Haus.

Soviel er aber aus den Hügeln und unten am Strande herumstreifte, die Spur, die er suchte, war nicht zu entdecken. Einmal glaubte er den blauen Schleier hinter einer Gartenmauer flattern zu sehen, da ein lebhafter Wind sich aufgemacht hatte. Es war aber eine Täuschung, wie auch die Laute, die hin und wieder an sein Ohr schlugen, ihn an jenes Lachen erinnernd, aus ganz fremden Kehlen stammten.

Als die Sonne hinter der Tête de Chien über Monaco unterging, trat er mißmuthig den Heimweg an. Die Kinder auf der Landstraße, die ihm oft ihre Veilchen- und Tazettensträußchen angeboten und sonst immer ihren Soldo erhalten hatten, wunderten sich, daß er heute kein Auge für sie hatte. Und bei Tische in dem hohen, lampenhellen Saale saß er so zerstreut und stumm, daß die gute Hamburgerin ihn alles Ernstes als ein neues Opfer der Influenza zu beklagen anfing.

Niemals war ihm etwas Aehnliches begegnet. Den Gedanken, daß er sich verliebt haben möchte, wies er selbst weit von sich. Ein paarmal in seinem jungen Leben hatte er sein Herz verloren, das war dann aber auch der Mühe werth gewesen: eine triumphirende Schönheit, zu der eben nur der »Sohn seines Vaters« die Augen zu erheben wagen durfte, oder eine ausgelernte Kokette, die ihr Netz nach ihm auswarf, und der er mit genauer Noth entschlüpfte. Aber die erste beste gutbürgerliche Deutsche, die man höchstens anmuthig nennen konnte – nach einem kurzen Gespräch über gleichgültige Dinge – eine Gouvernante, die gewiß bei näherer Bekanntschaft sich als eine kleine Pedantin entpuppen würde – lächerlich, nur einen Augenblick daran zu denken, so etwas könne einem jungen Adonis und Millionär gefährlich werden!

Nun, es ließ denn auch im Laufe des Abends von ihm und störte nicht im Mindesten seinen gesunden Schlaf, nachdem er ein paar Flaschen Stout Ale zu sich genommen und mit dem alten weißhaarigen Holländer sieben Partieen Billard gespielt hatte.

Am Morgen aber, als die goldenste Sonne zu seinem Balkon hereinschien – da war's richtig wieder da! Auch die Briefe, die er empfing und während des Thees überflog, konnten den Spuk nicht bannen – die »klugen« weißen Zähne und das feine, liebenswürdige Lachen! Aber nun war ja Hoffnung, daß er die wunderliche Besessenheit abschütteln würde, wenn er die Fremde wiedersähe und zu der Erkenntniß käme, daß wirklich gar nichts Besonderes an ihr zu finden sei.

Er hatte ja gestern bemerkt, daß sie an ihren geliebten Olivengreis noch die letzte Hand anzulegen hatte. Also mußte sie wieder an demselben Ort zu finden sein, und wenn er wieder – zufällig – desselben Weges käme, wäre nichts Auffälliges dabei. Warum sollte man nicht seine Lieblingspfade gehen, auch ohne künstlerische Nebenzwecke?

*

Richtig, da saß sie wieder auf dem Mäuerchen, genau wie gestern, und ihr kurzes, aber freundliches Nicken, womit sie für seinen Gruß dankte, zeigte ihm deutlich, daß sie es nicht übel nahm, wieder gestört zu werden, ja sein Wiederauftauchen unter dem grauen Oelwaldschatten wohl gar erwartet hatte.

Er setzte sich auch wieder wie gestern neben sie – nur der Malkasten zwischen ihnen – ohne ihre Erlaubniß abzuwarten. Und sie malte ruhig fort, als wäre Alles so in der Ordnung.

Wo sie gestern den ganzen Nachmittag gesteckt habe? fragte er. Er wolle nur gestehen, er habe sie eifrig gesucht, er hätte sich gern von ihr ein wenig anleiten lassen im künstlerischen Genießen der schönen Natur.

Sie erzählte ihm, daß sie einen herrlichen weiten Spaziergang gemacht habe über weitgestreckte Hügel gegen San Remo hin bis nach Ospedaletti, zu einem versteckten Häuserhaufen, wo man ihr ein Glas süßen schwarzen Weins geboten hatte. Sie konnte nicht genug rühmen, wie herrlich es dort gewesen sei.

Er horchte nur zerstreut auf ihre Worte, desto mehr auf den Ton ihrer Stimme und prägte sich dabei sorgfältig ihre Züge ein, um sie nicht wieder aus dem Gedächtniß zu verlieren.

Plötzlich sagte er: Wir sind einander noch gar nicht einmal ordentlich vorgestellt. Hier, mein gnädiges Fräulein, gestatte ich mir, Ihnen meine Karte –

O, sagte sie lächelnd, dessen bedarf's nicht. Ich weiß ja schon, daß Sie der Sohn von Gebrüder Schmidtlein & Compagnie sind, Dr. der Philosophie. Nur Ihr Vorname –

Alfred, Alfred Schmidtlein.

Danke. Ich selbst – eine Karte habe ich nicht bei mir – heiße Luise Henneberg. Das werden Sie morgen schon wieder vergessen haben. Oder sollte Ihnen der Name meines Vaters schon einmal begegnet sein? Ich weiß nicht, ob Sie Sammler sind.

Sammler?

Von Alterthümern. Millionäre und ihre Söhne treiben ja manchmal diesen Sport und schleppen so ein kleines Privatmuseum zusammen. Mein Vater nämlich ist seines Zeichens ein Antiquar, wie schon der seinige und der Urgroßvater waren. In Nürnberg, wo wir leben, ist er sogar eine Art Berühmtheit (mit einem Seufzer) –, eine »Art« sage ich, denn man hält ihn für einen größeren Sonderling als Kunstkenner. Wäre er ein reicher Mann, so könnte er sich all seine curiosen Passionen gönnen, die darin bestehen, daß er alles gothische Gerümpel, Bilder, Waffen, Geräthe, Gewebe, alte Truhen und Schlüssel zusammenkauft, mit großen Kosten restaurirt und dann in seinem Magazin aufspeichert. Gott aber hat ihn in seinem Zorn auch zum Händler mit solchen Sachen gemacht, denn Sie sollten nur sehen, welchen Kampf es ihn kostet, ein werthvolles Stück, das er mit zärtlicher Mühe zusammengeflickt, polirt und gefirnißt hat, wieder herzugeben, wenn sich ein Liebhaber dazu findet. Wir hatten oft nicht den Bissen Brod im Hause, und er hätte doch Gelegenheit gehabt, Tausende zu verdienen, wenn er sich nur einen wurmstichigen Schrank oder eine alte Schabracke vom Herzen gerissen hätte. Ich sehe noch meine arme Mutter, wie bittere Thränen sie oft über diesen »Wahnsinn« des Papa's geweint hat, und nur ich hatte zuweilen so viel Macht über ihn, daß er Vernunft annahm. O, und er ist doch ein so edler, herrlicher Mensch, und wie weh that es mir jedesmal, wenn ich ihm sanften Zwang anthun mußte, um das Haus nicht zu Grunde gehen zu lassen!

Sie neigte das Gesicht, von ihm abgewandt, tiefer auf die Brust, die Hand mit dem Pinsel glitt müßig in den Schooß.

Lebt Ihre Frau Mutter noch? sagte er nach einer Weile.

Sie ist vor zwei Jahren gestorben, noch recht jung, aber das Leben hatte sie vor der Zeit erdrückt. Ich war damals gerade so weit, daß ich für sie eintreten konnte, leider nur aus der Ferne. Ich hatte schon die Stelle in Mailand bekommen, und so konnte ich dafür sorgen, daß der Haushalt so bescheiden wie bisher fortging. Die ältere meiner beiden Schwestern ist zwar erst siebzehn, aber verständig und geschickt über ihre Jahre, und die Mutter hatte sie gründlich zu allen häuslichen Dingen angehalten, da ich selbst inzwischen in München meine Studien machte und meine jüngste noch in die Schule ging. Meine beiden Brüder waren gut aufgehoben, einer bei einem Onkel, der Baumeister ist, in der Lehre, der andere, mein Liebling, in der Kadettenschule. Sehen Sie, ich hatte von einer alten Tante, die mich immer den Geschwistern vorgezogen, eine kleine Erbschaft gemacht, nur ein paar tausend Mark, aber es reichte gerade, daß ich mich ausbilden konnte, um Musik und Sprachen zu lernen. Nun habe ich die Freude, meine Pflicht als älteste thun zu können, daß der Vater wenigstens keine Noth leidet. Denn da ich, wie Sie sehen, keine Ansprüche auf elegante Toilette mache, kann ich mein ganzes Gehalt nach Hause schicken.

So denken Sie immer nur an Andere, nie an sich?

Sie warf ihm einen fast mitleidigen Blick zu. Dann sagte sie lächelnd: O, ich bin eine große Egoistin. Ich thue immer, was mir am meisten Vergnügen macht. Glauben Sie wirklich, es würde mir lieber sein, mein Geld für Chiffons auszugeben, statt für den Bäcker, Metzger und Hauswirth meines alten Papa's? Aber so ein junger Krösus versteht freilich nicht, wie sehr man das liebe Geld zu schätzen weiß, wenn es einem hilft, Sorgen fernzuhalten von Menschen, für die man noch weit mehr hingäbe als den armseligen Arbeitslohn. O, es ist doch eine gerechte Vertheilung der Güter in dieser Welt, das habe ich immer behauptet, denn als Mutter meiner Geschwister bin ich gewiß reicher, als ein einziger »Sohn seines Vaters«, wie Sie sich genannt haben.

Daraus verstummte sie und fuhr wieder eifrig mit dem Pinsel in dem Olivenlaub aus ihrem Aquarell herum. Sie hatte sich etwas heiß gesprochen, es stand ihr aber gut, ihre Augen blitzten, und das schöne braune Haar wehte um ihre glühende Wange, von der er die Augen nicht abwenden konnte. Nach einer Weile schien sie zu empfinden, daß ihre Worte ihn verletzt haben mochten, da er keine Silbe hervorbrachte, sondern einen ihrer Pinsel zwischen zwei Fingern hin und her balanciren ließ. Sie fing nun an von Italien zu sprechen, das sie aus einer Herbstreise mit ihrer Mailänder Familie bis nach Amalfi und Pästum hinunter kennen gelernt hatte. Da wurde auch er wieder lebendig, und es traf sich, daß sie über verschiedene schöne Punkte und auch über Künstler und Kunstwerke dieselben Ansichten hatten. Das lös'te seine Verstimmung, er wurde wieder heiterer, und ihr munteres Lachen über allerlei Abenteuer, die er zum besten gab, stellte das gute Einvernehmen vollends wieder her. Der Tag war unvergleichlich schön, vom Meer kam wieder die frische Brise heraus und säuselte durch die Olivenhalde, von fern hörten sie ein kleines Concert wandernder Musikanten, die vor einem Hôtel ihre Flöte, Geige und Guitarre hören ließen und dazwischen mit etwas schnarrender Stimme neapolitanische Lieder sangen.

Sie hatte zu malen aufgehört und träumerisch vor sich hin geblickt. Als die Musik weiterzog, stand sie aus und sagte: Es mag nun genug sein, ich bring' es doch nicht ganz heraus, was mich an meinem alten Freunde bezaubert. Zu Hause fahr' ich wohl noch mit dem Gouachepinsel hinein und setze ein paar Lichter auf. Auch ist's Zeit zur Colazione.

*

Während er sie hinunter begleitete, fragte er, ob sie erlauben würde, daß er sie am Nachmittag zu einem Spaziergang abholte.

Sie bedauerte, sie werde kaum noch auf eine halbe Stunde an den Strand hinunter dürfen, sie habe eine Menge Briefe zu schreiben an Vater und Geschwister und ihre Kleinen in Mailand. Morgen vielleicht, wenn sich's so mache, aber ohne feste Verabredung. Und so gab sie ihm ihre Hand zum Abschied, eine schmale, warme Hand ohne Handschuh, da sie's nicht der Mühe Werth gefunden, für den kurzen Weg sie wieder anzuziehen, nahm ihm den Malkasten ab, den er ihr nachgetragen hatte, und verschwunden war das freundliche Gesicht hinter der Glasthür der Cartoleria.

Sofort fiel ihm ein grauer Schleier über den sonnigen Tag. Er wanderte an den Strand hinab und starrte, aus dem Geröll der groben Meerkiesel gelagert, lange in das einförmige Wellenspiel und über die azurene Fläche hinüber nach der weit vorgelagerten flachen Küste von Nizza und Cannes. Es war eine ätherische Stille weit und breit, nur das leise Anschlagen der Flut zu seinen Füßen und das Klopfen seines Herzens vernehmbar, und die Frage hinter seiner Stirn: Wie soll's noch werden? Werde ich sie wieder entbehren müssen? Werd' ich die Leere ausfüllen, die sie mir zurückläßt?

