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(1895.)
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Am Maximiliansplatz zu München, den eine glückliche Gärtnerhand aus der Sandwüste des ehemaligen Dultplatzes zu einer fröhlich grünenden Oase mit schattigen Büschen und Blumenbeeten umgeschaffen hat, steht ein Haus, das über der Fensterreihe des ersten Stockes in Goldbuchstaben die Inschrift »Hôtel zum Achatz« trägt.
An einem schönen Junitage trat in die große Gaststube dieses Hauses zu ebener Erde um die Mittagszeit ein schlankes junges Fräulein, setzte sich, nachdem sie flüchtig Umschau gehalten, an einen der kleinen runden Tische und bestellte bei der Kellnerin eine Suppe und ein Quart Bier.
Nur wenige ältere Leute, die Stammgäste zu sein schienen, Junggesellen aus dem geringeren Bürgerstande und angejahrte Frauenzimmer saßen in den Winkeln des geräumigen, aber niederen Locals und fuhren, nachdem sie einen Augenblick von ihren Tellern aufgesehen, in der Stillung ihres Hungers eifrig fort, obwohl der neue Ankömmling, der auffallend hübsch war, einer ausführlicheren Musterung wohl werth gewesen wäre.
Die Thür zu dem schattigen Wirthsgarten hinter dem Hause stand offen, unter den Bäumen dort saß eine buntgemischte Gesellschaft in jener zwanglosen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit vor dem Maßkrug, die dem Münchener öffentlichen Leben seinen anheimelnden Reiz verleiht. Mitten unter Beamten, Studenten und Offizieren sah man Maurer von einem benachbarten Bau ihre Mittagsmahlzeit halten und verschrumpfte alte Bettelweibchen sich an einem Glase Bier und einem Bissen Brod zu weiteren Bittgängen stärken. Auf der Musikantenbühne wurde heftig gefiedelt und geblasen, und in den Baumwipfeln über dem behaglichen Treiben schwirrten die Vögel zwitschernd aus und ein und schossen bisweilen zur Erde herab, um sich von den Brosamen zu nähren, die von den wachstuchgedeckten Tischen fielen.
Unter den Gästen in der kühleren Wirthsstube, die sich der Gartenmusik nur aus bescheidener Entfernung erfreuten, vielleicht um das Fünferl auf den Teller des einsammelnden Clarinettisten zu sparen, saß ganz für sich allein ein junger Mann, den das lockige Haar, das braune Sammetröckchen und ein gewisser still gespannter Blick, der alle Gegenstände nachzuzeichnen schien, als einen Kunstjünger erkennen ließen. Er hatte sein Mahl beendet und gab sich bei einer Cigarrette und dem Rest seines Bieres einer gedankenlosen Siestastimmung hin. Nur ab und zu las er eine Zeile in den Neuesten Nachrichten, doch ohne besonderes Interesse. Beim Eintritt des jungen Fräuleins aber hatte er das Blatt sofort auf den Tisch gelegt und seitdem keinen Blick von der reizenden Erscheinung verwandt.
Was ihn zu diesem beharrlichen Studium bewog, war nicht allein die Anmuth ihrer jungen Person, die zarte und doch charaktervolle Linie des Profils und die Fülle des weichen blonden Haares, die unter dem Strohhütchen vorquoll und tief in den Nacken hinabfiel. Er grübelte beständig darüber nach, wofür er sie nehmen sollte, welchem Stande oder Lebenskreise sie angehören mochte. Zwar, daß sie keine Münchnerin sein könne, war ihm nicht zweifelhaft. Er verstand sich ja hinlänglich auf die in der Stadt dazumal herrschende weibliche Tracht, um nicht zu sehen, daß das helle Sommerkleid des Fräuleins und ihr etwas allzu malerischer Hut, so allerliebst ihr Beides stand, gleichwohl aus der Provinz stammten. Freilich war ihr ganzes Betragen, der ernsthafte, ein wenig stolze Blick, mit dem sie um sich schaute, von so ruhiger Sicherheit, wie sie keinem Landpomeränzchen zuzutrauen war, das sich mutterseelenallein an einem Gasthaustisch unter den Feuerblicken eines jungen Künstlers befand. Sie mußte auch durchaus von guter Familie sein, nicht gewohnt, allein zu reisen und in Localen mit Gartenmusik zu speisen. Vielleicht hatte sie nur eine plötzliche kleine Schwäche angetrieben, im nächsten besten anständigen Gasthaus eine Labung zu sich zu nehmen.
Aber sie war gar zu hübsch. Was hätte der junge Maler darum gegeben, sie nur auf ein Stündchen, den Stift in der Hand, betrachten zu dürfen. Doch hatte sie sich, da sein Anstarren sie belästigte, ihm entschieden abgewendet, so daß er nur hin und wieder ein Streifchen des verlorenen Profils und das zierliche Oehrchen zu bewundern bekam.
Der Reiz des Geheimnisses, das sie umgab, wurde noch verstärkt, als sie jetzt mit der Kellnerin sprach, in so leisem Ton, daß nur der sanfte Klang ihrer Stimme vernehmbar wurde. Es schien sich noch um Anderes zu handeln als um die kleine Zeche, die sie zu berichtigen hatte. Die Wally schüttelte mehrmals den Kopf, zuckte die Achseln und entfernte sich endlich mit einer wunderlichen Miene, als ob ihr irgend Etwas nicht in den Kopf wolle.
Auf einen Wink des Malers trat sie zu diesem heran und ließ sich nicht lange bitten, ihm anzuvertrauen, um was das Fräulein sie befragt hatte. Der junge Mann nickte, offenbar sehr befriedigt durch ihre Mittheilung. Als dann das Mädchen von den anderen Gästen abgerufen wurde, warf er seine Cigarrette weg, strich sich mit einem Taschenkämmchen durch das dichte Haar, ordnete sein loses Halstuch und erhob sich rasch, um sich dem Tische zu nähern, an dem die Fremde soeben ihre Handschuhe wieder anzog, sich zum Weggehen rüstend.
Er verneigte sich vor ihr, die etwas unwillig abweisend zu ihm aussah, und sagte: Verzeihung, gnädiges Fräulein, daß ich mir erlaube, Sie anzureden. Die Kellnerin aber hat Ihnen, da sie erst seit Kurzem hier ist, auf eine Frage keine Auskunft geben können, die ich sehr wohl zu beantworten im Stande bin. Der kleine Kreis hervorragender Männer, der sich an dem runden Tische dort alle Samstagmittag einzufinden pflegt, um bei einem Frühschoppen allerlei muntere Gespräche zu führen, versammelt sich nur, so lange noch Bock geschenkt wird. Im Sommer versiegt dieser edle Quell, und das gewöhnliche Bier scheinen die alten Herren zu verschmähen. Wenn Sie ihre Bekanntschaft machen wollen, müssen Sie sich im Herbst wieder herbemühen. Uebrigens – ich esse nämlich hier beim Achatz regelmäßig zu Mittag und horche dann immer ein bischen auf ihre Unterhaltung – ich kann Sie versichern, mein Fräulein, auch diese Honoratioren des Geistes plaudern wie geringere Sterbliche, gewöhnlich von Stadtneuigkeiten, kannegießern von Politik oder erzählen sich die neuesten Witze aus den Fliegenden Blättern. Und da sie auch ihrem Aeußern nach nicht zu den Sehenswürdigkeiten Münchens gehören, für eine junge Dame wenigstens – aber ich bitte meine dreiste Rede zu entschuldigen. Wir Künstler unter einander – denn ich täusche mich wohl nicht, wenn ich in dem gnädigen Fräulein eine Kunstgenossin zu begrüßen glaube?
Das schöne Mädchen hatte diese Rede, die nur durch eine gewisse hastige Beklommenheit des Sprechenden so lang gerathen war, ohne eine Miene des kühlen, stolzen Gesichtchens zu verändern, angehört. Es war merkwürdig, welchen Ausdruck von Hoheit die rosigen Flügelchen des reizenden Stumpfnäschens erhalten konnten, und wie überlegen der kinderhafte rothe Mund sich ausnahm, wenn die schwellende Oberlippe sich ein wenig rümpfte.
Ich danke Ihnen mein Herr, sagte sie jetzt. Ich weiß nun, was ich wissen wollte. Ihre Voraussetzung aber, daß wir Kunstgenossen seien, trifft nur halb zu. Sie sind Maler, nicht wahr? Nun, ich bin – eine angehende Schriftstellerin. Als solche fühlte ich eine begreifliche Neugier, die Herren kennen zu lernen, von denen ich gehört hatte, daß sie Samstags hier zusammenkämen, den alten Professor der Aesthetik, den ich aus seinen Büchern kenne, den Dichter – sie nannte seinen Namen, der hier Nichts weiter zur Sache thut – und wer sonst noch zu diesem interessanten Kreise gehört. Vielleicht, dacht' ich, komm' ich irgendwie mit ihnen in nähere Berührung, was doch sehr werthvoll für mich wäre, und jedenfalls höre ich, wie solche Männer über höhere Themata sich äußern. Aber wenn Sie mir sagen, es laufe auch bei ihnen auf das gewöhnliche Wirthshausgespräch hinaus, so habe ich ja Nichts verloren.
Verdenken Sie ihnen das, mein Fräulein? erwiderte der junge Mann mit dem treuherzigen Lächeln, mit dem man ein Kind über getäuschte Hoffnungen reden hört. Ich gestehe, daß ich die würdigen Herren darum hochschätze, daß sie ihre feierlichen Ideen und gelehrten Abhandlungen nicht ins Wirthshaus mitbringen, sondern hier wie ganz gewöhnliche Sterbliche bei einem guten Trunk guter Dinge sind. Aber erlauben Sie mir zunächst, daß ich mich Ihnen vorstelle. Ich bin, wie Sie mir richtig angesehen haben, Kunstmaler meines Zeichens, mein bis dato noch ziemlich unberühmter Name ist Tino Ansorg – aber warum lachen Sie, mein Fräulein?
Die junge Dame schien allerdings Mühe zu haben, einen Ausbruch plötzlicher Heiterkeit zu bekämpfen. Doch stand ihr die lustige Miene noch hübscher als der frühere gemessene Ernst.
Verzeihen Sie, sagte sie zögernd, es wird Ihnen unartig scheinen, aber Ihr Name – Tino Ansorg –
Tino ist die Abkürzung von Martino, mein Fräulein, wie man mich in Italien nannte. Seitdem ist's an mir hängen geblieben, und da mich alle meine Freunde so nennen, hab ich mir's auch angewöhnt und zeichne sogar meine Bilder T. A.
Es klingt auch ganz hübsch. Aber was mir komisch vorkam, ist, daß mein Name dieselben Buchstaben hat, nur in anderer Ordnung. Ich heiße Toni, Toni Vetterlein, auch bis dato noch ganz unberühmt. Und freilich, bei dem Wenigen, was bisher von mir gedruckt worden ist, habe ich mich nicht mit meinem bürgerlichen Namen unterzeichnet, sondern mich Linda Leonhard genannt. Vetterlein klingt so prosaisch, nicht wahr?
O, sagte er, das ist ja reizend, daß wir halbe Namensvettern sind. Gestatten Sie, daß ich mich einen Augenblick zu Ihnen setze? Und vielleicht darf ich so frei sein – er hielt ihr sein Cigarettentäschchen hin – Sie rauchen nicht? Ich dachte, das gehöre zur Schriftstellerei, besonders zur angehenden? So erlauben Sie wohl, daß ich selbst –
Er wartete ihre Erlaubniß nicht ab, sondern setzte sich hurtig zu ihr an den Tisch und machte sich auch keine Gedanken darüber, daß ihr Gesicht wieder seinen abweisenden Ausdruck annahm. Doch wich sie seinen bewundernden Blicken nicht aus, sondern betrachtete ihn unbefangen prüfend, als bemühe sie sich, seinen leiblichen und geistigen Steckbrief zu entwerfen, etwa für eine spätere Personalbeschreibung in einer Novelle. Dabei fuhr sie eifrig fort, ihre Handschuhe zuzuknöpfen.
Es wäre sehr liebenswürdig, mein Fräulein, sagte er jetzt, wenn sie die Gnade hätten, meine Neugier zu befriedigen und mir zu sagen, was Sie bereits veröffentlicht haben. Wenn es auf andere Weise nicht möglich sein sollte, möchte ich die freundliche Bekanntschaft wenigstens schwarz auf weiß fortsetzen. Welches Genre cultiviren Sie, wenn ich fragen darf? Das lyrische, novellistische, dramatische? Ich bin als bildender Künstler zu ungebildet im Betreff der neuesten Litteratur, um bereits über Linda Leonhard's Werke Bescheid zu wissen.
Sie wurde ein wenig roth und lächelte nun wieder.