Auch jetzt war er überzeugt, daß er nicht im mindesten in sie verliebt sei. Ja, nur daran zu denken, daß man auch dieses Mädchen wie jedes andere in den Arm nehmen und küssen könne, erregte in ihm eine seltsame Empfindung, wie wenn er sich damit an etwas Unnahbarem, Unantastbarem vergriffe. Er hatte kein anderes Verlangen, als irgend etwas zu thun, wodurch er sich ein Lob von diesen lieblich strengen Lippen verdiente, und zergrübelte sein Gehirn, was das nur sein könnte. Wenn er so eine Schwester gehabt hätte, von früh an diese hellen Augen immer neben sich, dies Lachen gehört hätte bei all seinen müßigen Jugendstreichen – gewiß wäre ein anderer Mensch aus ihm geworden. Sie hätte es gar nicht gelitten, daß er seinem Herrgott die Tage und Jahre so unerhört nichtsnutzig abgestohlen hätte, er hätte, auch wenn sie ganz still geschwiegen, neben ihrer heiteren Thätigkeit seines Müßiggangs sich viel zu sehr geschämt.

Aber bleiben konnte es so nicht, darüber ging er zu Grunde. Er nahm sich vor, sie morgen zu Rathe zu ziehen, mit ihr zu überlegen, wofür er etwa am besten taugen möchte, welchen Weg er einschlagen sollte, um noch in ein thätiges Leben sich einzureihen. Sie werde es jedenfalls besser wissen als er selbst, schon ihr pädagogischer Beruf werde ihre natürliche Menschenkenntniß geschärft haben, und daß sie eine Art von Theilnahme für ihn hege, hatte ihm so manches freundliche Wort verrathen. Jedenfalls werde sie seinen ernsten Willen erkennen und ihm ihre Achtung nicht versagen, an der ihm leidenschaftlich gelegen war.

Mit diesem Beschluß beruhigte er sich ein wenig. Es war doch der erste Beginn der sich ermannenden Thatkraft, und so fühlte er sich vorläufig jeder Verpflichtung überhoben, selbst über seinen Lebensplan nachzudenken. Wieviel angenehmer und ersprießlicher ließ sich das zu Zweien thun!

Den Rest des Tages verbrachte er, so gut es eben gehen wollte, – wie man die Neige eines Weins wegwirft, der einem nicht sonderlich geschmeckt hat, ehe man die neue Sorte probirt. Er hätte auch Briefe zu schreiben gehabt – jede Woche mußte er der Mama von sich berichten –, aber mein Gott, was konnte darin stehen, als die alte öde Litanei, da er nun bald etwas so ganz Anderes von sich zu melden haben würde! So nahm er einen Wagen und fuhr eine Strecke gegen San Remo zu, stieg dann aus und aufs Gerathewohl die Hügel hinaus, die Häuser suchend, die sie ihm beschrieben hatte. Er fand sie nicht und bemühte sich indessen, mit ihren Augen die Landschaft zu genießen. Darüber verfiel er bald wieder in seine Zukunftsträume, verirrte sich und kam bei sinkender Nacht todmüde in seinem Hôtel wieder an.

*

Am andern Morgen aber, als er daran dachte, daß nun Ernst damit werden und das entscheidende Gespräch über seine Berufswahl stattfinden sollte, fiel ihm erst aufs Herz, daß es ja in der Schwebe geblieben war, wo er die Freundin finden würde. Wenn sich's so mache, hatte sie gesagt. Aber aus diesen Zufall konnte er's unmöglich ankommen lassen.

Er frühstückte in Eile und ging dann geradeswegs in das Städtchen hinunter, nach Fräulein Luise Henneberg's Wohnung. Hier in der Fremde, zumal im Süden, brauchte man sich an die übliche Besuchsstunde ja nicht zu binden, und jedenfalls, wenn sie noch nicht sichtbar wäre, würde sie ihm sagen, wann er sie abholen dürfe.

Er erfuhr aber zu seinem Schrecken von Senosonte, Dante oder Adherbale, die Signorina sei nicht mehr zu Hause, sie sei ganz früh fortgefahren und zwar nach Montecarlo, werde auch vor Abend nicht zurückkehren.

Nun, er wußte wenigstens, wo er sie zu suchen hatte, obwohl es ihm lieber gewesen wäre, seine Gewissensfragen in der Stille eines Oelwäldchens oder beim Rauschen der heiligen Salzflut mit ihr zu besprechen, als in dem widerwärtigen internationalen Getümmel des alten Spielnestes. Indessen auch dort wußte er abgelegene Spazierpfade, nicht bloß für Selbstmörder geeignet, sondern auch für Menschen, die sich in ein menschenwürdiges Leben zurückretten wollen. Da werde er sie hinführen und am Abend als ein neuer Mensch nach Bordighera mit ihr zurückkehren.

Also galt es nur, den nächsten Zug abzuwarten. Doch nein, er konnte, wenn er zu Wagen nach Ventimiglia fuhr, den Zehnuhrzug noch einholen, der dort der Douane wegen eine halbe Stunde Aufenthalt hat. So that er denn auch und erreichte endlich noch sehr früh am Vormittag sein Ziel.

Um diese Zeit war's noch still und leer in den blanken Straßen des Lasterörtchens und den üppigen Blumenanlagen um das Casino herum. Die eigentliche Gesellschaft, die gestern bis tief in die Nacht sich um die Spieltische gedrängt und dann noch ein paar Stunden ihre erhitzten Sinne mit Eis und Sect zu kühlen gesucht hatte, schlief noch ihren beklommenen fiebernden Morgenschlaf. Da die Spielhallen erst um Mittag sich wieder aufthun, wie sollte man die müßigen Stunden bis dahin ausfüllen? Inzwischen arbeiteten die Gärtner an den Beeten der Cyclamen, Tazetten und Kamellien und begossen den kurz geschorenen hellgrünen Rasen, Kindermädchen saßen neben den kleinen Wagen, in denen ihre Pfleglinge schlummerten, und flüsterten sich die Scandalchronik ihrer Herrschaften zu, und einzelne verlorene Touristen wandelten in den schattigen Anlagen oder an der Brüstung der Terrasse auf und ab, die Pracht des Himmels und der Erde bestaunend, die ringsum vor ihnen ausgebreitet war.

Ein paar Stunden hatte der junge Herr, der das Alles zu genau kannte, um sich noch daran zu erbauen, die breiten und schmalen Pfade und Gassen und Gäßchen der Stadt spähend durchwandelt, ohne des anmuthigen Gesichts unter dem blauen Schleier ansichtig zu werden. Wo war sie nur hingerathen? Ob sie überhaupt bis hieher gekommen, nicht etwa schon in Mentone ausgestiegen war? Es blieb nur noch die Hoffnung, sie droben auf der Feste Monaco zu finden. Doch war's über dem langen Suchen so spät geworden, daß sich das Bedürfniß nach einem ausgiebigen Frühstück nicht abweisen ließ.

Also nahm unser Freund an einem der Tischchen auf der Terrasse Platz und konnte, während er aß und trank, den Mißmuth darüber nicht ersticken, daß er dies nicht, wie er gehofft hatte, in der Gesellschaft seiner Freundin thun sollte unter klugen, tröstlichen Gesprächen. An der brennenden Unruhe, mit der er sie vermißte, merkte er doch endlich, daß sein Gefühl für sie mehr als brüderlich sei, daß zwar die Hochachtung und Verehrung für ihren Charakter stark mit im Spiele war, zugleich aber ihre junge Person, wie sie ging und stand, ihm ungemein reizvoll erschien, und daß er sich für den beneidenswerthesten Sterblichen gehalten hätte, wenn er jetzt ihre schmale, warme Künstlerhand in seine nehmen und nach Herzenslust küssen könnte.

Diese Entdeckung überströmte ihn mit einem unendlichen Wohlgefühl. War's doch zunächst schon ein »Lebenszweck«, ein solches Mädchen zu lieben, zu umwerben und glücklich zu machen. Heirathen, einen eignen Herd gründen, Kinder in die Welt setzen und sie besser erziehen, als man selbst erzogen worden, das wäre denn doch schon der Mühe werth, auf die Welt gekommen zu sein. Und wie er, seine Regalia rauchend und an dem Gläschen fine champagne nippend, dies alles überlegte und die verschiedenen seltenen Eigenschaften des lieben Mädchens erwog, die ihm eine überschwänglich glückliche Häuslichkeit verbürgten, wurde er so vergnügt, daß er am liebsten sofort ein Jubeltelegramm an die Mama abgeschickt und um ihren Segen gebeten hätte.

Zur rechten Zeit fiel ihm aber doch ein, daß zur Erfüllung dieser entzückenden Träume noch eine Kleinigkeit fehlte, das Einverständniß der Hauptperson, die zunächst aufzufinden war, ehe an etwas Anderes gedacht werden konnte. Daß dies übrigens nur eine Frage der Zeit sei, bezweifelte er nicht im mindesten. Als verwöhntes Kind des Glückes konnte er ja nicht denken, daß ihm ein so billiger Wunsch versagt werden würde.

Er erhob sich also, um von Neuem auf sie zu fahnden, bezahlte sein Frühstück und schlenderte nun am Casino vorbei geraden Weges die breite Straße hinunter, die nach den trotzig aufgethürmten Felsen von Monaco führt.

Der alte Freund der Liebenden, der Zufall, erbarmte sich seiner.

Er war kaum hundert Schritt gegangen, da sah er den hellen, weißen Weg herauf eine schlanke Gestalt sich ihm entgegenbewegen, von deren Hut ein blaues Schleierchen in dem frischen Lufthauch wehte.

Fräulein Luise! rief er, hastig auf sie zu eilend, sind Sie es endlich? Seit drei Stunden habe ich Sie vergebens gesucht. Warum haben Sie mir das angethan, da ich so gern den Cicerone in der Umgegend gemacht hätte, und sind allein hergekommen! Sie haben gewiß nicht die Hälfte gesehen und sind nun schon gründlich erschöpft.

O, sagte sie, ich habe Alles gesehen, was ich zu sehen wünschte. Aber wenn ich von etwas Neuem den richtigen Eindruck haben soll, muß ich allein sein. Gerade die anregendste Gesellschaft hindert mich, ein reines Verhältniß zu Allem zu gewinnen. Jetzt, da ich über diese weltberühmten Naturwunder mir meinen Vers gemacht habe, freut es mich in der That, mich darüber aussprechen zu können.

Sie gestand ihm nun offen, daß sie denn doch von Allem, was sie heut gesehen, ein wenig enttäuscht worden sei. Vor hundert Jahren möge dies Felsennest aus der hohen Meerwarte und zu seinen Füßen das tiefeingebettete Montecarlo einen überwältigenden Eindruck gemacht haben. Aber die Künste der Cultur hätten an dieser herrlichen Natur nicht herumpfuschen sollen, kein Operettenmonarch seine lächerlichen Bastionen oben hinpflanzen, das halbe Dutzend Kanonen auf dem Schloßplatz und den Kugelpark so prahlerisch zur Schau stellen, bewacht von einer Handvoll theatralisch uniformierter Soldknechte. Und die schöne ehemalige Wildniß am Strande von Montecarlo – wie anders müsse sie Auge und Herz entzückt haben, ehe diese elegante Villenstadt und das doppelthürmige geschmacklose Spielhaus den Zauber zerstört und eine zweideutige Bevölkerung hergelockt hätten, die einem die Schöpfung Gottes auf Schritt und Tritt durch den Anblick menschlicher Laster und Thorheiten entstelle und in der paradiesischen Landschaft einem den ewig wiederholten Sündenfall als Staffage vor Augen bringe.

Halten Sie mich nicht für eine philisterhafte Sittenrichterin, sagte sie, über ihren eigenen Eifer lächelnd. Ich würde wahrscheinlich nicht so in Hitze gerathen, wenn ich nur mehr ästhetische Befriedigung an diesem Menschenkehricht fände, etwas wirklich Schönes, Reizendes, wenn auch noch so Sündhaftes darin erblickte. Aber all diese geputzten Damen in den auffallenden Toiletten, aus dem Hut ganze Treibhäuser bunter Blumen finden Sie irgend ein Gesicht darunter, das auch nur den Zauber der Sünde an sich trüge? Und die alten und jungen Gecken, die ihre Cavaliere machen, dazwischen die confiscierten pergamentenen Masken der Spieler von Beruf und vollends grauenhaft die Kinder in überladenen Toiletten, die schon so bleich und nervös aus den Augen schauen! O wenn ich an die edlen Gestalten aus Anacapri oder die Arbeiterfamilien in Amalfi denke – das ist die würdige Staffage für eine wilde Küstengegend, und den ganzen Tag habe ich Mignon's »Dahin, dahin!« mir im Ohre summen hören.

Er hatte sie reden lassen, ohne anders als mit einem Kopfnicken sich zu äußern. Alles, was sie sagte, schien ihm außerordentlich klug und richtig, der glücklichste Ausdruck für das, was er selbst immer nur dunkel empfunden hatte. Dabei konnte er kein Auge von ihr wenden, so reizend fand er sie gerade heute in ihrer einfachen Kleidung unter all dem Affenputz der Halbweltdamen. Als eine große, sehr gepuderte und geschminkte Person ihnen entgegenkam und erst den eleganten schönen jungen Mann herausfordernd anblickte, dann einen spöttisch-mitleidigen Blick auf seine Begleiterin warf, ließ er sich sogar fortreißen zu einer höhnischen französischen Bemerkung, die ihm einen Wuthblick der Fremden eintrug. Er aber fühlte eine besondere Genugthuung, neben diesem schlichten deutschen Fräulein dahinzuwandeln in der Haltung eines Kammerherrn, der eine junge Fürstin begleitet.

Um doch endlich auch wieder zu Worte zu kommen, fragte er, ob sie nicht hungrig sei und irgendwo zu frühstücken wünsche. – Sie habe das schon besorgt, erwiderte sie, unten in dem Stadttheil, der Condamine genannt werde. Da habe sie ein bescheidenes Restaurant gefunden und Kräfte gesammelt, um die Höhe von Monaco zu erklimmen. Nun sei sie fertig mit allen Touristenpflichten, bis auf die Hauptsache, einen Blick in die Spielsäle. Wenn er sie dorthin begleiten wolle, werde sie ihm dankbar sein. Sie fürchte ohne einen Führer in diesen Bolge des irdischen Inferno vom Schwindel befallen zu werden.

Ob sie damit sagen wolle, daß sie fürchte, am Ende auch vom Spielteufel gepackt und zu Trente et Quarante verführt zu werden?

Sie schüttelte lächelnd den Kopf.

Davor glaube ich ganz sicher zu sein. Ich verehre das Geld viel zu sehr, um es zu einem bloßen Spiel zu mißbrauchen.

Sie und eine Verehrerin des Geldes? Das werden Sie mir nicht einreden.

O doch! Ich weiß wie sauer es erworben wird, wieviel Menschenglück daran hängt. Es erscheint mir geradezu ruchlos, daß es hier so händevoll auf einen grünen Tisch geworfen wird, bloß um Leidenschaften zu schüren. Ich kann das so wenig ertragen, als wenn ich leichtsinnig mit Brod spielen sehe.

Und Sie fühlen nicht das geringste Verlangen, wie man so sagt, auch einmal »Ihr Glück zu versuchen«? Wenn es Sie nun begünstigte und Sie in einer Viertelstunde reich machte?

So würde ich den Gedanken nicht loswerden, reich geworden zu sein auf Kosten eines Anderen, der jetzt vielleicht zum Bettler geworden. Sie sehen, der Gewinn könnte mich nicht glücklich machen. Verlöre ich dagegen selbst eine geringe Summe, das würde mich doch verdrießen. Ich würde denken, wie hübsch der neue Hut gewesen wäre, den ich für das Geld meiner Ella hätte kaufen, oder was ich den Brüdern dafür aus Mailand hätte schicken können. So philisterhaft bin ich zu rechnen gewöhnt. Da würde ich unter den Viveurs und Cocotten, die Tausende auf eine Nummer setzen, eine sehr spießbürgerliche Figur machen.

Er fühlte sich versucht, zu erwidern, daß sie in seinen Augen den wahren Menschheitsadel repräsentire, aber etwas, das als ein Compliment gedeutet werden könnte, hätte er um nichts in der Welt über die Lippen gebracht. Inzwischen hatten sie das Casino wieder erreicht und stiegen die Freitreppe hinauf.

Haben Sie eine Visitenkarte, Fräulein? fragte er.

Nein.

So müssen Sie sich's gefallen lassen, daß ich Sie für meine Frau ausgebe. Ohne einen Ausweis über »Namen, Stand und Charakter« wird Niemand eingelassen, außer ein notorischer Schuft oder Schwindler. Man hält etwas darauf, daß in diese edle Gesellschaft keine namenlosen Proletarier eindringen.

Sie wartete in der Vorhalle, und er erschien bald wieder, ihr eine blaue Karte vorhaltend, aus welcher Mr. Schmidtlein ›et Madame‹ der Eintritt in den Cercle des Étrangers gestattet war. Dann nahm er ihren Arm und führte sie in die weiten, reich decorirten Säle, in deren vorderem die fünf bis sechs Roulettetische schon von ihrem Publikum dicht umdrängt wurden, während die Elite der Spieler in den letzten Räumen sich dem feineren aber gefährlicheren Trente et Quarante zugewendet hatte.

Eine schwere, dunstige Luft erfüllte die Räume, ein ekles Gemisch von Staub, Modeparfüms und menschlicher Ausdünstung, das nie durch einen frischen Windhauch zu den kleinen Fenstern hinausgejagt zu werden schien. In dem Brodem, der eine gesunde Lunge gleich beim Eintritt überfiel, sollte sie sofort die Ansteckung des Lasters einatmen, die sich den feinsten Gehirnnerven mittheilt, je länger die Einwirkung dauert. Ist es möglich, flüsterte Luise ihrem Begleiter zu, daß Menschen ganze zwölf Stunden in dieser Atmosphäre aushalten? Und diese Croupiers, deren tägliches Geschäft es ist, sind sie nicht nach einer Saison zu Greisen verwelkt?

Sie stand nur kurze Zeit hinter der drei und vierfachen Reihe, die einen Roulettetisch umgab, und verfolgte den Lauf der Kugel und das Hin- und Herrollen der Goldstücke über die abgetheilte und numerirte Fläche mit abwesendem Geist, während er ihr das Spiel zu erklären suchte. Sehen Sie da drüben, sagte sie leise, die alte dürre Dame in dem ganz weißen Kleide, an der nichts lebendig ist als die kohlschwarzen Augen in dem aschfarbenen Gesicht und die kleine magere Hand, die den Rechen bewegt, um die Goldhäufchen auf die Nummern zu schieben – sieht sie nicht aus wie eine längst Begrabene, die nur jeden Mittag aus ihrem Sarge heraussteigt, weil ihre arme Seele keine Ruhe hat, bis sie wieder das Faites votre jeu und Rien ne va plus hört? Und vier Plätze von ihr, das ganz junge blühende Mädchen, dem die runden Wangen so fieberhaft brennen, sehen Sie, wie sie ihre Kärtchen mit der Nadel bearbeitet, als handle sich's um eine tiefsinnige Wissenschaft und sie schriebe bei irgend einem Professor ein Heft nach? Kommen Sie, führen Sie mich hinaus. Mir wird körperlich übel in diesem Irrenhause.

Nur noch einen Augenblick, bat er. Ich möchte doch nicht gehen, ehe ich Ihr Glück versucht habe. Bitte, sagen Sie mir, wann ist Ihr Geburtstag?

Er war schon vor acht Tagen.

An welchem Datum?

Am 17. März. Aber was haben Sie vor? Sie wollen doch nicht etwa –

Er hatte ihren Arm losgelassen und sich durch den lebendigen Wall der Spieler und Zuschauer an den Tisch vorgedrängt. Sie sah nur noch, wie er eins der großen Hundertfrancsstücke aus der Westentasche zog und aus den Tisch warf. Dann rollte die Kugel, die Spieler beeilten sich, ihre Einsätze zu machen, die Kugel hielt an.

Rouge. Dix-sept! hörte sie den Croupier sagen. Gleich daraus tauchte ihr Begleiter aus der Menge wieder hervor, in der Hand ein paar Tausendfrancsbillete und einige Goldstücke.

Voilà,! sagte er mit einem glücklichen Lächeln. Sie haben richtig, wie Alle, die auf das Glück zu lästern pflegen, die launische Göttin auf Ihre Seite gebracht. Da nehmen Sie, ich gratulire.

Mir? Aber wozu? Dies Geld gehört mir doch nicht. Ich habe ja nicht gespielt.

Nein, aber ich für Sie … Ich habe hundert Francs auf Ihre Siebzehn gesetzt, en plein, und richtig ist die Siebzehn gekommen und hat Ihnen das Fünfunddreißigfache eingetragen. Wieviel ist 17 mal 35? Jedenfalls ein kleines Vermögen, das Sie hoffentlich mit der garstigen Lust in diesem Inferno ein wenig aussöhnen wird.

Er hielt ihr immer noch lachend die Banknoten und das Geld hin, sie aber trat einen Schritt zurück.

Sie haben es ganz freundlich gemeint, sagte sie, aber dies Geld nehme ich auf keinen Fall. Meine Ansichten über Spielgewinn kennen Sie, und hätten Sie mir Zeit gelassen und sich näher erklärt, so hätte ich es nicht erlaubt, daß Sie für mich spielten. Da auch Sie das Geld nicht für sich werden verwenden wollen, so finden Sie gewiß einen wohlthätigen Zweck, vielleicht eine arme Familie in Bordighera, der Sie damit aufhelfen können. Nun aber habe ich genug von diesem Schauspiel, und mich verlangt nach einem Athemzug in unverfälschter Gotteslust.

Sie ging ihm voran, dem Eingang zu, und er folgte ihr auf dem Fuße, von Neuem voll Bewunderung für die schlichte, selbstverständliche Art, mit der sie eine Summe ausschlug, die mehr als ein Jahresgehalt für sie bedeutete und ihr so manchen Wunsch für sich und Andere hätte erfüllen können. Als er in der Garderobe ihr das Mäntelchen umhing, fühlte er sich in seinem Entschluß unerschütterlich befestigt, aus der Fiction auf der blauen Karte eine schöne tröstliche Wahrheit und mit dem Mr. Schmidtlein ›et Madame‹ so schnell als möglich Ernst zu machen.

*

Aber seltsam: obwohl er fest überzeugt war, mit diesem entscheidenden Vorgehen den ersten Schritt in ein menschenwürdiges Leben zu thun, auch nicht zweifelte, daß sie ihm gern dabei behülflich sein würde, da sie ihm bis jetzt so viel Vertrauen und Geneigtheit bewiesen hatte, – so oft er nur einen Anlauf nahm, das Gespräch zu diesem Ziele hinzulenken, überfiel ihn eine unüberwindliche Scheu, die er sich nicht zu erklären vermochte.

Er hatte oft genug, wenn er die Möglichkeit erwog, dieses oder jenes Mädchen zu befragen, ob sie seine Frau zu werden wünsche, sich den Eindruck ausgemalt, den ein so fabelhaftes Glück, den Sohn seines Vaters an sich zu fesseln, selbst auf ein verwöhntes Kind eines reichen Hauses machen müßte. War er sich doch seiner persönlichen Vorzüge hinlänglich bewußt, um zu glauben, selbst ohne den Goldgrund, auf dem sie erschienen, müßten sie jedes junge Ding bezaubern. Zum Ueberfluß hatte ihm die eitle Mutter mehr als einmal hinterbracht, diese oder jene reiche Erbin warte auf nichts sehnlicher, als daß der einzige Sohn der Gebrüder Schmidtlein & Co. ihr das Schnupftuch zuwerfen möchte.

Und jetzt, da er diesem nicht mehr ganz jungen, nicht blendend schönen, in den bescheidensten Verhältnissen lebenden Fräulein gegenübersaß, zagte und zauderte er, sich zu erklären, doch nicht in der Sorge eines jungen Gottes, ob diese Erdentochter ein so überirdisches Glück auch ertragen, oder wie Semele zu Asche verglühen werden. Nein, die ganz menschliche Furcht übermannte ihn, ob er selbst eines solchen Glückes auch würdig befunden werden möchte.

Er hätte es indessen, um die Probe zu machen, nicht bequemer wünschen können.

Sie saßen sich in einem Coupé zweiter Klasse – seine erste Klasse hatte er verleugnet, um mit ihr zusammen zu bleiben – ganz einsam gegenüber, an der Fensterseite, die nach dem Meere lag. Wenn der langsame Zug in einen der vielen Tunnel eintauchte, sah er ihr feines Gesicht, von dem Schein der Lampe an der Decke leicht geröthet, sinnend gegen die dunkle Scheibe gerichtet. Er hätte sich nur ein Herz zu fassen brauchen, um ihre Hände zu ergreifen, die ineinander gelegt in ihrem Schooße ruhten, und im Schutz des Halbdunkels die verhängnißvolle Frage an sie zu richten. Aber das Herz klopfte ihm so stark, daß er das Wort nicht über die Lippen brachte, oder doch immer erst den Mund öffnete, wenn sie aus der Finsterniß wieder auftauchten und nun der Glanz der Meeresbläue wieder zu ihnen heraufschlug. Dann, während sie ein paar Worte des Entzückens tauschten über die herrliche Fernsicht, nahm er sich in tiefer Beschämung vor, in der nächsten Galerie nun gewiß kühner zu sein, um dann richtig wieder so blöde und fassungslos zu verstummen, wie all die früheren Male.