Spotten Sie nur, sagte sie. Es gehört auch noch nicht zur allgemeinen Bildung, etwas von mir zu wissen. Weiß ich doch selbst noch nicht viel von mir. Auf die paar Gedichte, die im Dichterheim, Universum und sonst noch hie und da von mir gedruckt worden sind, lege ich selbst nicht den geringsten Werth, und eine kleine Skizze in der Frauenzeitung – mein Gott, ich bin mir ganz klar darüber, daß das Alles noch sehr dilettantisch ist. Wie sollt' es auch anders sein? Ich habe ja, seit ich die Backfischschuhe ausgezogen, ohne alle geistige Anregung gelebt, in einer Landstadt von zehntausend Einwohnern, außer Büchern gar keine Lehrmeister. Vorher, als wir noch in München lebten – mein Vater war Offizier mit Leib und Seele, meine liebe Mutter sehr kränklich, so daß ich ihr, schon da ich noch ins Institut ging, das Meiste vom Haushalt abnehmen mußte. Dann wurde der Papa plötzlich pensionirt, allerdings mit Oberstenrang, aber es kränkte ihn furchtbar, er glaubte sich in der Hauptstadt nicht mehr sehen lassen zu können, und so zogen wir in die Provinz, wo er ganz einsam lebte, zumal nach dem Tode der Mama, und ich hatte meine liebe Noth, ihm die melancholische Laune etwas zu erhellen. Auch durfte ich kaum von seiner Seite, höchstens zu einem Spaziergang um die Stadt herum, als ich von der Zimmerluft ganz blaß und elend zu werden anfing. Da können Sie denken, daß ich, so lieb ich ihn hatte, oft in sehr schwermüthiger Stimmung war. Nun, da fing ich an, Gedichte zu machen, es war meine einzige Erquickung in dem traurigen Einerlei, und sie geriethen auch darnach, der reine Weltschmerz, Lebensüberdruß und Pessimismus.
Sie Aermste! Ja diese grausamen Väter! Auch der meine ist Schuld daran, daß ich erst das Gymnasium absolviren mußte, ehe ich meiner Leidenschaft für Pinsel und Palette fröhnen durfte.
Nein, sagte sie, und in ihren braunen Augen schimmerte es feucht, ich gäbe dennoch all meine Manuscripte darum, wenn mein guter Papa noch lebte, mich manchmal anbrummte und mir dann wieder das Haar streichelte. Als er vor einem Jahre starb, wär' ich ihm am liebsten gleich nachgefolgt, so irr und arm kam ich mir vor in der weiten Welt. Auch mein bischen Poesie wollte mich erst nicht trösten, und nur sehr langsam fand ich mich in mein Schicksal. Als dann die Gartenlaube das Skizzchen von mir brachte – das ermuthigte mich sehr. Aber gleich das Nächste, eine kleine Novelle, schickten sie mir zurück, es sei noch manches Unreife daran. Ich glaubte es nicht und wandte mich an ein anderes Blatt. Auch da wurde es nicht angenommen. Der Redacteur aber schrieb nur sehr freundlich, die Arbeit verrathe Talent, aber noch eine sehr geringe Kenntniß des Lebens. Ich würde das selbst später einsehen, wenn ich mehr Erfahrungen gesammelt hätte, und dann mich bemühen, dreister ins volle Menschenleben hineinzugreifen, und so weiter. Ich war anfangs etwas beleidigt, ich meinte, da ich schon einundzwanzig Jahr alt war, hinlänglich die Welt und die Menschen kennen gelernt zu haben. Ich wußte ja auch so ziemlich von jedem Hause in unserem kleinen Nest, wie es darin zuging. Und Sie können denken, auch in so einem Provinzörtchen geht's nicht immer ganz sauber zu. Dann aber fielen mir die Schuppen von den Augen, und ich gab dem wohlmeinenden Rathgeber Recht! Das war ja nicht die Welt, für die sich ein großes deutsches Publikum interessiren konnte, das waren lauter enge, kleine Verhältnisse, spießbürgerliche Anschauungen und elende Vorurtheile. Wenn eine Schriftstellerin aus mir werden sollte, die den Besten ihrer Zeit genugzuthun im Stande wäre, müßt' ich aus dieser Krähwinkelei heraus in ein weiteres und freieres Milieu. Ich hatte ja auch zum Glück keine Pflichten, die mich hätten zurückhalten können, wie Ibsen's Nora, der ich's nicht verzeihen kann, daß sie ihre Kinder im Stich läßt, um leben zu lernen. Ich war allerdings verlobt –
Verlobt? Sie sind Braut, Fräulein?
Freilich, schon über Jahr und Tag. Mein seliger Vater hat es noch erlebt, und es war seine letzte Freude. Mein Bräutigam ist Landrichter in unserer kleinen Stadt, ein vortrefflicher Mensch, erst dreiunddreißig, und hat, so vernünftig er sonst ist, eine unsinnige Liebe zu mir. Und doch, als das Trauerjahr zu Ende war und die Hochzeit nun hätte stattfinden können, da sagte ich ihm, wir müßten durchaus noch ein Jahr warten, ich könne mich nicht entschließen, schon jetzt einzig und allein für einen noch so lieben Mann zu existiren, ich wolle erst Lebensstudien machen. Natürlich betrübte ihn das sehr. Aber er hat ein so festes Vertrauen zu mir, und dann hatten wir auch die Nora zusammen gelesen, und er sah ein, es war besser, ich machte meine Erfahrungen über das Leben vor der Ehe als hinterher. Ja nach der ersten schmerzlichen Ueberraschung, daß er warten sollte, konnte er sogar scherzen: Geh nur, Tonerl, und mach's wie die Conditorlehrlinge, die so lange Kuchen essen, bis sie zuletzt nichts Süßes mehr anrühren können. Ich weiß, daß dir mein Hausbrod hernach um so besser schmecken wird.
Der Herr Landrichter scheint keine geringe Meinung von sich zu haben, warf Tino Ansorg ein. – Er hatte, seit der Bräutigam aufgetaucht war, mit sehr enttäuschter Miene zugehört.
Nein, fuhr das Fräulein fort, aber er kennt mich und weiß, daß er sich auf mich verlassen kann. Auch ist er weit über seine Stellung hinaus gebildet, und gerade in der kleinen Leihbibliothek, wo wir uns zuerst begegneten, hat sich uns nach und nach die Ueberzeugung aufgedrängt, daß wir für einander geschaffen wären. Nun habe ich auch zum Glück eine Verwandte hier, die Wittwe meines Oheims von Vatersseite, die nach dem Tode ihres Mannes in der alten Wohnung geblieben ist und Platz für mich hatte. Bei der wohne ich seit einer Woche, und mein guter Max wird sich wohl darein finden müssen, daß der Conditorlehrling so bald noch nicht sich nach dem Hausbrod sehnt. Es ist zu schön in München, ich gehe noch immer wie im Traum herum oder wie im Märchen auf irgend einer Zauberinsel, wo an allen Bäumen die herrlichsten Früchte hängen und die buntesten Vögel singen. Freilich, bis jetzt habe ich genug zu thun gehabt, all die Sehenswürdigkeiten zu betrachten, die ich, so lange wir hier wohnten, als dummes Schulkind nicht zu würdigen wußte, die Galerieen und Kirchen, die schönen Partieen an der Isar und im englischen Garten. Darüber bin ich zu meinem eigentlichen Zweck, dem Menschenstudium, noch gar nicht recht gekommen. Aber damit will ich nun auch anfangen. Ich habe noch ein paar bekannte Häuser aus meiner Eltern Zeiten her und einige Schulfreundinnen. Morgen am Sonntag will ich meine ersten Visiten machen.
Damit stand sie auf, machte Herrn Tino Ansorg eine kleine höfliche Verbeugung und wandte sich der Thür zu. Er aber sprang ihr nach und schien nicht gesonnen, nach einer so vertraulichen Behandlung von Seiten der jungen Muse sich jetzt ohne weiteres abschütteln zu lassen. Also öffnete er dienstfertig die Thür, ließ das Fräulein hinaustreten und schloß sich ihr draußen wieder an.
Sie war davon offenbar nicht sehr erbaut. Aus ihrer Provinzheimath war sie daran gewöhnt, sofort an ein zärtliches Verhältniß zu denken, wenn ein junger Herr einem jungen Mädchen, dessen Verwandter er nicht ist, auf der Straße das Geleit giebt. Ehe sie aber noch näher erwogen hatte, ob das auch für die Residenz passe und vollends für eine Schriftstellerin, die Lebensstudien zu machen wünscht, hörte sie ihn sagen: Ich kann leider nur bis zum Hofgarten das Glück haben, an Ihrer Seite zu bleiben, falls Sie es überhaupt gestatten. Ich habe mir Modell bestellt, das geht wieder fort, wenn es mich nicht vorfindet. Aber erlauben Sie mir, in dem glücklichen Zufall, der uns zusammengeführt hat, einen Wink des Himmels, wie man zu sagen pflegt, zu finden. Nicht bloß zu meinem Vortheil, auch zu Ihrem Besten, mein Fräulein. Wenn Sie das Leben kennen zu lernen wünschen – ich erbiete mich zu Ihrem Cicerone. Sie werden doch nicht bloß die Menschen in Ihren Offizierskreisen für interessant halten?
Sie schüttelte lächelnd den Kopf.
Nun sehen Sie, ich kann Ihnen Gelegenheit verschaffen, auch in andere Regionen hinabzusteigen, oder hinauf, sollte ich eigentlich sagen. Denn obwohl der behäbige Philister, Rentier und Hausbesitzer über Unsereinen sich erhaben dünkt und alle Jünger der sieben freien Künste als Boheme in Einen Topf wirft – Sie gehören nun doch einmal auch dazu, mein verehrtes Fräulein, oder wollen wenigstens von jetzt an Ernst damit machen. Nun besteht hier seit mehreren Jahren eine kleine zwanglose Gesellschaft, die Abends meist erst nach dem Theater in einem Café an der Maximiliansstraße zusammenkommt, Schriftsteller, Maler, Schauspieler, Sänger und was sonst die Welt, in der man sich langweilt, nicht für ebenbürtig hält. Natürlich auch Damen; es geht aber höchst anständig dabei zu, wie ich kaum zu versichern brauche, da ich um die Ehre bitten möchte, Sie dort einzuführen. Sie hätten da zugleich die beste Gelegenheit, das Handwerk zu begrüßen. Denn das zwar nicht officielle, aber thatsächliche Haupt dieser sogenannten »Freien Vereinigung« – Statuten giebt's natürlich nicht – ist ein gewisser Fritz Rempler, der sich Doctor schelten läßt, obwohl es heißt, daß er nie promovirt habe. Aber ein ausgezeichnet gescheidter und geistreicher Herr, erst vor wenigen Jahren aus Berlin übergesiedelt, schreibt Feuilletons, Theaterberichte und Kunstkritiken in einem hiesigen Blatt und correspondirt mit einem Dutzend auswärtiger Zeitungen. Sie begreifen, Fräulein Toni, wie nützlich Ihnen die Bekanntschaft mit einem solchen Manne werden kann, der die ganze todte und lebendige Litteratur am Schnürchen hat, alle Verleger kennt und die Presse beherrscht. Und die anderen Bohêmiens – an einigen werden Sie gewiß Gefallen finden. Wenn Sie also geneigt wären, würde ich so frei sein, Sie heute Abend gegen halb neun Uhr abzuholen, und daß ich es mir nicht nehmen lassen würde, Sie hernach sicher bei Ihrer Frau Tante wieder abzuliefern, ist selbstverständlich.
Das Fräulein hatte indessen nicht ohne lebhaften inneren Zwiespalt überlegt, ob sie sich auf diesen für eine Provinzialin ungeheuerlichen Vorschlag einlassen solle. Zuletzt aber hatte der Gedanke den Ausschlag gegeben, wer den Zweck wolle, dürfe die Mittel nicht verschmähen, und Lebenserfahrung sammle man nicht, wenn man nach einem Plauderstündchen mit einer alten Tante mit den Hühnern zu Bette gehe und in zweifelhafte Gesellschaft keinen Fuß hineinsetze.
Nicht zum wenigsten half ihr bei dem Entschluß, über die Schnur zu hauen, die Betrachtung des guten Gesichts ihres Begleiters, das nicht eben schön zu nennen war, wenigstens nicht durch eine klassische Nase sich auszeichnete, aber mit dem offenen Blick und dem treuherzigen Munde einen so gewinnenden Ausdruck hatte, daß man ihm keinerlei »Verrath und Tücke« zutrauen konnte. So sagte denn auch das Blaustrümpfchen nach einer kleinen Pause:
Ich danke Ihnen für Ihren Vorschlag, Herr Tino – wie ist doch ihr anderer Name? – und nehme ihn gern an, hoffe auch, die Tante wird einwilligen. Denn sonst –
Sie sind doch Ihre eigene Herrin, mein Fräulein?
O gewiß, aber die alte Frau ist sehr verehrungswürdig, und ich möchte nicht gern Etwas thun, was sie mißbilligen würde. Hier auf der Karte steht meine Wohnung. Es trifft sich ja gut, daß das Local der freien Vereinigung der Straße an der Isar so nahe liegt. So hab' ich Sie nicht allzu sehr zu bemühen. Und jetzt sage ich Ihnen adieu – bis auf heute Abend. Es war mir sehr angenehm –
Sie nickte ihm, wieder ein bischen gnädig, von oben herunter zu und entfernte sich rasch, da es ihr peinlich wurde, daß alle Vorübergehenden sie fixierten, als ob sie sich über ihre Begleitung Gedanken machten. Niemand aber dachte daran, sondern man freute sich nur des hübschen Gesichts und der dunklen Augen, die aus dem Schatten des breiten Strohhütchens so kindlich erstaunt und ernsthaft hervorglänzten.
Sie war nun freilich Evastochter genug, um endlich auch dahinterzukommen, daß es ihre anmuthige kleine Person sei, die alle Begegnenden sich nach ihr umwenden machte. Doch ging ihr das nicht sehr ins Blut, da sie weit Wichtigeres zu bedenken hatte: ihre ersten Schritte in die wirkliche Welt nach dem halben Traumleben in der Provinz. Aber jung und ein tapferes Soldatenkind, wie sie war, spürte sie den kleinen Schauer des Ungewissen und Gefährlichen eher mit einer leisen Wonne als mit Bangigkeit. Auch war der Tag so schön, selbst um diese Mittagszeit nur eine gelinde Wärme, die vielen Menschen in der breiten Straße am Theater vorbei und dem Hôtel »Zu den vier Jahreszeiten« sahen alle so satt und sorglos aus, die Fremden darunter waren so hübsch gekleidet – was gab es da nicht zu schauen und zu studieren! Sie versuchte, sich einige der interessantesten Figuren recht bis in alle Einzelheiten zu merken, eine innere Momentaufnahme von ihnen zu machen und jeder sogleich ein kleines Schicksal anzuheften. Auf diese Art, glaubte sie, mache ein Schriftsteller seine Studien nach dem Leben. Doch waren es meist Romanmotive aus ihrer Lectüre, die sie dabei verwerthete, da ihre eigene bisherige Lebenskenntniß nur dürftig war. Aber das sollte ja bald anders werden. Wie gut war's, daß gerade heut' Abend die Tante ihren Tarok hatte, wobei sie die junge Hausgenossin am wenigsten vermissen würde.
So wandelte sie langsam unter den Kastanienbäumen, die schon all ihre Blüten abgeschüttelt hatten, die schöne breite Straße hinab dem Flusse zu, recht im Vollgefühl des Glückes, einundzwanzig Jahre, auffallend hübsch und eine heimliche Dichterin zu sein, die so ungebunden wie der Vogel aus dem Zweig ihre Flügel ausbreiten und mitten ins Leben hineinfliegen durfte.
Ein wenig gedämpft wurde freilich diese hochfliegende Glückseligkeit, als sie die drei steilen Treppen in dem Hause der Steinsdorfstraße am Quai zur Wohnung der Tante hinaufstieg. Denn es schien ihr immerhin möglich, daß die Frau Kanzleiräthin mit der abendlichen Sitzung im Café nicht einverstanden sein möchte, Ihr seliger Mann hatte im Kriegsministerium durch die Fürsprache seines höherstehenden Bruders einen bescheidenen Posten erhalten, der es ihm möglich machte, sie, seine Jugendgeliebte, heimzuführen, da sie sich als Erzieherin dreier Kinder bei einem Wittwer in München aufhielt. Auch dieser bewarb sich um sie, sie zog aber den Subalternbeamten, obwohl er keine glänzenden Aussichten hatte, dem weit besser versorgten Vater ihrer Zöglinge vor, Niemand wußte recht, warum. Sie mußte es aber wohl wissen, da sie bis in ihr fünfzigstes Jahr in vollem Glück mit dem unscheinbaren Manne lebte und nach seinem Tode nicht zu bewegen war, zu ihrem Schwager in die Provinz zu ziehen, wo sie es in mancher Hinsicht bequemer gehabt haben würde. Sie erklärte, von der kleinen Wohnung hoch über der Isar, wo sie mit ihrem Seligen gehaus't, sich nicht trennen zu können, lieber sich in Manchem einzuschränken, und hatte dies nun bis ins achte Jahr bewährt, ohne irgend Jemand zur Last zu fallen.
Ja sie wollte auch Nichts davon hören, daß ihr Nichtchen davon sprach, zwar die Wohnung bei ihr anzunehmen, sonst aber nur gegen eine billige Vergütung sich bei ihr in Pension zu geben. Von Jemand, der zur Familie gehöre, lasse sie sich Gastfreundschaft nicht mit Geld vergüten. So hatte sich Toni darein fügen müssen, mit dem stillen Vorbehalt, diese Schuld auf irgend eine Art später abzutragen, jedenfalls ihren ersten Novellenband der lieben Tante Babette zu widmen.
Die kleine alte Frau, die gleichwohl mit ihrem scharfgeschnittenen blassen Gesicht etwas Imponierendes hatte, war wohl ein wenig überrascht gewesen, als ihr die junge Braut aus der Provinz, für deren neuen Hausstand sie bereits passende Hochzeitsgeschenke eingekauft hatte, mit aller Gemüthsruhe erklärte, von Heirathen sei noch keine Rede, zunächst solle die hohe Schule der Lebenserfahrung besucht werden. Da sie aber den Ernst des Mädchens erkannte, hütete sie sich, dreinzureden und abzurathen, zumal sich's in der ersten Woche nur darum handelte, die Museen oder etwa ein Gartenconcert zu besuchen und etwas Richard Wagner zu naschen.
Sie hatte dem Tonerl also während dieser acht Tage alles Liebe und Gute angethan, ihr auch das »Arbeitszimmer« des seligen Kanzleiraths eingeräumt, in welchem der wackere Mann freilich nie eine Feder angerührt hatte, außer einmal zu einem Briefe an den Bruder Oberst, den er trotz seiner unfreiwilligen Pensionierung als ein höheres Wesen verehrte.
Um so eiliger hatte es die jetzige Bewohnerin dieses Gemachs, dem Namen desselben Ehre zu machen. Denn sie nahm sogleich den Tisch, an dem der selige Oheim seine Zeitung gelesen hatte, für ihre Schreiberei in Beschlag, kramte eine umfangreiche Mappe mit schönem weißem Papier, ein Reisetintenfaß und das übrige Handwerkszeug einer Schriftstellerin aus ihrem Koffer hervor und breitete es sorgsam aus, vergaß auch nicht eine Photographie nach dem Weimarer Goethe-Schiller-Standbild in einem Stehrähmchen dahinter aufzupflanzen. Das Bild ihres Bräutigams stand in kleinerem Format daneben.
Hier nun, wo das schönste Licht aus dem freien Himmel überm Flusse ihr auf das Blatt fiel, hatte sie sich gleich am zweiten Tage an ein eifriges Aufzeichnen ihrer Eindrücke und Gefühle gemacht, da sie mit dem Eintritt in das »volle Menschenleben« der Hauptstadt auch ein neues Tagebuch begonnen hatte, nicht in dem veralteten redseligen Stil der gewöhnlichen Herzensergüsse junger Damen, sondern in kurzen, sachlich berichtenden Sätzen, als Material für künftige dichterische Verarbeitung. Ein in blauen Sammet gebundenes Buch mit goldenem Schnitt, das in Golddruck den Titel »Poesie« trug und unter der Überschrift »Blüten und Knospen« alle ihre lyrischen Jugendsünden enthielt, ließ sie geringschätzig im Koffer. Sie war sich bewußt, in die »zweite Periode« ihrer Dichterschaft eingetreten zu sein, wo an die Stelle des sentimentalen Tändelns harte Arbeit treten mußte, und konnte noch nicht darüber ins Reine kommen, welchen Titel sie dem nächsten Abschnitt geben sollte. Zunächst freilich war überhaupt für lyrische Gedichte ihre Stimmung nicht die günstigste. Ihr eigenes Herz zu studieren und zu Worte kommen zu lassen, hatte sie in der kleinstädtischen Stille Zeit genug gehabt. Jetzt galt es, das »Weltleben« zu betrachten, die »sociale Frage« zu studieren, dem »Kampf ums Dasein« näher zu treten und zu den »Aufgaben des Jahrhunderts« eine entschiedene Stellung zu nehmen.
Sie wußte, daß sie damit hergebrachten Vorurtheilen vor den Kopf stoßen würde, war aber entschlossen, zu zeigen, daß nicht nur junge Amerikanerinnen den Muth besäßen, sich nur auf ihr gutes Gewissen und ihr ebenbürtiges Menschenrecht verlassend, ohne männlichen Schutz ihren Weg zu suchen. Diese frische Kühnheit, mit der sie ihre Zukunft in die Hand nahm, hatte endlich auch der Tante Babette Respect eingeflößt.
Als daher Toni zu ihr eintrat und ihr Abenteuer vom Achatz nebst seinen Folgen berichtete, überlegte sie ebenfalls, daß es nicht zweckmäßig sein würde, kleinbürgerliche Bedenken zu äußern.
Liebes Kind, sagte sie, ich mein' halt, du thust, was dir gut und recht scheint, wenn's auch nicht ganz in der Regel ist. Schau, jeder Mensch ist vom Schicksal dazu verurtheilt, eine bestimmte Anzahl Dummheiten in seinem Leben zu machen. Derjenige kann Gott danken, der sie alle möglichst in jungen Jahren abmacht. Ich sehe, du bist damit im guten Zuge, und übrigens hast du ja Verstand genug, es nicht zu weit kommen zu lassen. Wenn dein Max einverstanden ist – ich soll dich nicht heirathen. Nur bitt' ich mir aus, daß du nicht später als halb Elf nach Hause kommst, denn meine Polizeistunde muß respectirt werden.
*
Tino Ansorg, als er der Verabredung gemäß am Abend erschien, um das Fräulein abzuholen, wurde von dem Dienstmädchen in den »Salon« geführt, die »gute Stube«, die in keiner noch so bürgerlichen Wohnung fehlen darf, meist aber nur den obligaten Plüschmöbeln, einem mit weißem Gazeüberzug gegen die Fliegen geschützten broncenen Kronleuchter und etlichen zweifelhaften Bildern und Gypsfiguren zum Aufenthalt dient.
Die Frau Kanzleiräthin jedoch öffnete diesen geheiligten Raum unbedenklich ihrer Tarokpartie, die in vollem Gange war, als der Maler hereintrat. Er stutzte sichtlich, als er statt der reizenden jungen Muse sich drei bejahrten Damen gegenüber fand, die ihn mit bösen Blicken musterten, offenbar unwillig, in ihrem Spiel gestört zu werden. Vor der kleinsten und am besten conservierten Matrone, der guten Tante Babette, schien er aber Gnade zu finden, und sie war eben im Begriff, ihn zum Sitzen einzuladen, als die Nichte aus dem Nebenzimmer eintrat, gestiefelt und gespornt, um ihren Ritter der unheimlichen Gesellschaft zu entführen.
Sie machte, noch auf der Treppe, einen Scherz über diese würdigen Gevatterinnen, die nie zusammen spielten, ohne sich aufs Bitterste zu zanken, und doch ohne diese streitbare Freundschaft nicht leben könnten. Alle Drei haben ihre Männer früh verloren, eine auch ihre Kinder, aber sie leben außerordentlich gern, obgleich sie eigentlich nie Etwas erlebt haben, was über das Alltäglichste an Freud' und Leid hinausging. Ich stürbe vor Langerweile an solchem Leben! schloß sie ihre Betrachtung.
Wenn Sie mir einen Gefallen thun wollen, Fräulein Toni, bat der Maler, so bereden Sie die drei Damen, mir zu sitzen. Ich male gerade an einem Bilde der drei Grazien, ins Moderne übersetzt, und würde gern ein Pendant dazu machen, die drei Parzen bei einer Tarokpartie, wo die älteste einen Matsch macht, was man den beiden andern an ihren grimmigen Gesichtern ansehen müßte. Das wäre was für die nächste internationale Ausstellung und brächte mir die erste Medaille ein.
Sie lachten Beide. Dann wurde Toni wieder ernsthaft.
Was ich Sie noch bitten wollte: stellen Sie mich der Gesellschaft nicht als Toni Vetterlein vor, sondern unter meinem Schriftstellernamen. Ich möcht' nicht gern, daß bis nach meinem kleinen Nest hinüber das Gerücht ginge, ich besuchte in München zu später Nachtstunde ein Café mit fremden jungen Herren. Es möchte meinem Bräutigam nicht angenehm sein.
Er gab nur brummend seine Zustimmung zu erkennen. Immer, wenn sie diesen Bräutigam erwähnte, wurde seine gute Laune gestört.
So gingen sie in der laternenhellen Straße unter den Bäumen dahin, ohne viel zu reden. Wieder überlief das junge Mädchen jenes wohlige Gruseln gegenüber dem Unbekannten, das ihr das Herz schneller klopfen machte. Es war zum erstenmal, daß sie etwas so Verpöntes unternahm, aber sie wußte, daß es keinem frivolen Trieb entsprang, sondern daß sie es ihrem Lebensberuf schuldig war. Das machte sie heimlich stolz und vergnügt, und sie nahm sich vor, ja keine Verlegenheit zu verrathen, sondern zu thun, als finde sie nichts Besonderes und Bedenkliches dabei.
In der Tasche trug sie ein kleines Päckchen, das ihre sämtlichen bisher gedruckten Verse, jene Skizze aus der Gartenlaube und das Manuscript der noch immer herrenlosen Novelle enthielt. Der Maler hatte sie aufgefordert, Etwas von ihren poetischen Erstlingen mitzunehmen, um es dem »Doctor« vorzulegen. Und da es ihr ernstlich um eine gründliche Kritik zu thun war, hatte sie sich nicht lange besonnen und ihre ganze literarische Habe in ein Bündelchen geschnürt.
Als sie nun aber das große, hellerleuchtete Café betraten, wo von allen Tischen neugierige Augen auf sie gerichtet wurden, bereute sie es doch einen Augenblick, hieher gekommen zu sein. Es wurde ihr so beklommen wie einem Vogel, der aus dem Käfich entwischt ist und sich zum erstenmal in den freien Wald gewagt hat. Zumal die Mitglieder der »Freien Vereinigung«, denen ihr Begleiter sie vorstellte, ihr keineswegs gefielen. Einstweilen waren es nur vier oder fünf, darunter zwei etwas verwegen blickende Damen, die an einem runden Tisch in einer der nach dem großen Saal offenen Abtheilungen saßen. Die Herren standen höflich auf, sich vor Fräulein Linda Leonhard zu verneigen. Die beiden weiblichen Wesen, beide von ungewissem Alter, warfen nicht eben freundliche Blicke auf den anmuthigen jungen Gast und fuhren nach einer kaum merklichen Verbeugung fort, sich ihrem Abendessen zu widmen. Einer der Herren wurde als Journalist, ein anderer als Buchhändler vorgestellt. Sie saßen dann einsilbig vor ihren Biergläsern und rauchten rücksichtslos die essenden Damen an, die übrigens daran gewöhnt zu sein schienen.