So waren sie in Ventimiglia angekommen, der Grenzstation zwischen Frankreich und dem Königreich Italien, und das erlösende Wort war noch nicht gesprochen.

Es ist lästig, daß man hier eine halbe Stunde warten muß, ehe man sich wieder in Bewegung setzt, seufzte das Fräulein. Indessen, ich hätte Lust eine Tasse Kaffee zu trinken. Wenn Sie mit mir gehen wollen, wir finden wohl ein Café in dem kleinen Nest, wo es behaglicher ist als in dem öden Wartesaal.

Das Gescheidteste wäre, einen Wagen zu nehmen und die halbe Stunde bis Bordighera auf diese Weise zurückzulegen, ohne auf den Zug zu warten.

Sie besann sich einen Augenblick.

Halten Sie es nicht für eine engherzige Prüderie, sagte sie, wenn ich das nicht annehme. Eine Mailänder Familie ist mit im Zuge, die mich erkannt hat. Ich möchte alles überflüssige Gerede vermeiden, das daraus entstehen würde, wenn man mich mit Ihnen fortkutschiren sähe, als ob wir zusammengehörten. In meiner Stellung muß ich mich hüten, den geringsten Schatten auf meinen guten Ruf fallen zu lassen.

Er begriff das und bot ihr auch nicht wieder den Arm. So schlenderten sie durch den kleinen unansehnlichen Ort und fanden ein Café, vor dessen Thür sie sich an einem Tischchen niederließen. Ein Kellner brachte ihnen die Tassen heraus, einige Neugierige aus dem geringeren Volk begafften sie, von den Mitreisenden war Niemand zu sehen.

Nach einer etwas beklommenen Stille, da auch sie in ihre Gedanken versunken war, faßte er sich endlich ein Herz.

Gedenken Sie noch lange in Ihrer Mailänder Stellung zu bleiben? sagte er.

Sie sah ihn unbefangen an.

Solange man mich darin lassen will. Und ich hoffe mich so aufzuführen, daß man keinen Grund hat, mich wegzuwünschen. Ich hänge so sehr an den Kindern, und auch sie, besonders der kleine Vittorino – erst gestern schrieb er mir, er könne die Zeit nicht erwarten, bis ich ihn wieder ausschelten würde. Nun, morgen Abend wird er seine Signorina Gigia ja wiederhaben, wenn auch die Schelte noch auf sich warten lassen wird.

Morgen Abend? Sie gedenken morgen schon –?

Das Wort stockte ihm in der Kehle. Er starrte sie mit einem so ehrlichen Ausdruck des Erschreckens an, daß es auch ihr auffallen mußte.

Ich bin dann gerade vier Wochen hier gewesen, sagte sie, und länger darf ich die Güte meiner Padroni nicht mißbrauchen. Sie hören ja auch, meine Stimme klingt wieder ganz rein. Und es ist ein so bequemer Zug. In aller Frühe fahre ich ab und bin Nachmittags zu Hause.

Nun erst schien er zu erkennen, daß Gefahr im Verzuge war.

Mein theures Fräulein, sagte er etwas stotternd, ich begreife ja – Sie werden in jener Familie sehr geschätzt und geliebt. Aber am Ende – es ist doch immer eine harte Arbeit – drei Zöglinge in verschiedenem Alter – ich wünschte Ihnen – das heißt, wenn es mit Ihrem Wunsche übereinstimmte –

Sie sah ihn fragend an.

Ich meine nämlich, fuhr er fort, ihrem Blick ausweichend und mit einem gezwungenen Lächeln – wenn sich Ihre Aufgabe vereinfachte, wenn Sie nur einen einzigen Zögling hätten, der freilich schon ein wenig reifer wäre, aber sehr davon durchdrungen, daß er eigentlich von vorn anzufangen hätte, und der sehr dankbar sein würde, wenn seine Erziehung – wie soll ich es ausdrücken – vielleicht verstehen Sie, was ich meine –

Eine dunkle Röthe war ihm ins Gesicht gestiegen, er saß in so hülfloser Haltung da, daß man wohl Mitleid mit ihm haben konnte, wenn man ihn verstand. Das aber war nicht der Fall des sonst so klugen Fräuleins.

Sie hielt ihre schönen hellen Augen ruhig auf ihn geheftet und sagte endlich kopfschüttelnd: Ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen.

Nun denn, mein theures Fräulein, – er rückte auf dem Stuhl hin und her und warf einen finsteren Blick auf die Gassenbuben, die sich nahe heran gewagt hatten, um einen Soldo oder ein Cigarrenstümpfchen zu erhaschen – ich fühle zwar, es ist hier eigentlich nicht der Ort. Aber wenn Sie wirklich morgen früh schon abreisen wollen – sehen Sie, ich bin, seit ich das Glück hatte, Ihnen zu begegnen, ich darf noch nicht sagen ein anderer Mensch geworden, aber ich fühle die dringende Notwendigkeit, es zu werden. Sie haben mir's so einleuchtend gemacht, woran mir's fehlt! Mein Gott, ich wußt' es ja auch vorher, aber ich ergab mich darein, wie in ein Schicksal, mit einem wahrhaft türkischen Fatalismus. In Ihrer Nähe ist ein Gefühl von Thatkraft über mich gekommen – ein Bedürfniß, der Schmied meines Glückes zu werden. – Sie glauben nicht, wie ich mich hinter Ihrem Rücken vor Ihnen geschämt habe, was für Entschlüsse ich gefaßt habe!

Er verstummte und wagte mit einem raschen Blick in ihren Zügen zu forschen, welchen Eindruck seine Beichte auf sie gemacht habe. Er konnte bis hieher mit dem Ergebniß zufrieden sein.

Ich freue mich, sagte sie ganz herzlich, wenn ich wirklich etwas dazu beigetragen haben sollte, Sie zu einem thätigen Leben zu bewegen.

Ja, fuhr er sichtbar ermuthigt fort, das haben Sie, und dafür werde ich Ihnen ewig danken. Aber es ist erst ein schwacher Anfang. Sie müssen bedenken, wie lange meine Erziehung vernachlässigt worden ist, und daß es zu viel verlangt wäre, dies Alles nun über Nacht zu repariren, geschweige mit meinen eignen unerfahrenen Kräften. Nein, mein theures Fräulein, wenn es mit meiner Ermannung oder Menschwerdung Ernst werden soll, so dürfen Sie Ihre Hand nicht von mir abziehen, so müssen Sie mich zu Ihrem Zögling annehmen und all Ihr pädagogisches Talent aufbieten, daß ich Ihnen dermaleinst Ehre mache.

Nun war sie vollends rathlos, was sie davon denken und dazu sagen sollte.

Sie überschätzen mich sehr, sagte sie endlich. Ich würde mir nie das Talent und den Muth zutrauen, die Erziehung eines Menschen zu übernehmen, der so viel älter ist als ich. Auch ließe sich nicht denken, wie ich überhaupt einen Einfluß auf Sie ausüben könnte, da ich nicht an demselben Orte lebe und wir uns schwerlich je wiedersehen.

Seine Stirn röthete sich noch mehr. Er nahm von der kleinen Schale die Stückchen Zucker, die noch übrig geblieben waren, und warf sie in die Straße hinaus über die Köpfe der Kinder weg, die nun fortsprangen, sich darum zu balgen.

Das ist es ja eben, sagte er leise. Ich habe allerdings wenig Aussicht, Sie wiederzusehen, und eben der Gedanke peinigt mich. Es ist ordentlich lächerlich, oder vielmehr ungeheuer ernsthaft – wie sehr es mir zum Bedürfniß geworden ist, wenigstens ein paar Stunden am Tag in Ihrer Gesellschaft zuzubringen. Ich bin nie einem weiblichen Wesen begegnet, das mir – dem ich – um so merkwürdiger bei unseren so verschiedenen Verhältnissen und Gewohnheiten – aber warum sehen Sie nach der Uhr? Sie haben noch eine Viertelstunde Zeit, nein, zwanzig Minuten.

Ich leide immer am Eisenbahnfieber. Bitte, rufen Sie den Kellner, ich möchte meinen Kaffee bezahlen.

Nein, sagte er, Sie müssen mich hören, theures Fräulein. Es handelt sich für mich um Sein oder Nichtsein, und daher dürfen Sie nicht zürnen, wenn ich – so kurz unsere Bekanntschaft ist – ich freilich glaube, Sie bis in den Grund Ihrer Seele zu kennen – aber Sie, von mir wissen Sie nicht viel. Werden Sie mir auf mein ehrliches Gesicht glauben, wenn ich Ihnen sage: das Schlimmste, was mir nachzusagen ist, habe ich Ihnen bereits gebeichtet! Und werden Sie es nicht für eine – nun, für eine kolossale Unverschämtheit halten, wenn ich Sie frage, ob Sie den Muth fassen könnten, es mit einem solchen Menschen zu wagen – ich meine auf Lebenszeit – in Hoffnung, daß noch einmal ein ganz reputierlicher und respectabler Mann aus ihm werde mit Gottes Hülfe und der – seiner lieben Frau?

So, nun war's heraus; er athmete tief aus und sah jetzt in ängstlicher Spannung auf das Gesicht des Fräuleins, welche Antwort auf seine Lebensfrage daraus zu lesen sein möchte.

Was er sah, war tief entmuthigend.

Sie war erst hoch erröthet und gleich darauf völlig erblaßt, bis in die Lippen hinein, und diese Lippen zitterten, als sie sich jetzt zu der hastig hervorgesprudelten Rede öffneten:

Ich bedauere, mein Herr, daß unser freundliches Beisammensein ein so unerfreuliches Ende nehmen sollte. Was Sie mir eben gesagt haben, kann ich nicht als einen Scherz nehmen, wie ich's gern thäte; denn ich sehe, Sie hatten Mühe es vorzubringen. Wenn es Ihnen aber Ernst damit ist, so ist's noch beleidigender. Nein, lassen Sie mich ausreden. Ich will die mildeste Deutung gelten lassen: Sie haben wirklich ein näheres Interesse an mir gefaßt, und da Sie sich in Ihrer Selbstherrlichkeit nicht glücklich fühlen, in meiner Gesellschaft aber die Leere und Langeweile Ihrer zwecklosen Existenz weniger empfinden, ist Ihnen der Gedanke fatal, das nun wieder entbehren zu sollen. Leider ist es unseren Sitten zuwider, daß ein junger Mann sich eine Gesellschafterin engagirt, oder, noch ungewöhnlicher: wenn er fühlt, daß seine Erziehung noch nicht vollendet ist, eine Gouvernante. Wenn Sie also meine Unterhaltung nicht verlieren sollen, müssen Sie sich schon entschließen, mich zu Ihrer Frau zu machen, auch ohne sonderliche Liebe oder gar Leidenschaft, bloß für die Langeweile. Warum auch nicht? Warum sollte ein junger Millionär sich irgend einen Wunsch versagen? Bereut er nachher seine Uebereilung, so kann er sich bequem von seiner Gemahlin trennen und ihr einen eigenen Haushalt einrichten, Geld spielt ja bei ihm keine Rolle. Und das Mädchen, auf das er es abgesehen hat – das kommt ja erst recht nicht in Betracht. Eine arme Erzieherin – wenn er die zu sich heraufhebt, muß sie ja überglücklich sein und Gott auf ihren Knieen danken, daß ihr eine so überschwängliche Gnade widerfahren ist.

Sie stand auf und machte Miene, in das Café hineinzugehen, um den Kellner zu suchen. Er haschte nach ihrem Arm und hielt ihn fest.

Das habe ich nicht verdient, mein Fräulein, sagte er mit dumpfer Stimme. Nein, Sie thun mir bitter Unrecht. Mag sein, daß es ungehörig war, Ihnen diese übereilte Erklärung zu machen, hier auf offener Straße, ohne daß ich nur den leisesten Anhalt hatte, wie sie ausgenommen werden würde. Aber wenn Sie in mein Herz hätten sehen können – mit Zittern und Zagen habe ich meinen kühnen, allzu kühnen Wunsch vorgebracht; Ihr kleiner Zögling kann nicht schüchterner Sie bitten, ihm eine freie Stunde zum Spielen zu gewähren. Und wahrhaftig, ich bildete mir nicht ein, Sie würden meine Werbung so ohne Weiteres annehmen, höchstens antworten, Sie wollten sich's überlegen. Sie kennen mich ja noch nicht, vielleicht wenn wir eine Zeitlang correspondirt hätten, oder Sie wären auf Besuch zu meiner Mutter gekommen – ist das wirklich so frevelhaft, daß ich nun auf ewig Ihre gute Meinung verscherzt haben soll und wir in bitterer Verstimmung auseinandergehen müssen?

Es bebte etwas in seiner Stimme, was sie augenblicklich entwaffnete.

Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen Unrecht gethan habe, sagte sie, aber Sie werden gestehen, eine so ungewöhnliche Situation – und da ich durchaus nicht daran gewöhnt bin, rasche Eroberungen zu machen – ich mußte ja glauben, es sei nur eine Laune, die Sie angewandelt, wie ein verzogenes Kind eben Alles haben will, was ihm zum Spielzeug dienen kann. – Ich sehe jetzt, daß Sie es anders gemeint haben, und nochmals: verzeihen Sie mir meine heftige Erwiderung. In der Sache freilich – eine andere Antwort, so sehr ich Sie schätze und Ihnen bei Ihrer Selbsterziehung gern helfen möchte – Sie müssen aber einsehen, unsere Lebenskreise sind zu verschieden – die Tochter meiner Mutter würde niemals zu dem Sohne Ihres Vaters in ein unbefangenes Verhältniß kommen, immer kleinbürgerlich und engherzig erscheinen –

Nein, mein theures Fräulein, fiel er ihr lebhaft ins Wort, suchen Sie mich nicht zu täuschen. Wenn etwas in Ihrem Herzen für mich spräche, würden all diese Bedenken nicht in Betracht kommen. Aber ich bin Ihnen ganz gleichgültig, vielleicht noch schlimmer, widerwärtig oder verächtlich, und so entschuldigen Sie, daß ich einen Augenblick – – O, ich hätte es denken können, ich eitler Thor! Sie, so reizend, so liebenswürdig –! Gewiß ist Ihr Herz längst nicht mehr frei, und selbst wenn ich ein ganz Anderer wäre – –

Sie irren sehr, unterbrach sie ihn, jetzt wieder mit dem freundlichen Ernst, mit dem sie gewöhnlich zu ihm zu sprechen pflegte, ich bin vollkommen frei. Ich leugne nicht, daß es mir ein paarmal schwer geworden ist, mich nicht innerlich zu binden. Ich erkannte aber zu klar, daß ich's den Meinigen schuldig war, keine eignen Zukunftspläne zu machen. Erst wenn meine Ella verheirathet ist – und ich glaube, es kommt bald dazu – aber ich kann Sie versichern, ich wünsche mir vorläufig nichts Besseres, als in einer so liebenswürdigen fremden Familie ferner meinen Platz auszufüllen. Da wir nun aber doch einmal unsere letzten Gedanken austauschen – es darf Sie nicht kränken, was ich jetzt sage, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß ich je die Frau eines Mannes werden möchte, der nicht redlich arbeitet, nicht ein Tagewerk zu vollbringen hat, das ihn ausfüllt und befriedigt.

Ein Mensch von meinem Schlage also wäre von vornherein dazu verurtheilt, als Hagestolz sich begraben zu lassen?

Sie mußte ein wenig lächeln. Wie Sie übertreiben! sagte sie. Sie sehen ja überall in Ihren Kreisen Frauen, denen es gerade recht ist, daß ihre Männer keinen anderen ernstlichen Beruf haben, als jeden ihrer Wünsche zu erfüllen. Und wieder andere sind unglücklich, daß ihren Männern der Beruf so wenig Zeit für sie läßt. Wenn ich aber die Wahl hätte, ich wäre zufriedener an der Seite eines Arztes oder vielgeplagten Beamten, der sich seiner Familie kaum an Sonn- und Feiertagen widmen kann, als neben einem noch so vortrefflichen Ehemann, der den Anspruch macht, meine Liebe und sein häusliches Glück sollten ihn ganz ausfüllen. Sie z. B. – soweit ich Sie kennen gelernt, haben Sie einen edlen Charakter, nicht kleinlich, nicht frivol oder egoistisch, mit einem Wort: Sie sind gewiß, was man liebenswürdig nennt. Aber das, was Ihnen fehlt, was Sie selbst ja klar genug erkennen, wäre für mich gerade die erste Bedingung, ohne die eine Frau, die nicht der bloße Schatten ihres Mannes wäre, nicht zu ihm hinaufblicken könnte. Und darum – Sie erkennen in meiner Offenherzigkeit, wie sehr ich Sie achte, wie von Herzen ich wünsche, Sie möchten noch einen Weg finden –

Wenn Sie das wirklich wünschen, geben Sie mich noch nicht auf! sagte er, lebhaft ihre Hand ergreifend. Lassen Sie das nicht Ihr letztes Wort sein, gehen Sie morgen nicht auf Nimmerwiedersehen fort, sondern gewähren Sie mir noch ein paar Tage Frist, mir über diese Schicksalsfrage den Kopf zu zerbrechen. Vielleicht – da jetzt das Herz mithilft – finde ich doch noch eine Lösung. Nicht daß ich dächte, auch wenn dies geschähe, würden sie nun gleich in die dargebotene Hand einschlagen. Aber ich dürfte dann doch hoffen, daß nicht Alles zwischen uns aus wäre, daß Sie sich's noch überlegten, ob Sie mich nicht bloß, was mau so nennt, liebenswürdig, sondern Ihrer Liebe werth finden möchten. Wollen Sie mir das nicht zu Liebe thun, mein theures, theures Fräulein?

Sie sah nachdenklich zu Boden.

Sie wissen, daß ich zu Hause erwartet werde, sagte sie. Ich habe mich auch schon angemeldet.

So telegraphiren Sie, daß Sie erst drei Tage später kommen würden. Auf drei Tage kann es ja nicht ankommen. Erlauben Sie, daß ich das gleich selbst hier besorge! Wenn das Lebensglück eines Menschen daran hängt, von dessen redlichem Willen Sie doch überzeugt sein müssen –

Sie sann einen Augenblick nach. Dann schlug sie die Augen ernst zu ihm auf und sagte: Ich will mich fügen, obwohl ich kaum glaube, daß Ihnen in diesen drei Tagen eine Erleuchtung kommen werde, auf die Sie so viele Jahre vergebens gewartet haben. Und wenn sie wirklich käme – ich muß darauf bestehen, daß ich dadurch von meiner Seite zu nichts verpflichtet wäre. Alles Andere, was Ihnen dabei vorschwebt, müßte der Zeit überlassen bleiben, und Sie dürften mir nicht grollen, wenn doch Alles anders käme, als Sie heute sich's vorgestellt haben. Auf diese Bedingung hin will ich noch drei Tage bleiben.

Ich danke Ihnen, sagte er, in freudiger Bewegung. Ich werde Ihnen ewig danken. Sie sind ein Engel, mein guter Engel. Sie sollen sich hoffentlich einmal mit Freude an diese Stunde zurückerinnern.

Er neigte sich und drückte einen ehrerbietigen Kuß auf ihre Hand.

Adieu, sagte sie, ihm freundlich zunickend. Es ist die höchste Zeit, wenn ich meinen Zug nicht versäumen soll.

*

Als sie dann einsam wieder in ihrem Coupé saß und auf den leeren Platz blickte, den er vorhin eingenommen hatte, war ihr wunderlich zu Muthe. Im Leben eines Mädchens ist es immerhin ein Ereigniß, das eine tiefe Spur zurückläßt, wenn ein Mann ihr Herz und Hand angetragen hat, auch der ungeliebteste, unliebenswürdigste. Und dieser Mann – sie liebte ihn nicht, obwohl sie ihn liebenswürdig genannt hatte, mit gutem Recht, das er durch sein Betragen bei der schwierigen Action seiner Herzensbeichte wahrlich nicht verscherzt hatte. Und indem sie sich während der kurzen Fahrt nach Bordighera jedes seiner Worte zurückrief, überlief es sie mit einer Art von süßem, ängstlichem Erschrecken, daß sie doch am Ende ihn lieben lernen möchte, daß das Herzklopfen, mit dem sie seine Erklärung angehört, wohl gar schon der Gefahr gegolten habe, der sie kaum würde entrinnen können.

Was aber dann? Noch war sie besonnen genug, nicht daran zu glauben, daß er ihre »erste Bedingung« würde erfüllen können. Sich redlich darum bemühen würde er gewiß, aber wenn es doch nicht gelänge, wenn er doch bliebe, der er war, zu dem sie, nach ihrer Versicherung, nie würde hinaufblicken können – und sie bliebe Zeugin seines vergeblichen Ringens und Mühens, und unvermerkt nistete sich die Theilnahme an seinem Geschick immer tiefer in ihr Herz, bis das gute Herz endlich schwach genug wäre, allen feierlichen Grundsätzen zum Trotz sich ihm bedingungslos hinzugeben –

Nein! Dahin durfte es nie und nimmermehr kommen, das gelobte sie sich. Diese drei Tage würde sie als erfahrene Pädagogin ihr unerzogenes Herz, das in der Wissenschaft der Liebe noch ein Neuling war, schon zu zügeln wissen, und ihr weiblicher Stolz würde mithelfen, sich von dem verwöhnten jungen Schooßkind des Glückes nicht aus einer zärtlichen Schwäche ertappen zu lassen. Er sollte sehen, daß es ihr voller Ernst gewesen war, daß sie nicht, wie er, sich von jedem Gelüsten irre machen ließ in dem, was sie als das Rechte erkannt hatte. Und am Ende würde er gar meinen – so sehr er von seinen persönlichen Vorzügen überzeugt sein mußte – es sei doch nur wieder das alte Lied, das unzählige ihrer Schwestern verstohlen zu singen pflegen: Am Golde hängt, nach Golde drängt doch Alles. Ach wir Armen!

So stieg sie in ganz heiterer Stimmung in Bordighera aus und beschloß den ereignißvollen Tag still auf ihrem Zimmer mit Schreiben an Vater und Schwestern, denen sie von Monaco und der Spielhölle Montecarlo's eine humoristische Schilderung machte, das interessanteste Abenteuer aber sorgfältig verschwieg. Und mit einem kurzen Briefchen kündigte sie ihrer Herrin in Mailand an, daß man sie erst in drei Tagen erwarten dürfe.

Sie schlief dann auch einen festen, gesunden Schlaf ohne bedenkliche Träume und mußte sich beim Erwachen erst langsam darauf besinnen, daß sie die aufregende Scene vor dem Kaffeehause in Ventimiglia wirklich nicht bloß geträumt hatte. Als sie aber vor dem Spiegel ihr Haar strählte, betrachtete sie sich mit einer unschuldigen Neugier, wie die Person eigentlich aussähe, die einen glänzenden jungen Millionär so rasch zu bezaubern vermocht hatte. Es ist ganz verrückt! sagte sie laut vor sich hin. Ich bin ja so weit nicht übel, aber ein solcher Kenner, der in aller Herren Ländern sich umgeschaut hat – nun, die Augen werden ihm schon noch aufgehen!

Dabei konnte sie sich doch eines angenehmen kleinen Triumphgefühls nicht erwehren, wie ein junges Mädchen, das am Morgen nach dem Ball das Dutzend Cotillonsträußchen auf dem Tische liegen sieht, das es Nachts mit heimgebracht hat. Und immer sah sie die schwärmerischen Augen auf sich gerichtet und hörte die leidenschaftliche, traurige Stimme, gegen die sie heute sich wehrloser fühlte als gestern.

Eben überlegte sie, was sie nun mit dem Tage anfangen sollte und ob er wohl versuchen würde, ihr wieder zu begegnen, da brachte ihr Senosonte, mit Aminto und Dante in ihr Zimmer hereinstürmend, ein Billet, das ein Diener vom Hôtel für sie abgegeben habe, ohne auf Antwort zu warten.

Sie eilte, durch Vertheilung von etwas Reisechocolade sich die ungewaschene kleine Bande vom Halse zu schaffen, und las dann, wieder mit starkem Herzklopfen, folgende kurze Zellen:

»Ueber Nacht ist guter Rath gekommen. Ich habe Ihnen sehr Wichtiges mitzutheilen. Wollen Sie die große Güte haben, sich wieder an unserm Platz im Oelwald einzufinden, gegen Zehn?

Ihr ewig ergebener
neugeborener
A. S.«

Sie starrte lange auf das seine Blatt mit der schönen, schlanken, etwas weiblichen Handschrift. Ihr erstes Gefühl war ein heftiger Schreck gewesen, wie bei einem lange vorbereiteten Gewitter, das nach dumpfem Grollen in der Ferne plötzlich einen flammenden Blitz herabsendet. Also sollte es doch Ernst werden mit diesem unerhörten Schicksal? Das Netz wurde ihr über den Kopf geworfen, so eifrig sie sich dagegen wehren mochte? Doch nein, wenn sie ehrlich sein wollte, sie dachte nicht mehr daran, sich zu wehren. Sie ging diesem immerhin nicht allzu grausamen Schicksal mit einer Ergebenheit entgegen, die fast heimliche Wünsche zu verrathen schien.

Wenigstens wurde ihr die Stunde bis zu der erbetenen Zusammenkunft unerträglich lang. Und doch dehnte sie selbst die Frist noch hinaus, da sie, schon im Begriff, fortzugehen, noch einen Blick in ihren Spiegel warf und erröthete, als sie sah, daß sie ihr schönstes Kleid angelegt und ihren Sonntagshut aufgesetzt hatte. Wenn er denken könnte, sie habe recht absichtlich sich herausputzen wollen – eine Art Verlobungstoilette! – Nein, in größter Hast zog sie das seidene Fähnchen wieder aus und das schlichte Reisekleid an, in dem er sie zuerst oben bei ihrer Malerei begrüßt hatte. Dann nahm sie auch ein Skizzenbuch mit und schlug, ihren Schritt nicht beschleunigend, den Weg nach dem Olivenwäldchen ein.

*

Schon von fern erblickte sie ihn, an ihrem Platz auf dem Mäuerchen, den Kopf in die Hand gestützt, augenscheinlich in tiefe Betrachtung versunken. Sie blieb ein paar Minuten stehen, ihn unbemerkt zu betrachten. Auch er hatte einen unscheinbaren Anzug gewählt; nichts erinnerte an den glänzenden Zögling der Pariser und Londoner Gesellschaft, nur das hübsche blasse Gesicht und die weiße Hand mit dem blitzenden Ring konnten schwerlich einem Mann der harten Arbeit gehören. – Alles in Allem er gefiel ihr heute besser als an all den früheren Tagen.

Und nun vollends, als er ihren leichten Schritt über das dürre Olivenlaub und die harten Steine vernahm und so strahlend ihr entgegenblickte.

Wie schön, daß Sie kommen! rief er, indem er aufstand und ihr entgegenschritt. Was haben Sie zu meiner Botschaft gesagt? Gewiß, daß ich prahlte und eine Fata Morgana für eine solide Perspective angesehen hätte. Aber nein, ich versichere Sie, es ist eine förmliche Offenbarung, dabei so einfach, wie das Ei des Columbus. Kommen Sie, setzen Sie sich auf Ihren angestammten Platz, und heute wird nicht gezeichnet, nicht wahr? Ich mache Anspruch auf Ihre ausschließliche Aufmerksamkeit, wenn ich Sie auch ein wenig langweilen sollte. Aber, mein Gott, ein ernster Beruf ist ja überhaupt kein Spaß. Hier habe ich Ihnen mein Plaid hingebreitet, einen bescheidenen Thronsitz, und Ihr ergebener Unterthan wird sich sogar erlauben, sich auch noch eines Eckchens desselben zu bedienen. Wie haben Sie geschlafen? Gut? Wie mich das freut! Ich fürchtete schon, ich wäre Ihnen mit meinen Schicksalsfragen allzu beschwerlich geworden.

Sie brachte kein Wort hervor, während sie sich niederließ, sie nickte ihm nur freundlich zu; doch da sie ihn so heiter sah und er die Herzenssache vorläufig nicht berührte, kehrte ihr die unbefangene Sicherheit zurück, und sie sagte endlich nur: Beisammen sind wir; fanget an!

Ja, sagte er und störte mit dem Stöckchen in dem Moose zu seinen Füßen herum, mir ist's nicht so gut gegangen wie Ihnen. Ich konnte mich bis nach Mitternacht nicht entschließen, zu Bett zu gehen, ich wußte, daß an Schlaf doch nicht zu denken wäre. Zuerst bin ich in meinem Zimmer ein paar Stunden lang auf und ab gegangen, wie ein wildes Thier in seinem Käfich, dem der Wärter vergessen hat sein Fressen zu bringen. Eine Leere in mir, die mich zur Verzweiflung brachte. Oder um ein schmeichelhafteres Bild zu brauchen: wie Faust, als er alle Facultäten durchstudiert hatte und keinen anderen Ausweg sah, als sich der Magie zu ergeben. Nur daß ich keine anderen Geister zu beschwören wußte als immer wieder den Ihren, der mich auch rathlos ließ, und nur die tröstliche Botschaft klang mir ins Ohr:

Wer immer strebend sich bemüht,
Den können wir erlösen.

Nun, am Bemühen und Streben fehlt es nicht, und endlich kam auch die Erlösung. Ich erinnerte mich, daß ich in meinem Koffer eine Mappe mit alten Manuscripten mitschleppte, allerlei Anläufe zu wissenschaftlichen Arbeiten, die meist wieder ins Stocken gerathen waren, aus dem Grunde, den Sie ja kennen – da ich's »nicht nöthig hatte«. Nur die Doctordissertation war – der Noth gehorchend – fertig geworden, übrigens wohl die unfertigste von allen, ein Versuch zur Lösung der socialen Frage mit einer Einleitung über volkswirthschaftliche Theorieen der Griechen und Römer. Das klingt sehr gelehrt, nicht wahr? Es ist aber eine ganz dilettantische Zusammenstoppelung. Am meisten von eignen Gedanken, so schwebte mir's vor, fand sich in einem ästhetischen Essay über die Präraffaeliten, erst vor einem halben Jahre in Paris niedergeschrieben. Ich hatte diese sonderbaren Schwärmer und phantastischen Reactionäre in London gründlich studiert, einer meiner Freunde hatte sich's in den Kopf gesetzt, mich zu dieser Secte zu bekehren, und erließ mir keinen William Blake, Dante Gabriel, Charles Rossetti, Medox Brown und Burne Jones, der irgend erreichbar war. Es gelang ihm wirklich, mich in diesen kränklichen Nebel einzuspinnen, daß ich glaubte: aus der Noth eine Tugend zu machen, wenig Fleisch, sehr viel Gemüth zu zeigen, sei höchst verdienstlich. Hernach, eines schönen Tages vor den herrlich gesunden Meisterwerken im Louvre, wich der Spuk plötzlich von mir, die Schuppen fielen mir von den Augen, und ich erkannte das Hysterische, Affective dieser freiwilligen Armuth, die genau so verheerend wirkt, wie der Fanatismus einer asketischen Weltflucht bei Mönchen und Einsiedlern. Da fing ich an, einen Aufsatz zu schreiben, um mir die letzten Nachwehen dieser künstlerischen Influenza aus dem Blute zu schaffen – und natürlich bracht' ich ihn nicht fertig. So eine einzelne Stimme eines nicht zünftigen Kunstfreundes, sagt' ich mir, wer hört auf sie? Und ich legte diese Blätter zu den übrigen.

Aber in der vorigen Nacht, als ich sie wieder hervorzog und durchlas – plötzlich strahlte mir ein Licht daraus entgegen, das in das Chaos meiner Zukunftsgedanken eine ungeahnte Ordnung brachte. Von Blatt zu Blatt bestärkte ich mich in der Ueberzeugung, mein eigentliches Talent – Sie werden lächeln, Fräulein, aber wenn Sie nur eine kleine halbe Stunde zuhören wollen – ich habe das Heft mitgebracht, Sie selbst sollen mir sagen, ob Sie nicht auch glauben, ich hätte das Zeug dazu, über Kunstwerke mich klar und bündig auszusprechen. Wollen Sie?

Sie nickte mit einem ernsthaften Lächeln, und sofort zog er ein eng beschriebenes Heft von sechs bis sieben großen Briefblättern aus der Tasche und fing an zu lesen.

Seine Stimme klang etwas unsicher, bald aber verlor sich seine Befangenheit, und er trug sein Glaubensbekenntniß über das, was der Kunst noth thue, was krank und gesund in ihr sei, was selbst am Kränklichen liebenswürdig genannt werden müsse, gleichwohl aber Bedenken errege, da es oft künstlich aus zweiter Hand gepflegt und überschätzt werde, – all diese Betrachtungen trug er mit so ruhigem Nachdruck vor, als bestände sein Auditorium nicht aus einer einzigen jungen Malerin und einer Corona junger und alter Oelbäume, sondern aus einer gedrängten Schaar lernbegieriger Akademiker, denen er die rechten Wege zu weisen berufen sei.

Sie saß, während er im Moose zu ihren Füßen an dem Mäuerchen lehnte, auf ihrem erhöhten Platz, die Hände wieder im Schooß ineinander gelegt, den Blick auf seinen Kopf mit den kurzen braunen Haaren und den oberen Theil seiner Stirn geheftet, da sein Gesicht ihr abgewendet war. Als er fertig war – mitten im Satze hatte er die Feder weggelegt – wandte er sich nach ihr um.

Ecco! sagte er. So weit war ich gekommen. Was halten Sie nun davon? Scheint es Ihnen der Mühe werth, daß ich den Faden wieder aufnehme und zu Ende spinne?

Sie antwortete nicht sogleich. Es war, als hätte sie, während er las, sich in ganz andere Gedanken verloren.

Wie können Sie fragen! sagte sie endlich. Soviel ich's verstehe, ist Alles, was Sie vorbringen, höchst überzeugend für Den, der von dieser Influenza nicht selbst befallen ist. Aber selbst, wenn Sie Unrecht hätten – mein Vater bestand immer darauf, daß ich Alles, was ich anfing, fertig machen mußte. Selbst aus einer nicht richtig begonnenen Arbeit, meinte er, lerne man mehr, wenn man den Irrweg bis zu Ende gehe, als wenn man mittendrin davon abstehe. Ich habe nichts von all den Bildern gesehen, um die sich's hier handelt. Aber Sie bringen sie Einem so deutlich vor Augen, Sie haben ein unbestreitbares Talent, dergleichen zu machen.

Meinen Sie? rief er erfreut und haschte eine ihrer Hände, die er küßte. Sehen Sie, liebe Freundin, in aller Bescheidenheit meine ich es auch. Und darauf habe ich meinen Plan gegründet.

Ihren Plan?

Ja, meinen Lebensplan. Ich bin lange genug in Galerieen, Kirchen und Palästen herumgestrichen, ich dachte, ich sei nur so eine Kunstdrohne, aber ich that mir Unrecht, ich habe, ohne es selbst zu wissen, einen beträchtlichen Vorrath an ästhetischem Honig und Wachs in meinem trefflichen Gedächtniß eingesammelt, den ich nun verwerthen kann. Mit einem Wort: ich will noch auf meine alten Tage Ernst machen mit der Kunstgeschichte. Ganz pedantisch berufsmäßig, mit allem Schnickschnack von Urkunden, diplomatischem, historischem Material, was heutzutage gefordert wird. Ob dann eine Professur an einer Universität oder Akademie dabei herauskommt oder eine Conservatorstelle an einem Museum – das Letztere wäre mir das Erwünschteste und, wie ich glaube, auch am leichtesten zu erreichen. Den Regierungen pflegt es nicht unlieb zu sein, wenn ein solcher Beamter die Mittel hat, große Reisen zu machen, auf Entdeckungen auszugehen, Ausgrabungen auf eigne Kosten zu veranstalten. Und ich thäte damit Niemand weh, nähme keinem armen Teufel das Brod vorm Munde weg. Hatt' ich nicht Recht, zu sagen, es sei das Ei des Columbus?

O, mein theures Fräulein, fuhr er lebhaft fort, da sie nur mit einem versonnenen Kopfnicken antwortete, seien Sie doch auch ein bischen vergnügt. Sie dürfen es ja sein, da Sie es sind, der diese Lebensrettung gelungen ist, und die gute That – ich hab' es Ihnen ja feierlich zugesagt – verpflichtet Sie ja zunächst zu nichts Weiterem. Der Gerettete, Ihr Geschöpf, ist Ihnen ja schon dankbar, wenn Sie auch fernerhin sich ein wenig für ihn interessieren wollten. Alles Andere überläßt er der Zeit. Aber in diesen drei Tagen, die Sie ihm noch geschenkt haben, ist er fest entschlossen, Alles daran zu setzen, um die angefangene Arbeit abzuschließen. Sie sollen nicht von hier weggehen, ohne die Ueberzeugung mitzunehmen, daß der müßige Flaneur wirklich entschlossen und beharrlich den Weg zu seinem Ziele verfolgt. Was an dem Aufsatz noch fehlt, steht mir klar vor dem Geiste, und in zwei Tagen getraue ich mir selbst mit der schwierigen Charakteristik des höchst merkwürdigen Burne Jones fertig zu werden. Dann – zur Belohnung für meinen Fleiß – nicht wahr, Sie lassen sich dann hier wieder finden und hören meine kritische Plauderei geduldig mit an, und wenn ich fertig bin, sagen Sie mir, ob Sie mir gestatten wollen, diese Erstlingsschrift, die ja Ihnen ihr Dasein verdankt, in dankbarer Verehrung Ihnen zu dediciren.

Er war aufgestanden, und auch sie hatte sich erhoben und, um ihr Erglühen zu verbergen, sich mit ihrem Strohhut zu schaffen gemacht.

Sie überschätzen meinen Antheil an diesem erfreulichen Ereigniß, sagte sie. Früher oder später wäre es Ihnen auch ohne mich zum Bewußtsein gekommen, daß es Unrecht wäre, Ihre Kenntnisse und ausgesprochene Begabung für dies Fach brach liegen zu lassen. Aber freilich freut es mich herzlich, ein kleines Verdienst dabei zu haben, und ich bin höchst gespannt, wie Sie nun bei dem Bedeutendsten dieser Künstler die Summe Ihrer Betrachtungen ziehen werden. Bis Sie fertig sind also, werden wir uns aus dem Wege gehen. Dann senden Sie mir wohl wieder eine Botschaft.