Tino Ansorg berührte es offenbar peinlich, daß man von seiner Dame keine sonderliche Notiz nahm. Er beeiferte sich, sie nun selbst desto liebenswürdiger und witziger zu unterhalten, sah aber dabei beständig nach der Thür, ob das Haupt und die Seele der Gesellschaft noch nicht erscheine. Zunächst kam nur noch ein jüngeres Paar, ein Schauspieler vom Gärtnertheater, dessen Spitzname Odoardo war. An seinem Arm hing eine auffallend gekleidete junge Person, – meine Schülerin, stellte der Mime sie vor – die sich sofort neben Toni setzte und sie mit einer Menge Fragen bestürmte. So wenig ihr Betragen nach guter Gesellschaft aussah, konnte man doch ihre harmlose Ungebundenheit, Alles beim Namen zu nennen und sich völlig gehen zu lassen, nicht schelten, da ein gutartiges Naturell und eine etwas geräuschvolle, aber harmlose Lustigkeit mit all ihren Unarten versöhnte.
Sie fiel sogleich über die Speisekarte her, studierte sie höchst gewissenhaft, um sich zuletzt ein paar weiche Eier geben zu lassen. Ihr Begleiter fand offenbar das fremde Fräulein sehr anziehend und begann Toni angelegentlich den Hof zu machen. Hierüber stellte ihn die »Schülerin«, sobald sie es merkte, heimlich zur Rede, ohne darum ihre Zutraulichkeit gegen die Rivalin einzuschränken. Nehmen Sie sich nur vor ihm in Acht! sagte sie ganz laut. Er ist so falsch wie die Uhrkette, die er trägt. Aber wo sind überhaupt Männer, die es redlich meinen!
Sie seufzte, und es war drollig genug, das Mädchen, das nicht über achtzehn sein konnte, wie eine hartgeprüfte Frau reden zu hören Toni wollte sich mit einem Scherz zu ihr wenden, da sah sie den Maler aufstehen und einem Paar entgegengehen, das eben eingetreten war.
Ein hagerer, nachlässig gekleideter Mensch mit einem scharfgeschnittenen, glattrasirten Gesicht, dessen lebhaftes Mienenspiel verrieth, daß er vor Zeiten als Schauspieler sein Glück zu machen versucht hatte. Auf der großen, aber edel geformten Nase saß eine Lorgnette in schwarzem Gestell, dahinter brannten kleine, aber höchst energische Augen. Neben ihm ging eine ziemlich corpulente Dame, die über die erste Jugend hinaus, aber noch leidlich conservirt war. Nur daß ein müder, fast stumpfsinniger Ausdruck ihre vollen Wangen und den sinnlichen Mund entstellte. Sie warf kaum einen Blick auf das neue Gesicht, setzte sich breit auf einen der umgelegten Stühle und bestellte ein ausgiebiges Gericht, leerte auch die Hälfte ihres Glases auf einen Zug und schob dann die Aermel von ihren runden weißen Armen zurück, sich über die Hitze beklagend. Handschuhe trug sie nicht, am Ringfinger der linken Hand nur einen großen Siegelring mit einem rothen Stein.
Ihr Cavalier war inzwischen von Tino Ansorg flüsternd über das junge Fräulein, das er eingeführt hatte, unterrichtet worden. Jetzt stellte der Maler das Paar ausdrücklich vor: Herr Doctor Fritz Rempler, Fräulein Clothilde. Der sogenannte Doctor aber ergriff Toni's Hand, als wäre sie eine längst gekannte Collegin, drückte sie lebhaft und sagte: Ich freue mich, Ihnen zu begegnen, Fräulein Linda Leonhard. Sie haben sich sehr hübsch in die Litteratur eingeführt und berechtigen zu schönen Hoffnungen. Die Lyrik freilich – das wissen wir ja Alle – ist kein zeitgemäßes Genre mehr. Wir verlangen vom Dichter, wenn er uns mit den Bekenntnissen seiner schönen Seele interessieren soll, eine so rücksichtslose Vivisection seines Innern, wie Keiner sie leisten mag. Zumal Dichter noch eitler zu sein pflegen als andere Sterbliche, die eine Beichte ablegen. Und nun vollends das Weib. Es wird nie den vollen Muth der Schamlosigkeit haben, der dazu gehörte, seine Gefühle von allen verschleiernden und verschönernden lyrischen Toilettenkünsten frei zu halten. Aber es giebt ja auch andere Gattungen. Dem Roman gehört die Zukunft. Allenfalls auch dem Drama. Haben Sie sich bereits in Schau- oder Trauerspielen versucht? Nun das wird noch kommen. Einstweilen – wo bleibt unsere Hebe?
Er rief eine Kellnerin herbei, die er duzte und um die Hüfte faßte, und nickte dann den übrigen Genossen der Tafelrunde mit nachlässiger Vertraulichkeit zu. Toni konnte kein Auge von ihm verwenden. Seine mächtige, sehr weiße Stirn, das Funkeln der schwarzen Augen, zogen sie magisch an. Zugleich war ihr der Ausdruck seines Mundes höchst zuwider, sie wußte nicht warum, und vollends, daß sie ihn in der Gesellschaft dieser Clothilde sah, die er freilich mit cordialer Geringschätzung behandelte – wie konnte ein so geistvoller Mensch die Nähe dieses vulgären Geschöpfs ertragen?
Denn geistvoll war er, das ließ sich ihm nicht absprechen, wenn auch die gesuchte Derbheit seiner Redeweise manchmal abstoßend erschien. Und amüsant war er auch. Wie er jeden Einzelnen am Tische mit einem Scherz begrüßte, daß all die gleichgültigen oder verstimmten Gesichter sich auf einmal aufhellten und eine Art von Kreuzfeuer intimer Neckereien entstand, war staunenswerth. Die Elevin des Schauspielers raunte Toni ins Ohr: Ist er nicht zum Küssen? Aber wehe, wenn man's mit ihm verdirbt! Dann zertritt er einen so gemüthlich wie eine Raupe oder einen Regenwurm.
Es wurde dann wieder stiller am Tisch, bis Rempler sein großes rohes Beefsteak verschlungen hatte. Er zündete sich jetzt eine Cigarre an, die Tino ihm angeboten, und wandte sich zu der neuen Collegin.
Also Sie wollen Lebensstudien machen, mein Fräulein. So hat mir wenigstens Freund Tino verrathen. Wie gedenken Sie denn das anzufangen?
Sie erröthete, da sie die Augen der ganzen Tafelrunde auf sich gerichtet sah. Doch erwiderte sie ganz munter: Das muß ich selbst erst lernen. Ich bin eben in die große Stadt gekommen, um mich überall umzuschauen und mir auf das, was ich sehe, einen Vers zu machen. In der Provinz geht ein Tag wie der andere hin. Ich hab' manchmal gemeint, ich ersticke. Hier dagegen – das Menschengewimmel, die Kunstschätze, die Theater – gestern war ich zum erstenmal in Tristan und Isolde, da ist mir so wunderlich geworden, ich konnte die halbe Nacht nicht schlafen.
Ich sehe, daß Sie das Ding beim rechten Zipfel anfassen, sagte der große Mann mit Nachdruck. Wie Sie Ihren Zustand in dem Provinzsumpf bezeichnen, erkenne ich, daß Sie, wie wir Alle, die wir keine spießbürgerlichen Naturen sind, an dem leiden, was ich Lebensdurst nenne. Die große Masse der Menschen wird nicht übermäßig davon gepeinigt. Spürt sie auch etwas dergleichen, so stillt sie ihre Gelüste auf bescheidene Weise mit allerlei lauwarmen Getränken, die auch in einem Dorf oder Marktflecken billig zu haben sind, mit dem Himbeerwasser eines sentimentalen Ehebrüchleins oder der säuerlichen Limonade der Resignation und Bigotterie. Die höheren Naturen unterscheiden sich eben dadurch, daß sie, um mit Faust zu reden, sich nach des Lebens Bächen, ja nach des Lebens Quellen hinsehnen. Die müssen ihnen entweder eiskalt oder dampfend heiß entgegensprudeln. Sehen Sie, dieser Richard Wagner, der hat's verstanden, das Eine, was der Menschheit noth thut. Denn was ist der eigentlichste Inhalt des Lebens, nach dem wir schmachten? Die Liebe – nicht die banausische, schläfrige, sondern das, was die Zionswächter »Sünde« nennen. Kennen Sie Daumer's Hafis? Nun, da steht's geschrieben:
Lebendig ist die Sünde nur im Leben,
Das Leben, es bestehet in der Sünde –
womit er natürlich nicht die übrigen ordinären sogenannten Sünden meint, gegen welche die zehn Gebote gerichtet sind. Aber Sie wissen ja, daß selbst in der gesetzlich gestatteten Liebe den Muckern das verdächtig ist, was den eigentlichen Reiz und Werth derselben für den Elitemenschen ausmacht. Der Meister von Bayreuth nun hat schlauerweise sich meistens an solche Stoffe gemacht, in denen die Sünde sich in all ihrem frechen Zauber offenbart. So zum Beispiel in der Walküre und erst recht in der Oper, die Sie gestern gesehen haben. Er hätte gar nicht einmal den Liebestrank bedurft, wir würden uns doch auf die Seite der brennenden Herzen und durstigen Lippen stellen gegen den alten Thoren, der sich einfallen ließ, eine junge, lebensdurstige Frau zu heirathen. Da ist es kein Wunder, wenn man diesen Wagner, der selbst kein Kostverächter war und sich nie Scrupel darüber machte, aus welchem Faß er seinen riesigen Lebensdurst stillte, als den herrschenden Genius des Jahrhunderts verehrt. Ein junges Wesen aber, das zum erstenmal in seine Nähe kommt, muß sich natürlich an den heißen Quellen, die er aus dem vulcanischen Boden der alten Sage springen läßt, einen Rausch trinken.
Die Tafelrunde nickte, Fräulein Klothilde stürzte den Rest ihres Kruges hinunter und winkte der Kellnerin, ihn von Neuem zu füllen. Der Neuling aber in diesem andächtigen Kreise faßte sich ein Herz und sagte:
Das ist doch nicht ganz mein Fall gewesen. Ich war durchaus nicht entzückt und berauscht, sondern erschöpft an Leib und Seele, wie es aus war, und auf die Gefahr hin, sehr ungebildet zu erscheinen, muß ich gestehen, daß ich mich halbe Stunden lang entsetzlich gelangweilt habe.
Alle Stirnen runzelten sich, der junge Buchhändler zuckte die Achseln, der Mime lachte höhnisch auf. Fritz Rempler aber verlor seinen Gleichmuth nicht.
Sie bestätigen nur, was ich gesagt habe, liebes Fräulein, versetzte er. Eben diese »entsetzliche Langeweile« ist eines der geheimsten Kunstmittel, durch die der Meister seine Effecte erzielt. Er steigert dadurch den Lebensdurst, das Schmachten nach sinnlicher Beglückung, indem er den Zuschauer durch lange, öde Strecken führt, in denen weder etwas Interessantes geschieht, noch ein musikalischer Genuß gewährt wird. Dadurch wird das Gemüth in eine brennende Ungeduld versetzt, die etwas Aehnliches nur in dem dumpfen Hinbrüten während der katholischen Messe hat. Diese mystische Langeweile ist ein unentbehrliches Ingredienz der höchsten Kunst- und Religionsübung, denn eine wirkliche Verzückung kommt ohne diese Art von hypnotischer Betäubung nicht zu Stande. Auch in der realen Liebe ist's ja ähnlich damit bestellt. Sie werden auch noch erleben, daß ihre Freuden um so süßer sind, je länger man darnach hat dürsten müssen. Apropos, kennen Sie Flaubert's Madame Bovary?
Nein.
Ich werde mir erlauben, Ihnen das Buch zu bringen. Es ist die Tragödie des Lebensdurstes, und eine angehende Schriftstellerin kann dies Meisterwerk nicht sorgfältig genug studieren. Nur muß sie darum nicht glauben, daß jede Stillung des Durstes den Tod herbeiführe, wie etwa ein Glas Eiswasser eine vom Tanzen erhitzte junge Schöne auf die Bahre bringen kann. Im Uebrigen werden Sie manche Parallelen mit Ihrem eigenen Geschick darin finden. Denn auch die Heldin jenes Buches hat la maladie de la province gehabt, nur daß sie nicht, wie Sie, bei Zeiten die rechten Mittel dagegen anwenden konnte.