Es wird mir nicht leicht werden, Sie so lange gar nicht zu sehen, seufzte er und lächelte. Ich werde mir vorkommen wie ein Schüler, der im Carcer eine Strafarbeit machen muß. Aber es geschieht mir schon Recht. Warum bin ich bisher so faul gewesen! Ich begleite Sie nicht einmal nach Ihrer Wohnung, so jucken mir die Schreibfinger, um geschwind wieder an die Arbeit zu kommen. Heute Nacht aber werde ich schlafen, den Schlaf des Gerechten! Ein bischen von Ihnen zu träumen, wird mir ja wohl erlaubt sein!

Er schüttelte ihr treuherzig die Hand und eilte dann die Terrassenwege durch den Olivenhain hinab, eilig sein Hôtel wieder aufzusuchen.

*

Sie aber blieb noch eine Weile sitzen, sich ungestört ihren Gedanken hinzugeben.

So war's nun doch gekommen, wie sie's gestern noch kaum für möglich gehalten hatte. Sie hatte geglaubt, ihm nur den kleinen Finger zu bieten, um ihn aus seinen Irrwegen herauszuführen, und er hatte ihre ganze Hand ergriffen und – ihr Herz dazu. Denn sie konnte sich's nicht verhehlen: während er las, hatte er sich ihrer Sinne und ihrer Phantasie mehr und mehr bemächtigt, und als er eben so bescheiden vor sie hintrat, von ihr erwartend, daß sie sein Urtheil spräche, sie wäre kein Weib gewesen, wenn so viel ritterliche Hingebung sie nicht gerührt hätte. Und wie feine, geistreiche Worte hatte er gefunden, wie beredt seine Sache geführt! Es bedurfte wahrlich nicht einmal so viel, um ihr das Gefühl zu erwecken, sie habe schon jetzt allen Grund, zu ihm hinaufzublicken.

Diese Erkenntniß überströmte sie mit einer süßen, schauernden Wonne, der sie sich, da es ihre erste Liebeserfahrung war, mit unsäglichem Dankgefühl überließ. Sie schloß eine Weile die Augen und rief sich sein Bild zurück, und indem sie ihn noch schöner und reizender fand als früher, da er ihr jetzt auch männlicher erschien, überlegte sie, wie schwer es ihr werden würde, zwei Tage lang, vielleicht gar drei, seinen Anblick und sein Gespräch zu entbehren. Denn daß er Wort halten und die Quarantäne, die er sich selbst auferlegt, nicht brechen würde, bezweifelte sie keinen Augenblick.

Ein junges Paar, das den Oelwald heraufkam, störte sie aus. Sie schritt den schmalen Pfad langsam hinab, wandte sich unten der Straße zu, die ans Meer führte, und wanderte bis zu dem Vorgebirge mit dem grauen Kirchlein, wo sie sich auf eine Klippe setzte und dem wilden Spiel der Brandung, die dort hoch am steilen Ufer aufschäumt, in seliger Träumerei zuschaute. Doch war sie sich bei aller Süße ihrer Empfindung bewußt, daß ihr Gefühl für ihren großen Zögling nichts diesem elementaren Aufruhr Verwandtes war. Keine leidenschaftliche Regung zog sie zu ihm hin, nur das Glück, von ihm geliebt zu werden, der Wunsch, in seiner Nähe zu sein, zugleich eine Art Reue darüber, ihn früher nicht nach seinem Werth erkannt zu haben, machten, daß sie an nichts Anderes denken konnte, als an diesen Freund, von dessen Dasein sie noch vor wenigen Tagen keine Ahnung gehabt hatte.

Sie verbrachte den übrigen Tag in einem ziellosen Hin- und Herdenken, und lange Stunden lag sie aus den harten Kieseln am Strande und sah den Fischern zu, die ihre Netze mühsam hervorzogen. Die Nacht brach ein. Sie sah den Mond über der weiten dunklen Fläche des Meeres ausgehen und das unstete Wogen und Wallen der Flut unter seinem Schimmer sich beruhigen. Da wurde es auch stiller in ihrem Innern; eine wunschlose Ruhe überkam sie, eine stille Ergebung in den räthselhaften Willen der Mächte, die des Leben regieren, wie die himmlischen Elemente Ebbe und Flut.

Als sie ihr Zimmer wieder betreten und Licht gemacht hatte, sah sie ein Briefchen auf dem Tische liegen. Es enthielt nur einen kurzen Gruß:

»Ich muß Ihnen doch noch eine gute Nacht wünschen, theure Freundin. Um die meine ist mir nicht bange. Sechs Stunden Arbeit – ich denke, ich habe mir meinen Schlaf verdient. Morgen Abend hoff' ich Ihnen melden zu können, daß ich übermorgen wieder um Ihr geneigtes Gehör bitte. Ehe ich fertig bin, habe ich mir gelobt, Sie nicht einmal aus der Ferne wiederzusehen.

Ihr treu ergebener
A.«

*

Auch sie hatte einen sanften Schlaf. Als aber die Sonne zu ihrem Fenster hereinschien und die letzten heiteren Träume verscheuchte, bedachte sie, daß sie mit dem langen Tag schwer zu Ende kommen würde, wenn sie nicht ein redliches Stück Arbeit unternähme.

Also packte sie ihr Malgeräth zusammen und wanderte in die alte Stadt hinauf, wo ihr schon früher ein malerischer Winkel ins Auge gefallen war, ein Stück eines verwahrlos'ten Hauses, an dessen Rückseite ein Pfeilergang sich schloß, von wilden Ranken umwuchert. Ein Wassergraben floß mit träger Welle daran vorbei, das gelbliche Gemäuer spiegelnd, und über der ganzen verfallenen Herrlichkeit hob eine einzelne Palme ihren langgefiederten Wipfel.

Hier ließ sie sich auf ihrem Feldstühlchen nieder und vertiefte sich dergestalt in ihre Aufgabe, daß sie erst durch die Glocke des Kirchthurms daran erinnert wurde, der halbe Tag sei vergangen. Sie fand es unbequem, zur Colazione wieder hinunterzusteigen und ihre Arbeit so lange zu unterbrechen. In einer der engen Gassen nahe bei ihrem Standort fand sie eine dürftige Osterie, wo sie sich Brod und Wein geben ließ, um nach kurzer Mittagspause zur Arbeit zurückzukehren. Es ging ihr heute so glücklich von der Hand, daß sie wirklich das kleine Bild in einer leichten Skizzenmanier vollendete, noch ehe die Sonne gesunken war. Nur der Wechsel der Beleuchtung war mißlich gewesen. Doch hatte sie ihren Hauptzweck erreicht, sich über die Stunden einer unruhigen Erwartung hinwegzubringen.

Langsam, ihr Malzeug und den Feldstuhl in der Linken, den Schirm als Stütze brauchend, kletterte sie die steile Felsenhöhe hinab und betrat aufathmend die Via Romana. Vielleicht, dachte sie, ist er auch schon fertig geworden und kommt dir hier entgegen. Und jedenfalls wird wieder ein Blatt von ihm zu Hause auf dich warten. – Sie war sehr fröhlich. Daß sie so gut gearbeitet hatte, nun auch auf eine Belohnung Anspruch hätte, machte sie vergnügt und beflügelte ihren Schritt. Auf einmal aber, da sie schon die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte, blieb sie wie angewurzelt stehen.

Aus der Schattenseite an den schmucken Landhäusern vorbei, sehr langsam und nach allen Seiten umschauend, wie Fremde, die eine Straße zum erstenmal betreten, kamen zwei Damen, eine ziemlich schwerfällige bejahrte und eine schlanke junge Blondine, beide in Trauerkleidern. Neben der alten Dame aber, sie am Arme führend und eifrig zu ihr hinsprechend, ging kein Geringerer als der Sohn von Gebrüder Schmidtlein & Compagnie, im Glanze seines elegantesten Anzugs und seiner vollen Liebenswürdigkeit. Er zeigte den Damen, die sich seiner Führung anvertraut hatten, die malerischsten Punkte, denen sie begegneten, und schien besonders bemüht, die Aufmerksamkeit der Jüngeren zu erwecken, die mit ziemlich theilnahmloser Miene vor sich hinsah.

Unsere Malerin hatte gerade noch Zeit gehabt, in eine Olivenhalde zur Seite zu flüchten und hinter einen breiten, dicht verschatteten Stamm zu schlüpfen. Ungesehen konnte sie aus diesem Versteck die Vorbeiwandelnden betrachten. Die alte Dame stützte sich schwer auf den Arm ihres Begleiters und nickte beständig zu seinen Worten, stand von Zeit zu Zeit einen Augenblick still, da die Straße, die sanft anstieg, ihr das Athmen erschwerte, und ließ sich einmal von der Zofe, die mit Plaids und Schleiern ihnen folgte ein wärmeres Tuch reichen. Die Tochter überließ es dem jungen Manne, der Mutter dabei behülflich zu sein. Sie wandte währenddessen ihr Gesicht dem Olivenwäldchen zu, und die Malerin hatte Muße, zu sehen, daß es ein ungewöhnlich schönes, nur etwas zu volles, ganz junges Gesicht war, mit hellen, aber untiefen Augen. Sie war mit ausgesuchtem Geschmack gekleidet, und unter dem Florhütchen drängte sich eine Fülle glänzender aschblonder Locken hervor, die sie noch wie ein Backfisch frei über den schlanken Nacken herabwehen ließ.

Der kleine Zug war längst um eine Krümmung des Weges verschwunden, und noch immer stand die Späherin hinter ihrem Oelbaum und starrte wie entgeistert hinab.

Als sie sich endlich ermannte und auf die Straße zurückkehrte, hatte sie Mühe, ihre Glieder zu regieren. Es war kein scharfer Schmerz, was sie empfand, eine Art Betäubung, eine Schwere aus Herz und Sinnen, und über die sonnige Scenerie, die sie umgab, war ein grauer Schleier gefallen. In der Dumpfheit ihrer Empfindung bemühte sie sich auch durchaus nicht, für das Räthsel, das ihr eben begegnet war, die Lösung zu finden. Sie dachte nicht einen Augenblick, daß Alles mit rechten Dingen zugehen könne, daß er vielleicht früher, als er berechnet hatte, fertig geworden sei und nun seinen Feierabend in dieser Gesellschaft genösse. Da sie ihn sich aber in Gedanken bereits völlig angeeignet hatte und ihn nun neben einer Anderen so guter Dinge sehen mußte, neben solch einer Anderen – –!

Doch war sie zu tapferen Gemüths, um sich dieser peinlichen Enttäuschung wehrlos hinzugeben. Sie hob den Kopf, und ein entschlossener Zug trat an ihrem Munde hervor, als wollte sie sagen: Mag er doch thun und lassen, was er will! Habe ich mich nicht streng gehütet, ihm irgend ein Recht über mich einzuräumen? So habe ich auch kein Recht auf sein Leben. Wir können auseinandergehen, ohne uns das Geringste schuldig geworden zu sein.

Gleichwohl zitterte ihre Hand leise, als sie sie nach dem Briefchen ausstreckte, das richtig wieder aus ihrem Tische lag, und einen Moment konnte sie die Schrift nicht entziffern, da sich ein trüber Flor über ihre Augen gebreitet hatte. Dann aber schüttelte sie diese Schwäche ab und las langsam Wort für Wort, was er geschrieben hatte:

»Was werden Sie sagen, meine theure Freundin! Aus unserer stillen Vorlesung morgen vis-à-vis Ihrem Olivengreise soll nichts werden. Ich stand eben vom Lunch auf, um wieder an meinen Schreibtisch zu gehen – heute der richtige Achtstundenarbeitstag –, da kommt eine alte Dame vor das Hôtel gefahren, die mir einen Brief meiner Mutter bringt, ihrer Jugendfreundin. Der Gatte dieser Dame ist erst vor acht Wochen gestorben, die Wittwe hat sich von der Krankheit, in die sie der Trauerfall geworfen, nur so weit erholt, um in den Süden reisen zu können. Nun hat meine gute Mama ihr nichts Besseres zu rathen gewußt, als sich nach unserem Bordighera zu wenden, das ich ihr so gepriesen hätte, natürlich in der Meinung, ich hätte nichts Besseres zu thun, als den Tröster einer trauernden Wittwe zu machen. Von unseren Präraffaeliten ahnt sie ja nichts. Unter anderen Umständen würde ich das Werk der Barmherzigkeit ja auch ohne Murren auf mich genommen haben. Aber gerade jetzt, mitten in der Vorbereitung für meinen Beruf! – Und zu allem Uebrigen besteht die sehr verwöhnte gute Dame darauf, gleich wieder morgen auszubrechen, da im Hôtel kein passendes Unterkommen für sie und ihr Gefolge ist. Sie will es zunächst in Nizza versuchen, vielleicht auch in Cannes sich umsehen und hält es für selbstverständlich, daß ich ihren Reisemarschall mache. Ein Mensch ohne Amt und Beruf muß ja froh sein, denkt sie, wenn man ihn zu irgend Etwas brauchen kann! –