Das Alles hatte er so laut und lebhaft gesprochen, daß die Gäste an den nächsten Tischen längst ihre eigene Unterhaltung aufgegeben hatten, um zu horchen, was an dem Tisch in der Ecke gesprochen wurde. Daran schien er gewöhnt zu sein, ja es sogar zu bedürfen, um so recht in den Zug mit seinen ästethischen Paradoxieen zu gerathen. Von den Anderen gab kaum Einer einmal ein Wort dazu, bis auf Toni, wenn sie eigens angeredet wurde. Sie fühlte sich aber nicht im mindesten durch das große Auditorium eingeschüchtert, ihre Meinung zu sagen. Das neue freie Element, in dem sie lustig mitplätscherte, hob und trug sie zu ihrem eigenen Erstaunen. Zwar fand sie mit ihrem gesunden jungen Sinn manche dieser Reden anstößig und schief oder übertrieben. Aber daß überhaupt so keck in den Tag hinein geschwatzt wurde, während man bei ihr zu Hause jedes Wort auf die Goldwage der hergebrachten guten Erziehung zu legen pflegte, machte ihr einen tiefen und freudigen Eindruck. Ernstlich böse wurde sie dem Tonangeber nur, als er sich herausnahm, Schiller's Jungfrau von Orleans, die sie mit Entzücken kürzlich gesehen hatte, einen »verlogenen pathetischen Schmarren« zu nennen. Nach dem heutigen Stande der spiritistischen Wissenschaft ließen sich alle Mirakel dieses Stücks viel einfacher erklären, und es verlohne sich in der That, das ganze Trauerspiel aus dem stelzbeinigen idealistischen Jargon in eine gesunde naturalistische Sprache zu übersetzen.
In diesem Augenblick schlug es draußen auf irgend einer Thurmuhr Zehn, und Toni erinnerte sich, daß ihr die Tante die häusliche Polizeistunde eingeschärft hatte. Sie stand daher auf und wollte sich summarisch von der Gesellschaft verabschieden. Sogleich aber war Tino Ansorg aufgesprungen, und zu allgemeiner Verwunderung erhob sich auch Fritz Rempler.
Wenn Sie darauf bestehen, uns jetzt schon zu verlassen, sagte er, so werden Sie mir erlauben, Sie nach Hause zu begleiten.
Tino erklärte, er werde diese Ritterpflicht Niemand abtreten, während das Fräulein versicherte, die kurze Strecke bei der hellen Nacht allein gehen zu können.
Eben weil die Nacht hell genug ist, um Jeden, der Ihnen begegnet, auf Sie aufmerksam zu machen, bedürfen Sie eines Beschützers, sagte Rempler und stülpte den breiten grauen Filzhut auf das imposante Haupt. Er warf dem Maler einen gebieterischen Blick zu, der sonst seine Wirkung nicht verfehlt haben würde. Heute aber war ein stärkerer Zauber mächtig. So mußte das junge Blaustrümpfchen sich darein ergeben, von zwei Cavalieren in die Mitte genommen, verfolgt von gehässigen Blicken und Stichelreden Clothildens und der allgemeinen Neugier der übrigen Gäste, das Café zu verlassen.
Aus der Straße draußen führte der Doctor allein das Wort. Er ließ ein wahres Feuerwerk von klugen und tollen Einfällen los und legte es offenbar darauf an, die junge »Collegin« zur Bewunderung seiner Geistesmacht fortzureißen. Das gelang ihm auch aufs beste, so daß Toni, als sie vor ihrem Hause angelangt war und Rempler sie aufforderte, ihm ihre »sämmtlichen Werke« zu sorgfältiger kritischer Betrachtung anzuvertrauen, nur schwer sich entschließen konnte, das Päckchen auszuliefern. Es ist Alles noch so kindlich! sagte sie erröthend.
Aus Kindern werden Leute! versetzte der große Mann, indem er ihr Händchen küßte.
Tino wagte nicht, das Gleiche zu thun. Er trennte sich, nachdem Toni ins Haus geschlüpft, mit einem kurzen »gute Nacht!« von dem Gefährten, der zu der freien Vereinigung zurückkehren wollte. Der Maler aber strich längs dem Ufer des Flusses hinaus und hinab, beständig ein reizendes Gesicht vor Augen und darüber nachgrübelnd, wie er es anfangen solle, daß dieses kühle und stolze Lärvchen ihn etwas zärtlicher als bisher anblicken möchte.
*
Indessen stand das Fräulein, das den jungen Nachtwandler auf dem Gewissen hatte, in tiefes Sinnen versunken am offenen Fenster ihres hochgelegenen Stübchens und ließ den Blick über die im Mondnebel schwimmende Isar und die herrlich hohen Baumgruppen am andern Ufer schweifen. Sie entsann sich nicht, daß ihr im ganzen Leben so feierlich und froh zugleich zu Muth gewesen sei. Die Pforten eines freien, geistig bewegten Lebens hatten sich vor ihr aufgethan, sie war für immer ihrer bisherigen engen Sphäre entrückt und auf sich selbst gestellt worden. Ihr war, wie sie die linde Nachtluft in vollen Zügen einsog, als fühle sie die Fittiche eines hohen Genius sie umwehen, der alle kleinlichen Weltrücksichten, allen Mißduft der Alltäglichkeit niederschlage, so daß sie im reinsten Aether athmen könne. Sie war noch so unbefangen, sich zu gestehen, daß die Menschen, die sie heute kennen gelernt, eher abstoßend als anziehend waren, bis auf den treuherzigen bildenden Künstler. Auch war sie nicht naiv genug, um nicht zu ahnen, weßhalb sich die Gesellschaft den Namen der »freien Vereinigung« beigelegt hatte. Was aber ging sie das an, in welchem Verhältniß zum Beispiel der geistvolle Mensch, dieser Doctor, zu jener Clothilde stehen mochte, und so die Anderen der Reihe nach? Sie suchte ja nicht den näheren Umgang mit diesen zweideutigen Pärchen, aber so lange sie am dritten Ort sich nichts Unsittliches zu Schulden kommen ließen, durfte sie sich ja die Anregung durch ihren Verkehr unbedenklich zu Nutze machen.
Und wie viel hatte sie hören müssen, was ihr zu denken gab. Von Allem das Eindringlichste aber war ihr jenes Wort, mit dem Fritz Rempler die gesammte Stimmung der vollblütigeren Menschheit bezeichnet hatte: Lebensdurst! Ja, das war's, was sie in der Wüste ihres Provinzlebens gepeinigt hatte, diese verstohlene Sehnsucht, die nun aus dem Vollen gestillt werden sollte. Dabei fiel es ihr durchaus nicht ein, den Trank, der ihre junge Seele erquicken sollte, aus dem Becher der Liebe oder gar, wie Rempler erklärt hatte, der Sünde schlürfen zu wollen. Liebe? Sie liebte ja ihren Bräutigam, wenn auch ohne überschwängliche Leidenschaft. Aber was sie bedurfte, konnte er ihr nicht bieten. Natürlich, sie war eine angehende Dichterin und er ein reifer, juristischer Geschäftsmann. Wie sollte sich ihr Verhältniß später gestalten, wenn sie ihre Lebensstudien beendet und nun sich bequemt hatte, als Frau Landrichterin wieder die enge Welt um sich zu haben? Aber daran wollte sie fürs Erste noch nicht denken. Auch nicht zu dem Brief konnte sie sich entschließen, den sie heute an den trefflichen Mann hätte schreiben sollen, da sie versprochen hatte, einen um den andern Tag von sich hören zu lassen. Sie warf nur auf eine Postkarte die Worte hin: »Komme eben aus einer sehr interessanten literarischen Gesellschaft, hätte zu viel zu erzählen, um in so später Stunde davon anzufangen. Morgen mehr. Die Tante grüßt, und ich bin deine getreue T.«
Dann zog sie sich langsam aus. Das Fenster blieb offen. In ihren Schlaf hinein rauschte die starkfließende Isar und ferne geheimnißvolle Töne der großen Stadt, die erst nach Mitternacht verstummten.
*
Sie erwachte erst spät am andern Morgen. Die Tante hatte schon gefrühstückt, kam an ihr Bett und ließ sich vom gestrigen Abend erzählen, immer ohne eine Anmerkung dazu zu machen, obwohl ihr anzusehen war, daß sie gegen die Mitglieder dieser freien Vereinigung selbst nach den vorsichtigen Schilderungen des Nichtchens Manches einzuwenden gehabt hätte. Sie wollte aber ihr Zutrauen nicht durch überflüssiges Moralisieren verscherzen.
Was heute auf dem Programm stehe, fragte sie, als sie das Kind besonders sorgfältig Toilette machen sah.
Nur die Besuche bei den beiden Institutsfreundinnen. Seit ihrem vierzehnten Jahre habe sie keine von Beiden wiedergesehen, wohl aber gelegentliche Briefe mit ihnen gewechselt. Nun sei sie begierig, da Beide sich inzwischen verheirathet hätten, ob von der Backfischzärtlichkeit noch ein Fünkchen unter der Asche des eigenen Herdes fortglimme.
Das Mädchen kam herein und brachte eine Visitenkarte für das Fräulein: Fritz Rempler, Schriftsteller. Es war eben zehn Uhr, die Tante fand es unpassend, eine junge Dame so früh zu überfallen, zumal am Sonntag zur Kirchenstunde. Toni aber fühlte sich sehr geehrt und beglückt durch diese Eile. Auch konnte sie's nicht erwarten, über ihre literarischen Exercitien etwas Maßgebendes zu hören.
Sie ging also in den »Salon« und begrüßte hier den »väterlichen Freund«, wie er sich gestern genannt hatte, mit liebenswürdiger Befangenheit.
Mein theures Fräulein, sagte er, sich in einen der verblichenen Plüschsessel werfend, ich komme so früh, weil ich die halbe Nacht an Sie gedacht, Ihr Schicksal ernstlich erwogen habe. Ich habe alle Ihre Sachen gelesen – er legte ihr das Päckchen auf den Schooß – und mit Vergnügen gesehen, daß Sie Talent haben, sogar viel Talent. Aber was hilft es Ihnen, daß Sie sich in Versen und Prosa sehr gewandt auszudrücken wissen, wenn Sie Nichts zu sagen haben? Nichts Anderes wenigstens, als was jedes gebildete Kind gebildeter Eltern zu sagen weiß. Nein, erst muß ein Mensch aus Ihnen werden, ehe ein Schriftsteller aus Ihnen wird. Der Menschheit ganzer Jammer muß Sie angefaßt haben, daneben alle himmelhoch jauchzende Wonne, dann erst können Sie erwarten, daß Ihre Zeit auf Sie horcht. Wissen Sie, wie Ihre Lyrik mir vorkommt? Wie das unschuldige Zwitschern eines stimmbegabten Kanarienvogels, der in einem engen Bauer aus dem Ei gekrochen ist. Das klingt einer einsamen alten Jungfer oder einem stillen Stubenhocker ganz hübsch ins Ohr. Aber ein Mensch, der unter dem freien Sternenhimmel sich herumtreibt, die Brust voll großer, kühner Gedanken, wird höchstens von dem leidenschaftlichen Schluchzen der Nachtigall gefesselt, die im Fliederbusch ihren Sprosser heransingt, oder vom Schrei des Falken, wenn er auf eine Taube herabstößt. Nun, Lyrik, wie gesagt, ist überhaupt antiquirt. Die Zeit verlangt, daß man ihr in starken, ungeschminkten Bildern den Spiegel vorhalte. Also müssen Sie sich bemühen, die Zeit zu verstehen, und zwar ohne sich dabei an die Polizeistunde zu binden, die eine würdige alte Tante Ihnen vorschreibt. Worauf ich damit hinauswill? Daß Sie vor allen Dingen aus dieser Wohnung fortmüssen, wo Sie sich auf Schritt und Tritt überwacht fühlen. Es war mir peinlich, gestern Abend zu sehen, wie die Damen in unserem Kreise spöttische Gesichter machten, als Sie erklärten, Sie müßten nach Hause. Teufel auch, Sie sind doch kein Baby mehr. Das beste Leben fängt oft erst nach Mitternacht an. Sie hätten zum Beispiel hören sollen, wie Fräulein Clothilde gestern, erst als das Local sich leerte und sie ihr Glas Punsch getrunken hatte, aufthaute und sehr interessante Dinge aus ihrem Leben erzählte. Da lagen Sie schon längst in Ihrem jungfräulichen Bette, und die vierzehn Engel, die ohne Zweifel um Sie herum standen, mögen dem Fräulein Toni die schönsten Wiegenlieder gesungen haben, die Schriftstellerin Linda Leonhard wird sie nicht verwerthen können, als höchstens für die Gartenlaube.
Er sah ihr, während er sprach, dringend und scharf in die Augen und rückte ihr immer näher. Unwillkürlich schob sie ihren Stuhl ein wenig zurück. Heute am hellen Tage schien sein Gesicht ihr gar nicht so anziehend wie in dem ungewissen Licht der Gasflammen, die mit dem bläulichen Nebel des Cigarrendampfes kämpften. Die Züge waren schlaff und fahl, die Augen flackerten unstät zwischen den leicht gerötheten Lidern. Auch bemerkte sie heut erst, daß sein Rock fadenscheinig und voll Flecken und seine Wäsche nicht die sauberste war.
Sie verhielt sich also etwas zurückhaltend, dankte ihm für sein Interesse an ihrer Zukunft, erklärte aber, es würde die Tante kränken, wenn sie sich eine andere Wohnung suchte.
In diesem Augenblick erschien das alte Dämchen in dem Salon, unter dem Vorwand, irgend Etwas zu suchen, doch offenbar nur, um zu sehen, mit wem ihr Nichtchen sich eingelassen hatte. Sie schien von ihrer Inspection nicht eben erbaut und warf, als sie sich, die Störung entschuldigend, rasch wieder entfernte, auf der Schwelle nur die Bemerkung hin, Toni möge nicht vergessen, daß heute pünktlich um Eins gegessen werde, da das Mädchen seinen Ausgang habe.