O, mein theures Fräulein, beklagen Sie mich! Wir waren ja so schön im Zuge, nur noch vierundzwanzig Stunden, und ich war geborgen. Das heißt, es handelt sich auch jetzt nur um einen kurzen Aufschub. Sobald ich meinen Courierdienst gethan habe, kehre ich nach Bordighera und zu meinem Manuscript zurück. Aber werde ich Sie dann noch finden, mein bestes, einstweilen noch einziges Publikum? Kaum darf ich es hoffen, Ihnen kaum zumuthen, die mir so gütig bewilligte Frist noch um das Doppelte, vielleicht Vierfache zu verlängern. Doch so sehr mich das schmerzt – ›ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!‹

Sagen Sie mir, ob Sie mich meines Gelübdes entbinden, vor Vollendung der Abhandlung Sie nicht wiederzusehen. Wir reisen morgen gegen Mittag. Bestimmen Sie mir die Stunde, wann ich morgen zu Ihnen kommen darf. Ich habe noch so viel auf dem Herzen, vor Allem muß ich auch Ihre Mailänder Adresse wissen, um Ihnen schreiben, die Ihnen gewidmete Schrift Ihnen schicken zu können. Von Anderem haben Sie mir zu sprechen verboten. Es bleibt darum nicht minder in dem Herzen Ihres Ihnen in ewigem Dankgefühl ergebenen

Alfred S.«

Sie sann, nachdem sie gelesen hatte, nur einen Augenblick vor sich hin. Dann nahm sie ein Blatt aus ihrer Schreibmappe und warf die folgenden Zeilen rasch auf das Papier:

»Ich sage Ihnen heute schon Lebewohl, da ich morgen mit dem ersten Zuge die Heimfahrt antrete und Sie Ihre Zeit nöthig haben zu den eignen Reisevorbereitungen. An unser freundliches Begegnen werde ich gern zurückdenken und mich freuen, wenn ich gelegentlich aus der Ferne vernehme, daß Sie in Ihrer wissenschaftlichen Laufbahn erfolgreich fortgeschritten sind und das gewünschte Ziel erreicht haben.

Ihre sehr ergebene
L. H.«

Sie überlas, was sie geschrieben, und ein bitteres Lächeln überflog ihr Gesicht. Ich denke, es ist hinlänglich im Gouvernantenstil, sagte sie, eine mäßig gute Censur, »zur Aufmunterung«. Er hat jetzt freilich an ganz Anderes zu denken als an Schulaufgaben, eine trauernde Wittwe zu trösten und daneben wohl auch – ihre Tochter, die er freilich in seinem Briefe verleugnet hat. Würde er's gethan haben, wenn sie ihm ganz gleichgültig wäre?

Sie saß noch eine Weile, dann fuhr sie mit der Hand über die Stirn und stand auf, ihr Köfferchen zu packen. Als dies geschehen, ging sie zu ihrer Hausfrau hinunter, ihr aufzutragen, daß sie den Brief morgen erst, wenn sie abgereis't wäre, in das Hôtel hinaufschicken möchte.

*

Fünf Jahre später, an einem Hochsommernachmittage, wanderte ein junges Ehepaar auf einer der breiten, wohlgepflegten Straßen dahin, die im bayerischen Gebirge das Reisen zu Fuß so angenehm machen, wenn man, wie dieses Paar, ein Kind, das noch nicht marschfähig ist, gleichwohl nicht zu Hause lassen mag.

Der etwas schmächtige, aber rüstig dahinschreitende Mann, der den Vortrab bildete, zog nämlich einen leichten Korbwagen die sanft ansteigende Berglehne hinauf und trug überdies einen schwer gefüllten Rucksack, so daß ihm wohl etwas schwül unter dem breitrandigen Filzhut werden mochte. Es focht ihn das aber nicht an, denn er wandte sich zuweilen mit einem Scherzwort zu seiner Gefährtin um, die hinten an dem Wägelchen schob, und seine heiteren Augen glänzten dabei aus dem feinen, ein wenig schmalen Gesicht hervor, das von einem röthlichblonden Bart umrahmt war.

Die junge Frau nickte nur träumerisch zu den Worten ihres Mannes, da sie ganz in den Anblick der Berge versunken war, die im Sonnenduft drüben jenseits der dunklen Wälder lagen, während helle Sommerwölkchen leise durch die schimmernde Bläue schwebten. Von diesem Bilde schien die Frau die Augen nicht wegwenden zu können, so daß sie fast Mann und Kind darüber vergaß. Ihre Wangen waren vom Steigen und der Mühe des Schiebens geröthet, was ihr gut stand, und unter dem Strohhut waren ihre braunen Flechten losgegangen, so daß sie über die leichte Sommerblouse herabhingen und ihr einen mädchenhaften Anstrich gaben.

Die Straße hatte eben die steile Höhe erreicht, als sich unter dem grünen Dach des Wägelchens hervor eine ungeberdige helle Kinderstimme vernehmen ließ.

Hörst du ihn, Luise? sagte der Mann lachend, oder hat deine landschaftliche Begeisterung dich auch für die Stimme der Unschuld taub gemacht, wie für die Unterhaltung deines theuren Gatten? Wir werden hier wohl Station machen und uns nach den Wünschen unseres jungen Herrn erkundigen müssen.

Verzeih, sagte sie, wenn ich zerstreut und einsilbig war. Es ist so lange, daß ich nicht hinausgekommen bin und mich an schöner Natur einmal wieder erquickt habe. Mich hier mit einem Farbenkasten hinzusetzen, würde mir nicht einfallen, auch wenn er nicht längst eingetrocknet wäre und ich keine dringenderen Pflichten hätte. Es ist alles viel zu groß und gewaltig für eine Pfuscherin. Aber des Anschauens kann ich nicht satt werden. Nun verlangt der Hans sein Recht, der von anderen Naturgenüssen als nahrhaften und trinkbaren noch nichts weiß.

Sie lenkte das Wägelchen ein wenig von der Straße ab zu einer Lichtung unter den hochwipfligen Eschenbäumen, wo gerade eine Bank an der Waldlehne stand, und hob das Kind heraus, ein derbes, rosiges Bübchen von anderthalb Jahren, das, sobald es die Mutter erblickte, zu weinen aufhörte und mit den großen, noch halb verschlafenen Augen sich ernsthaft umsah. Dann, ein Milchfläschchen und einen kleinen Becher unter der Wagendecke hervorziehend, machte sie sich daran, den Kleinen, den sie auf den Schooß genommen hatte, unter zärtlichem Geplauder zu tränken.

Der Mann stand, auf seinen Stock gelehnt, dabei und weidete sich an dem lieblichen Bilde. Du siehst nun, sagte er, wie Recht ich hatte, als ich es bedenklich fand, den Buben mitzunehmen. Wir hätten ihn für die acht Tage der Tante anvertrauen sollen, zumal das Mädchen so zuverlässig ist, damit auch du einmal Mutterferien hättest.

Heuchle doch nicht! sagte sie scherzend. Gestehe nur, daß auch du kein Vergnügen hättest ohne den Schreihals, der sich ja übrigens so manierlich aufführt wie nicht jeder Reisegefährte. Er will nicht einmal bei jedem Wirthshaus einkehren und trinkt nie über den Durst.

Aber er plagt seine guten Eltern, daß sie ihre liebe Noth mit ihm haben, ihn bergauf zu schleppen.

O, sagte sie, das ist den Eltern nur gesund. So ein Gymnasialprofessor, der mit mehr Recht von Ueberbürdung reden könnte als seine Schüler, der sollte Gott danken, einmal Pferdchen spielen zu können. Und ich – meinst du, daß ich nur einen Augenblick vergnügter wäre, wenn ich in Gesellschaft von Bonne und Kinderfrau reisen könnte, statt unterwegs als Mädchen für Alles dienen zu müssen?

Sie sah wieder auf das blühende Kindergesicht herab mit jenem Ausdruck hingerissener Zärtlichkeit, der nur auf dem Gesicht einer glücklichen Mutter zu finden ist.

Er scheint nicht weiterschlafen zu wollen, sagte sie. Ich werde ihn nun eine Strecke weit tragen müssen, bis er wieder nach dem Wagen verlangt.

Gieb ihn mir, sagte der Mann. Wir zwei Männer vertragen uns sehr gut. Komm, Hansel! Ich will dir ein Stück von deinem Vaterland zeigen.

Er hob das Kind auf den Arm und war eben im Begriff, sich mit ihm in Bewegung zu setzen, als von der Straße heraus Peitschenknallen und das Stampfen von Pferdehufen erscholl. Ein vierspänniger Wagen, auf dessen Bock ein Diener in Livree einsam thronte, da der Kutscher nebenher ging, um den Pferden ihre Arbeitslast ein wenig zu erleichtern, erklomm langsam die letzte Höhe. Im Wagen saß ein elegantes Paar, das durch die schaukelnde Bewegung des Wagens und die Sonnenglut in einen Halbschlummer gewiegt worden war. Wenigstens wankte das rosaseidene Schirmchen, das die junge Dame über sich hielt, im Takt hin und her, und der Herr hatte den Kopf auf die Brust sinken lassen. Auf dem Rücksitz ruhte eine stattliche Amme in einem bunten Kostüm, die ein schlafendes Püppchen, ganz in Spitzen gewickelt, auf dem Schooß hielt und gleich ihrer Herrschaft eingenickt zu sein schien.

Der Ruck, mit dem der schwer mit Koffern beladene Wagen auf der Höhe des Weges hielt, da der Kutscher sich wieder auf den Bock schwang, rüttelte die Schlummernden auf. Die Dame strich die Fülle ihres blonden Haars, die ihr über die Wangen geglitten war, zurück und ließ einen müden Blick in die Runde schweifen, wobei sie herzhaft gähnte und die schönsten weißen Zähne sehen ließ. Auch ihr Gemahl richtete sich auf. Sein regelmäßiges, etwas blasses Gesicht hatte einen Zug von Verdrossenheit, und er hob eben die Hand nach dem Munde, um ein Gähnen zu verbergen, als seine Augen auf die Gruppe in der Waldblöße fielen, wo der junge Vater mit dem Knäbchen stehen geblieben war, während die Frau sich vor das Kinderwägelchen gespannt hatte und ihrerseits mit einer Geberde der Ueberraschung das vornehme Paar betrachtete.

In diesem Augenblick zogen die Pferde lebhaft wieder an, da richtete sich der Herr im Wagen unwillkürlich auf, wandte sich nach den Fußgängern um und griff, während sein Gesicht eine leichte Röthe überflog, höflich grüßend an den Hut. Die junge Frau hatte sich lächelnd verneigt und sah dem davonrollenden Gefährt, in welchem der Herr immer noch aufrecht stand, mit einer seltsamen Lustigkeit nach, zuletzt noch freundlich mit der Hand winkend, bis der Wagen ihr aus den Augen war.

Was hast du denn da für eine vornehme Bekanntschaft begrüßt? fragte der Mann. – Sie antwortete nicht sogleich. Dann, wie wenn sie die Frage überhört hätte: Du bist zwar nur Historiker, Heinz, sagte sie, aber die neueren Werke über Kunstgeschichte begegnen dir doch auch, wenigstens in Katalogen. Ist dir ein Kunstforscher Alfred Schmidtlein vor Augen gekommen mit einer Abhandlung über die Präraffaeliten?

Ich wüßte nicht.

Nun, es war auch eine überflüssige Frage. Ich wäre doch die Nächste dazu, Etwas davon zu wissen, da die Schrift mir dedicirt werden sollte. Ja diese armen Reichen! Es ist leichter, daß ein Kameel durch ein Nadelöhr geht, als daß ein Millionär zu einer ordentlichen Arbeit kommt.

Was redest du für räthselhafte Sachen, Luiserl?

Räthsel? Aber du kennst ja mein Abenteuer von Bordighera. Der Herr im Wagen war mein großer Zögling, an dem meine Erziehungskunst sich so schlecht bewährt hat.

Der wird einen schönen Begriff von deinem jetzigen Beruf bekommen haben, da er dich vor das Wägelchen gespannt sah!

Meinst du, es hätte mich genirt, daß dieser junge Krösus, der noch immer keinen anderen Lebensberuf zu haben scheint, als vierspännig spazieren zu fahren, uns hier begegnet ist und gesehen hat, wie wir auf Zigeunermanier durch die Berge wandern? Im Gegentheil. Ich habe ihn so fröhlich angelacht, daß er wohl merken konnte, ich bereute es nicht, damals nicht zugegriffen zu haben. Aber gieb mir den Buben. Ich fühle ein lebhaftes Verlangen, ihn zu küssen. Komm, Hansel! Du hast keine so schön aufgeputzte Kinderfrau, aber ich denke, du sollst dir's doch einmal anders als gewisse Leute zur Ehre rechnen, der »Sohn deines Vaters« zu sein!

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