Das also ist die gefürchtete Dueña und Tugendwächterin, der Drache, der den Schatz Ihrer Wohlerzogenheit bewacht! höhnte Rempler, der aufgesprungen war und dem Matrönchen nachblickte. Ich gratuliere Ihnen zu dem idyllischen Leben im Schatten dieser ehrwürdigen Ruine. Allerdings will mir nach der Physiognomie der guten Dame scheinen, als ob sie auch einmal eine Zeit gehabt hätte, wo sie ihren Lebensdurst recht nach Herzenslust gestillt hat. Pardon, liebes Fräulein, ich sage Nichts gegen die Tugend Ihrer Frau Tante. Aber wie käme sie dazu, Sie so streng am Gängelbande zu halten, wenn sie nicht wüßte, wie leicht man ohne die leitende Hand einer Gouvernante zu Falle kommen kann? Nun, Sie sind so jung und unerfahren. Es mag zweckmäßig sein, Sie nicht ganz ohne Leitung zu lassen. Doch auch daran habe ich ja gedacht.
Sie sah ihn fragend an, während er sich wieder zu ihr setzte, noch vertraulicher an sie heranrückend als vorher.
Nämlich ich wollte Ihnen vorschlagen, in das Haus zu ziehen, wo ich und Fräulein Clothilde wohnen. Ein sehr anständiges Haus in der Samt Annastraße, worin lauter stille Miether hausen, meist einzelne Leute. Eine Art Pension, doch kann Jeder auch auf eigene Hand wirthschaften. Sehen Sie, da nähme sich Fräulein Clothilde Ihrer an in Allem, wo ein Weib des andern bedarf, und mich hätten Sie nahe bei der Hand, so oft Sie in literarischen Sorgen und Zweifeln einen Berather brauchten. Ich könnte da förmlich Ihre schriftstellerische Ausbildung übernehmen, wozu ich die Zeit nicht hätte, wenn ich immer erst den weiten Weg zu Ihnen machen müßte. Sie arbeiteten unter meinen Augen gleichsam wie ein junger Maler im Atelier des Meisters. Was sagen Sie dazu? Scheint Ihnen der Gedanke nicht so praktisch, daß Sie seinetwegen selbst die Gunst einer alten Tante dran wagen möchten?
Sie sah einen Augenblick vor sich hin.
Sie meinen es gewiß gut mit mir, sagte sie dann. Aber Sie wissen vielleicht nicht, ich hänge außer von der Tante noch von Jemand ab, ich bin Braut. Ich weiß nicht, ob mein Bräutigam damit einverstanden wäre, daß ich hier, wo ich ganz fremd bin, mir eine eigene Wohnung nähme, da ich doch im Hause der Tante –
Er ließ sie nicht ausreden, sondern erhob sich mit einer schroffen Geberde und sagte mit höhnischem Lächeln:
Ich wußte allerdings nicht, mein Fräulein, daß Ihre Liebesgedichte an eine legitime Adresse gerichtet waren. Wenn es so steht, wird unsere freie Vereinigung Ihnen wenig bieten können, und da Ihr Talent, wie es sich bis jetzt bewährt hat, vollkommen ausreicht, Märchen für die Kinderstube zu dichten, scheint es sehr überflüssig, Ihnen fernerhin als literarischer Pfadfinder zu dienen. Ich habe die Ehre, mein Fräulein, mich Ihnen zu empfehlen.
Er verneigte sich mit einer spöttischen, eiskalten Grimasse und verließ, ehe sie noch ein Wort erwidern konnte, das Zimmer.
*
Dieser ungeberdige Abschied, obwohl er ihr die Aussicht auf eine sachkundige literarische Unterweisung abschnitt, nahm ihr doch einen Stein vom Herzen.
Wie ein hülfloser Vogel, der sich dem offenen Rachen einer Klapperschlange gegenüber steht, hatte sie ihr Herz bei seinen sicheren und alle Bedenken übertrumpfenden Reden klopfen gefühlt und athmete auf, als der Versucher plötzlich das Spiel von selbst ausgab. Neben seine geistreich verlotterte Physiognomie hatte sich im Stillen das frische, redliche Gesicht ihres Landrichters gestellt, und in dem Gefühl, ihm gestern Unrecht gethan zu haben, da sie ihn hinter diese neue Bekanntschaft zurückgesetzt hatte, konnte sie dem Drange nicht widerstehen, sofort einen zierlichen kleinen Liebesbrief zu verfassen, der freilich über ihre äußeren Erlebnisse mit einer leichtherzigen Wendung hinwegschlüpfte.
Dann zog sie sich an, um ihre Besuche zu machen, wozu ihr nach ihrer kleinstädtischen Gewöhnung der Sonntag Vormittag die schicklichste Zeit schien.
Sie hatte zunächst die ganze Stadt zu durchwandern, um zu der einen Jugendfreundin zu gelangen, die vor zwei Jahren eine glänzende Partie gemacht hatte, wie die Welt es ansah, indem sie einem reichen und vornehmen Manne ihre Hand gab, der dreimal so alt wie sie und von allerlei körperlichen Gebrechen schwer heimgesucht war. Sie hatte ihr nur einen verlegenen Glückwunsch schicken können und mit einiger Verwunderung aus einem langen Brief der Neuvermählten erfahren, daß sie keinen Augenblick bereue, den verhängnißvollen Schritt gethan zu haben, vielmehr so recht im Glück schwimme, zumal auch in der Familie ihres Mannes Alle sie auf Händen trügen.
Das stattliche Haus, wo dies Glückskind wohnte, lag an der Briennerstraße. In dem Vorgärtchen blühten die schönsten Rosen, die Stiege war mit einem dicken rothen Teppich belegt, und der Livreebediente, der die Visitenkarte abnahm, betrachtete die unbekannte Besucherin in ihrem bescheidenen Sonntagsstaat mit so unverschämt herablassender Miene, daß dem guten Blaustrümpfchen bei diesem ersten Einblick in die höheren Lebenskreise sehr bedrückt zu Muthe wurde, zumal es eine gute Weile dauerte, bis die Toilette der »Frau Baronin« beendet war. Das mit tausend reizenden Ueberflüssigkeiten ausgestattete Boudoir, in das der Diener Toni geführt hatte, war ihr freilich sehr merkwürdig. Sie hatte bisher nur aus französischen Romanen von solchem Luxus eine Vorstellung bekommen, und der Zauber des Wortes bibelot war ihr noch dunkel geblieben. Hierüber gab ihr nun der Schreibtisch der jungen Frau und all die kleinen Möbel, die mit japanischen und englischen Nippes beladen waren, hinlänglich Aufschluß. Als künftige Romanschreiberin bemühte sie sich, alles Einzelne sorgfältig aufzufassen und ihrem Gedächtnisse einzuprägen. Dennoch wurde ihr die Lust in diesem Zauberschlößchen, die mit fremdartigen Düften erfüllt war, auf die Länge unheimlich, und sie sann eben darüber nach, ob sie nicht besser thäte, sich geräuschlos zurückzuziehen. Da ging die Thür auf, und die Herrin dieser Räume trat herein, mit einem so munteren Ausruf: Bist du's wirklich, Tonerl? warf sie sich der Freundin in die Arme, sie sofort auf einen niedrigen Divan ziehend, daß die Andere sich ihres anfänglichen Unbehagens schämte und trotz der gesellschaftlichen Ungleichheit sich rasch wieder der alten Vertraulichkeit hingab. Sie fand auch im Aeußeren der jungen Frau keine leiseste Spur, daß sie eine traurige Notwendigkeit mit Würde zu tragen suche. Alles an ihr war Lust und Leben, und der alte Uebermuth, der sie im Institut bei den Freundinnen ebenso beliebt gemacht, wie er ihr bei den Lehrerinnen schlechte Noten eingetragen hatte, schien in der Ehe nur noch freier entfesselt worden zu sein.
Ja, siehst du, Tonerl, rief sie, so ist aus deiner tollen Kitty eine ehrbare Frau Baronin geworden. Ich hab's deinem Brief wohl angemerkt, daß du dir Mühe geben mußtest, mir zu gratulieren, da du mir lieber condoliert hättest. Ein Bräutigam, der sich mit der Hochzeit sputen mußte, um sie wenigstens ein paar Wochen vor seinem sechzigsten Geburtstage zu feiern – so was hatten wir uns im Institut nicht träumen lassen, wo uns schon ein ganz hübscher Hauptmann zu alt zum Verlieben vorkam. Aber Lieben und Heirathen ist zweierlei, und Alter schützt vor Thorheit nicht. Mein Alter betrug sich vor rasender Verliebtheit so erznärrisch, daß ich aus dem Lachen nicht herauskam und ihn endlich erhörte, weil das Leben an seiner Seite jedenfalls lustiger zu werden versprach als im Hause meiner Eltern, die immer ihre liebe Noth hatten, ihren alten wurmstichigen Adel nach außen anständig zu repräsentieren.
Und ist dein Leben wirklich so lustig geblieben, wie du dir's versprochen hast?
Nun, ganz so ausgelassen wie mein Brautstand – am Ende der beste Ehemann hat seine brummigen Stunden, der meine freilich nur, wenn seine verschiedenen Krankheiten ihm zu schaffen machen. Aber wenn ich dann ein paar Stunden am Tag die soeur de charité spielen muß, hernach küßt er mir die Hände und hat Nichts dagegen, wenn ich mich amüsiere. Er selbst hat sich nur zu viel amüsiert, als er jung war, da kann er sich nicht beklagen, wenn jetzt Spiel und Tanz für ihn vorbei ist, und muß froh sein, so ein großes hübsches Spielzeug wie mich zu haben, mit dem er freilich nicht viel anfangen kann, wenn er seine Schmerzen hat.
Was ich dich noch fragen wollte, Kitty, sagte die Freundin, ein wenig zögernd, du schriebst mir, kurz eh' du dich verlobtest, von dem jungen Offizier, für den du so leidenschaftlich schwärmtest und der dir auf Tod und Leben ergeben sei. Was ist aus dem geworden?
Die junge Frau schlug ein helles Lachen aus, während eine leichte Röthe ihr hübsches blasses Gesicht überflog.
Mein Alfred? rief sie. Aber der ist ja mit Schuld daran gewesen, daß ich meinen Alten nahm. Er ist ja sein leiblicher Neffe – jetzt auch meiner, und da er außer seiner Lieutenantsgage und einem geizigen Zuschuß seines Onkels Nichts besitzt als seine feurigen, spitzbübischen Augen und sonstigen Vorzüge seiner dreiundzwanzig Jahre, war nicht daran zu denken, daß wir uns heiratheten. Da macht' ich kurzen Prozeß und nahm den Oheim, nur um Tantenrechte über den Neffen zu bekommen, die ich nun auch gewissenhaft ausübe. Zweimal die Woche ißt er bei uns; Abends – mein Alter muß früh zu Bette – führt er mich ins Theater oder auf Bälle und Concerte, und wir betragen uns vor der Welt so sittsam, kein Mensch findet Etwas dabei, daß ich als Respectsperson den leichtsinnigen jungen Herrn unter meine Fittiche nehme und mich seiner Erziehung widme. Du kannst ihn selbst kennen lernen, in einer halben Stunde wird er mich abholen, da wir zusammen ausreiten wollen. Er wird dir gewiß gefallen.
Ich zweifle nicht daran, sagte Toni mit etwas kühler Miene, indem sie aufstand. Du hast immer einen guten Geschmack gehabt. Aber heute – verzeih! ich bin ein wenig eilig, ich habe noch andere Besuche zu machen. Wie hübsch dir das Reitkleid steht! Mich darfst du gar nicht anschauen, ich bin in der Provinz ganz verbauert. Aber da ich eine Weile hier bleibe – bei der Tante Babette –
O, es wird nicht viel Mühe kosten, dich tout-à-fait chick zu machen! Mit deinem Gesicht und deiner Figur – du bist viel hübscher geworden, als ich dir zugetraut hätte, ich bin ordentlich froh, daß Alfred dich nicht zu sehen bekommt. Also bei Tante Babette? Mußt du da täglich mit in die Messe gehen oder mittarocken? Eins so wenig lustig wie das Andere. Aber wir wollen uns schon mit einander amüsiren, du mußt nur oft kommen, am Nachmittag bin ich meist allein, das heißt mit meinem armen Lazarus, da kannst du mir helfen, ihm seine Umschläge machen und ihm Geduld predigen. Also à tantôt, lieber Schatz! Nein, wie hübsch, daß man sich einmal wieder gesehen und die alte Freundschaft erneuert hat!
Sie umarmte Toni lebhaft und klingelte dem Bedienten, das Fräulein hinauszubegleiten. Als der Lakai dann zurückkehrte und fragte, ob die Frau Baronin noch Etwas zu befehlen habe, sagte sie ruhig: Wenn die Dame wiederkommen sollte, ich bin ein für allemal nicht zu Hause oder bei dem gnädigen Herrn, der gerade besonders unwohl sei. Hören Sie, Henry?
Der Diener verneigte sich stumm.
Die junge Frau aber trat vor den Spiegel und betrachtete sich aufmerksam. Sie ist wirklich viel hübscher als ich und gerade das Genre, das Alfred liebt. Er war gestern schon ungewöhnlich kühl und zerstreut. Ich wäre eine Gans, wenn ich ihn mir von dieser Unschuld vom Lande wegfischen ließe.
*
Sie hätte sich durchaus darüber beruhigt, daß die vermeintliche Gefahr nicht zu befürchten sei, wenn sie das stille Gelübde hätte belauschen können, mit welchem die Jugendfreundin das Haus verließ: seine Schwelle nie mehr zu betreten!
Ihre Romanlectüre hatte sie freilich darüber aufgeklärt, daß es in der großen Welt nicht ganz so reinlich zugehe wie im idyllischen Schatten der »Gartenlaube«. Aber der lachende Cynismus, mit dem diese junge Realistin sich über die Schranken bürgerlicher Sittlichkeit hinwegsetzte, so keck und ohne Zaudern, wie sie etwa beim Hürdenrennen neben ihrem flotten »Neffen« die Grabenhindernisse nahm, empörte die reine Seele des idealistisch gearteten Blaustrümpfchens aufs tiefste, zumal sie der »tollen« Rädelsführerin bei allen Schulstreichen die Kraft einer tieferen, ernstlicheren Leidenschaft nicht zutraute, die auch nach ihrem ästhetischen Codex bei sittlichen Verirrungen als ein »mildernder Umstand« erscheinen konnte.
Trotz ihrer moralischen Entrüstung aber empfand sie eine gewisse Befriedigung, nun einmal in einem lebendigen Exemplar eine jener modernen Isolden kennen gelernt zu haben, die ohne Hülfe eines Liebestrankes aus der Noth eine Untugend machen, und sie beschloß, diese Charakterstudie gelegentlich novellistisch zu verwerthen. Es würde sich pikant ausnehmen, dachte sie, den Neffen des gichtischen Baron Marke in knapper Chevaulegers-Uniform mit der eleganten Sünderin durch den englischen Garten sprengen zu sehen. Ueber die fernere Entwickelung war sie noch zweifelhaft. Daß aber das Ende tragisch sein müsse, stand ihr bei ihren strengen Schulbegriffen von der poetischen Gerechtigkeit von vorn herein fest.
Unter solchen Gedanken war sie in die Gegend gelangt, wo ihre andere Institutsfreundin wohnte, im dritten Stock eines Hinterhauses der Augustenstraße, zu welchem keine teppichbelegte Stiege hinaufführte. Mit dieser jungen Frau hatte sie eine weniger schwärmerische Schulfreundschaft unterhalten, auch hernach nur seltener einen Brief gewechselt. Das stille, kluge Kind entstammte einem bescheidenen Bürgerhause, wußte, daß es einmal kein glänzendes Loos zu erwarten habe, und zog es vor, seine ganze Aufmerksamkeit auf den Unterricht zu wenden, statt auf die vorwitzigen Liebschafts- und Toilettengespräche ihrer Kameradinnen. Toni war die Einzige, die sich ihr näherte. Den Anderen war sie uninteressant, und sie nannten sie den Maulwurf.
Sie war dann mit achtzehn Jahren Gouvernante in einem vornehmen Hause geworden, hatte auf dem Lande zufällig ihren jetzigen Gatten kennen gelernt und nach einem Jahr ihn geheirathet, sobald er, der ein geschickter Chemiker war, seine feste Anstellung in einer Fabrik erhalten hatte.
Hiervon hatte sie auch Toni in dem kurzen, trockenen Stil, der ihren Briefen eigen war, in Kenntniß gesetzt, seit zwei Jahren aber Nichts mehr von sich hören lassen. Es war eigentlich kein zwingender Grund für Toni, dieses ziemlich eingeschlafene Verhältniß wieder aufzurütteln. Doch konnte man nicht wissen, ob nicht auch der Einblick in ein solches Hinterhaus-Milieu – das Wort freilich war damals noch nicht eingeführt – einmal zu irgend einem Romanzweck ersprießlich sein möchte.
Die dumpfe, düsterliche Enge des Treppenhauses beklemmte sie; sie dachte, wie traurig es sei, während draußen der sonnige Tag leuchtete, in ein solch halbdunkles ärmliches Dasein gebannt zu sein. Fast wäre sie auch hier wieder umgekehrt, aber sie hatte sich nun einmal die drei Treppen hinaufgetastet und, ehe sie sich's überlegte, die Klingel an der niederen Thür gezogen. Eine wohlbekannte Stimme fragte, wer draußen sei.
Kaum hatte Toni ihren Namen genannt, so wurde die Thür weit aufgethan, und zwei Arme, bis an die Ellenbogen entblößt, umfingen die schlanke Gestalt der Besucherin.
Das ist einmal gescheidt, daß du dich bei mir blicken lässest! Nein, und daß mein Mann gerade fort sein muß! Ein College von ihm hat ihn zum Frühschoppen abgeholt, sie haben etwas Geschäftliches zu besprechen, denn sonst ist mein Franzl viel zu solid, um Sonntag-Vormittag zum Wein zu gehen. Aber komm doch herein, Tonerl! Nein, wie gut du ausschaust! Wird denn nun bald geheirathet? Dann beginnt erst das richtige Leben, kann ich dir sagen. Aber verzeih, ich muß erst noch einen Augenblick nach der Küche schauen. Ich habe nur ein dummes kleines Laufmädchen, das verlangt Sonntags in die Kirch' und ist nachher nimmer nach Haus zu bringen. Nun, meine beiden Würmerln schlafen ja, da kann ich die Küch' nebenher im Aug' behalten. Hier hinein, Tonerl! Ich bin gleich bei dir!
Damit schob sie die Freundin in die kleine Wohnstube, die nach Süden ging, und von der aus der Blick über Gärten und helle Höfe schweifte. So machte der Raum, obwohl er niedrig genug und nur mit unscheinbaren Möbeln ausgestattet war, einen heimeligen Eindruck, der noch durch einen Kinderwagen erhöht wurde, in welchem zwei rosige, runde Blondköpfe friedlich neben einander schlummerten.
Auch hier sah die studierende Schriftstellerin sich Alles aufs genaueste an, obwohl sie, um dergleichen trauliche Dürftigkeit zu sehen, ihre Kleinstadt nicht zu verlassen gebraucht hätte. Sie hielt es aber für ihre Pflicht, Alles, was sie umgab, bis auf den Oelfleck an der buntgemusterten Tapete und das Loch in der gehäkelten weißen Schutzdecke überm Sofa ihrem Gedächtniß einzuprägen, und trat eben an das Bücherschränkchen, um auch das geistige »Milieu« ihrer Freundin zu untersuchen, als diese mit vom Herdfeuer gerötheten Wangen hereinflog und nochmals dem Blaustrümpfchen um den Hals fiel.
Ich seh', du machst große Augen, Tonerl, rief sie, du kennst mich nicht wieder, da ich im Institut so duckmäuserig war – der Maulwurf, weißt du noch? – und jetzt –! Aber damals freilich hatt' ich keinen Grund, besonders lustig zu sein, während jetzt – jetzt bin ich glücklich! Ich hab' einen so guten Mann – du wirst ihn noch kennen lernen und mir Recht geben – und die beiden Fratzen da in ihrem Betterl – Zwillinge sind erst das wahre Kinderglück, was man auch dagegen sagen mag – wenn man dabei gesund ist, versteht sich – nun, und daran fehlt mir's ja nicht, ich hätt' freilich auch keine Zeit, krank zu sein; du glaubst nicht, Tonerl, was so eine Wirthschaft, so klein sie ist, zu schaffen macht, und sauber soll's ja auch sein, aber wie gesagt, schau die beiden Arme an, gelt, die haben's nicht nöthig, daß ich sie in den Schooß leg', um sie zu schonen? Aber still, die Würmerln rühren sich.
Sie schlich zu den Kindern hin und wollte ihnen ein Tüchlein überbreiten, es war aber schon zu spät, der Schlaf verscheucht, und vier große blaue Augen wurden gleichzeitig aufgeschlagen. Zugleich aber fingen die kleinen Mäuler ein klägliches Gewinsel an.
Die junge Mutter hob sie Beide auf und suchte sie zu beschwichtigen. Als dies nicht gelingen wollte, sagte sie: Du verzeihst schon, Liebe, daß ich ihnen ihr zweites Frühstück gebe, sie sind so verwöhnt, die Schelme, und tyrannisieren mich, daß ich keine Minute Ruh' habe, bis sie befriedigt sind.
Hieraus öffnete sie das saubere Hauskleid über der Brust und legte die kleinen Schreier daran, die sich sofort beruhigten. Sie hatte sich dabei aufs Sofa gesetzt und schien, in den Anblick der friedfertig sich nährenden Bübchen versunken, ganz zu vergessen, daß ein Besuch im Zimmer war.
Toni wurde im Innersten durch diesen Anblick gerührt.
So bist du nun wohl immer ans Haus gebunden, Micheline, sagte sie, oder begleitest du deinen Mann zuweilen und übergiebst die Kinder dem Mädchen?
Nein, die ist zu leichtsinnig. Wir gehen aber Sonntags ein wenig ins Freie, und mein Franzl und ich schieben abwechselnd den Kinderwagen vor uns her. Manchmal, in der ersten Zeit, eh' das Gesindel da war – wenn ich so allein saß und er kam später als sonst aus der Fabrik heim – das Leben schien mir schon ein bissel öd, das will ich nicht leugnen. Ich war doch noch so jung – zu thun im Haus gab's nicht viel für uns Zwei – ich hätt' gern auch was erlebt, wenn ich so die Zeitung las und auch an meine Gouvernantenzeit dachte, wo's manchmal bunt genug zuging. Ja, man kann eben nicht Alles haben.
Unwillkürlich kam es Toni über die Lippen: Du littest eben auch am Lebensdurst. Und hat sich der jetzt verloren?
Die junge Mutter streichelte mit einem unbeschreiblich holden Lächeln den goldigen Flaum auf dem Kindskopf an ihrer linken Brust.
Lebensdurst! sagte sie still vor sich hin. Jetzt kommt's vor Allem darauf an, den Lebensdurst der kleinen Säufer da zu stillen. Daneben bleibt nicht viel für mich selber übrig. Aber das ist gerade das Schöne und Süße. Du wirst's ja auch bald erfahren, Tonerl. Wann ist denn die Hochzeit? Und erzähl mir doch, wie ist dein Schatz?
Diese Fragen ausführlicher zu beantworten, fühlte sich Toni nicht eben aufgelegt. Sie schützte daher vor, daß die Tante sie erwarte, versprach, sehr bald wiederzukommen, küßte erst die rosigen Kinderköpfe, die sich dadurch in ihrem Geschäft nicht stören ließen, darauf das liebliche blanke Gesicht der kleinen Mama und verließ, das Geleit derselben eifrig verbittend, das Zimmer.
Noch auf der Treppe legte sie sich die Gewissensfrage vor, ob sie selbst mit einem solchen Loose »in holdbeschränkter Enge« zufrieden sein würde. Sie hatte stets ein zärtliches Herz für Kinder gehabt und sich gefreut, daß alle kleinen Geschöpfe an ihr hingen. Aber nur für die Kinderstube leben – es war ihr doch, als schnüre der Gedanke ihr die Brust zusammen. War sie nicht auch ihren » Geisteskindern« Etwas schuldig? Und wie hätte sie dieser Pflicht genügen sollen, wenn ihr Tag sie zwischen dem Herd und der Wiege hin und her eilend in Athem gehalten hätte!
*
Mittags, als sie der Tante gegenübersaß und ihr berichtete, in wie seltsam verschiedene Schmetterlinge die beiden Institutsräupchen sich verwandelt hatten, hütete sie sich wohl, sich's merken zu lassen, daß ein hinterhäusliches Glück, wie es die junge Zwillingsmutter ganz ausfüllte, sie nicht befriedigen würde.
Sie hatte die Tante in ihre schriftstellerischen Lebensträume nicht tiefer eingeweiht, nur erklärt, es eile ihr nicht damit, einen eigenen Hausstand zu haben, sie kenne noch so wenig von der Welt und wolle sich erst darin umsehen und für sich selbst leben, ehe sie für einen noch so geliebten Anderen lebe. Da die alte Dame selbst mit der Zeit eine leidenschaftliche Münchnerin geworden war, die nicht begriff, wie man es an einem andern Ort als höchstens zur Sommerfrische aushalten könnte, so hatte sie es durchaus begriffen, daß ihre Nichte nach der langen Entsagungszeit neben dem kranken, grilligen Papa sich erst ein wenig lüften und frei die Flügel regen wollte. Sie selbst wurde von dem jungen Gelüst, einmal wieder Etwas zu erleben, angesteckt und schlug also an diesem Sonntag Nachmittag einen Spaziergang durch die Isarauen vor, zu dem das Jungfräulein bei dem lachenden Sommerwetter gern bereit war.
Ein Gedicht über die Abgründe, die Menschenloose trennen, war Toni freilich nach dem Besuch bei ihren Freundinnen aufgegangen. Sie hätte es am liebsten gleich zu Papier gebracht, doch konnten ihr auch während der Promenade noch ein paar glückliche Einfälle dazu kommen, denn die Tante war ziemlich einsilbig, und sie wandelten oft Viertelstunden lang ohne zu plaudern neben einander her.
Diesmal aber sollte es zu einer so träumerischen Dichterstimmung nicht kommen. Denn kaum waren sie hundert Schritte isarauswärts gegangen, unter einem ziemlich lebhaften Gewimmel geputzter Bürgersleute mit Frauen und Kindern, so begegnete ihnen, scheinbar sehr angenehm überrascht durch das »unerwartete« Zusammentreffen, ihr guter Bekannter von gestern, der Kunstmaler Tino Ansorg, der sie höflich begrüßte, nach ihrem Befinden fragte und bescheidentlich um die Vergünstigung bat, sie ein paar Schritte begleiten zu dürfen.
Dies konnte ihm um so weniger versagt werden, da er heute dem Sonntag zu Ehren sein mehr malerisches als gesellschaftsfähiges Sammetröckchen mit einem Sommeranzug vertauscht hatte, an dem der ehrbarste Spießbürger Nichts auszusetzen gefunden hätte. Statt des zerknüllten, verregneten schwarzen Künstlerhuts, den er schief auf dem linken Ohre trug, beschattete heute ein neues Strohhütchen mit einem schwarzen Bande ziemlich wagerecht, nur ein wenig aus der Stirn zurückgeschoben, seine braunen Locken, und ein schwarzes Tüchlein statt des blauen von gestern trug er um den Hals geschlungen. In dieser tadellosen äußeren Erscheinung gewann er das Vertrauen der Tante in demselben Maße, wie er in den Augen der Nichte dadurch verlor. Auch sie aber konnte auf die Länge dem Reiz seines munteren Geplauders nicht widerstehen. Er hatte eine höchst drollige Art, die mancherlei komischen Figuren, die ihnen begegneten, zu beleuchten, erzählte spaßhafte Geschichten von seinen Studienfahrten im Gebirge und zeigte sich in jedem Wort als das, was er auch im Grunde war, als ein guter, leichtherziger Kamerad, der für alles Schöne in der Welt ein offenes Herz und ein Paar offene Augen hatte. Dabei war er klug genug, vor den arglosen Frauen den Tugendbold zu spielen, da ihm doch der Schalk im Nacken saß.
Toni konnte nicht umhin, die Unterhaltung des »Kunstmalers« sehr belustigend zu finden, und auch die Tante mußte hin und wieder in das helle Lachen der jungen Leute einstimmen. So wandelten sie mit einigen Ruhepausen auf den Bänken der Uferanlagen wohl zwei Stunden an dem rauschenden Bergwasser dahin und wunderten sich, als sie an dem Hause der Quaistraße wieder anlangten, wo die Zeit geblieben sei. Der Maler hätte sie gern noch beredet, in eine der Gartenwirthschaften mit ihm zu gehen, aus denen Militärmusik erscholl, und wo sich's in der linden Sommerabendluft an der Seite eines schönen Mädchens lieblich sitzen mußte. Davon aber wollte die alte Dame Nichts hören, da sie in ihrem Beamtenbewußtsein die Gesellschaft in jenen Localen doch zu gemischt fand. Also verabschiedete sich Tino Ansorg mit stillem Seufzer von den beiden Damen, nachdem er der jüngeren noch halblaut das Versprechen abgenommen hatte, ihn bald einmal in seinem Atelier zu besuchen. Ein Blick in das Künstlerleben gehöre doch gewiß auch zu den Lebensstudien, die sie sich zur Aufgabe gestellt habe.
Auch heute, obwohl der Abend noch lang genug und die Tante durch einen Besuch in Beschlag genommen war, brachte es Toni nicht zu einem ausführlichen Brief an ihren Landrichter. Sie verglich ihn im Stillen mit dem jungen Künstler, dessen lachende Augen und fröhliche Stimme ihr noch gegenwärtig waren. Auch ihr Max war ja kein Philister. Sie hatte ihn zuerst bei einem Liebhabertheater kennen und schätzen gelernt, wo er mit größtem Talent eine humoristische Rolle durchführte. Und daß er auch im Leben Spaß verstehe, hatte sie oft genug erfahren. Gleichwohl stand er in dem, was man Liebenswürdigkeit nennt, hinter dem flotten Herrn Tino zurück, den, meinte die Idealistin, man wohl genial nennen dürfe. Bisher war ihr Genialität in Fleisch und Bein noch nicht begegnet. Einen Augenblick hatte sie Fritz Rempler im Verdacht gehabt, so Etwas wie ein »verbummeltes Genie« zu sein. Aber sein Morgenbesuch hatte ihm gar zu sehr in ihren Augen geschadet. Er freilich schien darum nicht mit ihr brechen zu wollen, weil sie sich ablehnend betragen hatte. Als sie nach Hause kamen, hatte sie im Briefkästchen an der verschlossenen Thüre die Visitenkarte Clothildens gefunden, die Wohnung war darauf geschrieben. Das hatte sie, da die Dame sich ihr sehr abgeneigt gezeigt hatte, offenbar nur dem »Doctor« zu danken, dem die Schriftstellerin nach Tino's Ausdruck wie eine Klosterfrau ihrem Beichtvater untergeben war.
So vielerlei Gedanken bestürmten sie, da sie noch spät am offenen Fenster saß und zu den silbergrauen Wipfeln am Abhang drüben und in die flimmernde Sternennacht hinübersah, daß sie trotz ihrer Uebung, sich schriftlich auszudrücken, weder zu dem bewußten Brief, noch zu den Notizen in ihrem Tagebuch kam, ja nicht einmal das Gedicht über »die Abgründe zwischen den Menschenschicksalen« zu Papier brachte. Eine dunkle, schwüle Stimmung beherrschte sie, süß und unheimlich zugleich, wie wenn sie bisher noch gar nicht gewußt hätte, was Leben heiße, und nun solle es beginnen, freilich nicht so wohlfeilen Kaufs, vielmehr durch aufregende Kämpfe und schöne rothe Wunden erobert, zugleich aber in den Pausen des Kampfes eine Stillung des Lebensdurstes verheißend, wie das junge Herz in der Oede und Dürre der kleinen Stadt sich nie hatte träumen lassen.
*
In dieser anmuthig beklommenen Gemüthsverfassung, immer darauf gerüstet, etwas Neues und Seltsames sich ereignen zu sehen, wachte sie auch am andern Morgen auf, und da ihr Clothildens Karte wieder in die Augen fiel, beschloß sie, gleich am Vormittag den Besuch zu erwidern, wenn sie auch nicht die geringste Neigung fühlte, den Verkehr ausführlich fortzuspinnen.
Das Haus, das auf der Karte bezeichnet war, erschien im Innern als eine der nüchternsten, verwahrlos'testen Miethkasernen; drei Stockwerke, von langen Korridoren durchzogen, auf die sich die Thüren der Einzelquartiere öffneten. Hier schienen nur Junggesellen und -gesellinnen Aufnahme zu finden, denn an jeder Thür war eine Visitenkarte mit einem andern Namen angeheftet. Im zweiten Stock, am Ende des nur nothdürftig durch Oberlichte über den Thüren erhellten Ganges las das Fräulein den Namen, den sie suchte, an der Thür gegenüber den Fritz Rempler's – ohne das Dr. davor. Ehe sie bei Clothilden anklopfte, stand sie eine Weile und hörte zu, wie drinnen die Stimme des Doctors mit eintönigem Nachdruck, aber stockend, wie es beim Dictieren zu geschehen pflegt, irgend Etwas vortrug. Sie wäre am liebsten gleich wieder umgekehrt, da ihr daran lag, die Schriftstellerin allein zu finden und aus ihrer phlegmatischen Verstocktheit womöglich herauszulocken. Doch war sie einmal da und fühlte sich zu stolz, dem hochmüthigen Menschen auszuweichen. Also klopfte sie herzhaft an und betrat aus Rempler's Herein! das Zimmer.
Es war nicht eben klein, aber mit altem Mobiliar aller Art dermaßen vollgepfropft, daß man sofort begriff, der eine Raum habe den verschiedensten Zwecken zu dienen, als Schlaf-, Speise- und Arbeitszimmer. In der Ecke stand das noch ungemachte Bett, über das nur ein alter Shawl gebreitet war, an der einen Wand neben dem eisernen Oefchen ein Tisch, auf dem sich die Reste eines Schinkens nebst einigen leeren Bierkrügen und Semmelbrocken befanden, am Fenster aber, an einem großen, mit Papieren überhäuften Tisch saß die Herrin dieses Gemachs, eifrig schreibend, was der große Mann ihr in die Feder dictierte.
Dieser lag völlig ausgestreckt aus einem mit verschossenem Wollstoff überzogenen Sofa, in einer Joppe von ungebleichter Leinwand, die schon die Hälfte ihrer beinernen Knöpfe verloren hatte und durch vielfache Tintenspuren sich als das Arbeitskostüm darstellte. Seine Füße steckten in ausgetretenen Pantoffeln, das Hemd war vorn an der Brust offen, und der Kragen lag auf dem Boden. Der ganze Zustand verrieth, daß die beiden Menschen gewohnt waren, einander gegenüber sich völlig gehen zu lassen, wie es nur Eheleute zu thun pflegen, die nicht mehr Werth darauf legen, einander zu gefallen.
Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, daß ich zur Unzeit komme und die Herrschaften in der Arbeit störe! sagte Toni, im Begriff, sich gleich wieder zurückzuziehen. Rempler aber warf das Buch, aus dem er dictiert hatte, an die Wand und sprang auf seine Füße.
Wie können Sie denken, verehrte Collegin, rief er, wir würden Sie so entschlüpfen lassen! Ich bin nur daran, Fräulein Clothilde eine Uebersetzung des neuesten Maupassant zu dictieren, da ich einen Abscheu vorm Schreiben habe, – nicht, gerade im Einklang mit meinem Metier, werden Sie sagen. Mein Gott, ich habe ja freilich meinen Beruf verfehlt. Ich war zum Millionär geboren, als solcher hätte ich Kunst und Literatur beschützt, und Sie würden mich auch in einem eleganteren Négligé antreffen als dieses hier, das nur unter Kameraden passieren kann. Fräulein Clothilde erweis't mir die Freundschaft, meinen Secretär zu machen. Ich geh' ihr dafür bei ihren eigenen Productionen mit collegialem Rath an die Hand. Haben Sie ihren Roman in den »Neuesten Nachrichten« nicht gelesen, der um Ostern zu Ende ging? Das sollten Sie doch nachholen. Ein großes Talent, verdammt modern, die Redaction hat manche der unverfrorensten Stellen gestrichen. Aber wollen Sie nicht Platz nehmen, verehrtes Fräulein?
Toni sah sich vergebens nach einem freien Sitz um. Die wenigen Stühle waren mit Kleidungsstücken, Papieren, einer Kaffeemaschine belegt. Sie erklärte, sie werde sehr bald wiederkommen. Heute dürfe sie auf keinen Fall die Arbeitszeit des Herrn Doctors verkürzen.
Bei alledem hatte das corpulente Fräulein am Fenster, das, in einen alten Schlafrock gekleidet, noch reizloser aussah als in der Abendtoilette, sich vollkommen theilnahmlos verhalten, als gelte der Besuch überhaupt nicht ihr. Jetzt erst erhob sie sich und brachte es zu einer verabschiedenden halben Verbeugung, da Fritz Rempler erklärte, wenn die junge Dichterin durchaus sich nicht halten lasse, müsse sie ihm doch erst die Ehre erweisen, auch in seine Höhle einen Blick zu thun.
Toni hatte nicht die geringste Lust dazu, er aber ergriff ihre Hand und führte sie über den Corridor in das Zimmer gegenüber, das im Gegensatz zu dem eben verlassenen sich einer gewissen Ordnung und Sauberkeit erfreute. Das Bett war mit einem alten Eisbärenfell zugedeckt, einige Renaissancemöbel standen an den Wänden, an denen Photographien von Theaterdamen mit eigenhändigen Widmungen und etliche Oelskizzen den Beruf des Inwohners als Kritiker bekundeten.
Sie wundern sich über meine luxuriöse Einrichtung, lachte er. Ich habe aber bessere Tage gesehen, dies sind die Trümmer einer verheiratheten Existenz; der Engel von einem Weibe, der mich gegen den Willen verblendeter aristokratischer Eltern erwählte, verschönerte fünf Jahre lang mein Dasein. Dann freilich – aber einen Schleier darüber! Ich habe ihr vergeben, obwohl mich seit der Zeit das Leben schal und unersprießlich dünkt. Ein heiteres Intermezzo war mir noch beschieden: dort in dem Zimmer nebenan wohnte ein halbes Jahr lang eine Polin – sehr geniale Malerin – wir waren wie für einander geschaffen, in all unseren Ansichten und Bedürfnissen verwandt – aber diese Clothilde, sonst ein so seelenvolles Geschöpf – nur kennt ihre Eifersucht keine Grenzen. Obwohl sich's zwischen mir und meiner Zimmernachbarin nur um ein geistiges Verhältniß handelte, fort mußte sie. Wenn Sie mich näher kennten, verehrte Schwester im Apoll, würden Sie begreifen, wie sehr meine geistige Spannkraft unter diesem Schlage gelitten hat. Ich bedarf Jugend und Anmuth in meiner Nähe, wenn sich die Quellen meines Innern erschließen sollen. Können Sie mir's nun verdenken, daß ich die Hoffnung hegte, Sie würden dies Zimmer beziehen, das seitdem leer gestanden hat?
Sie war doch schon hinlänglich über ihn aufgeklärt, um ihm kein Wort von Allem, was er sagte, zu glauben.
Halten Sie mich wirklich für so ganz ungefährlich, sagte sie mit einem allerliebsten schalkhaften Lächeln, daß Fräulein Clothilde mich ohne das geringste Bedenken hier einziehn sehen würde? Das ist nicht eben galant, Herr Doctor. Aber zum Glück kann es überhaupt nicht zu der bedenklichen Probe kommen. Sie wissen – ich bin nicht mehr frei, und somit danke ich Ihnen für Ihr ehrenvolles Anerbieten, mich die Erbschaft der schönen Polin antreten zu lassen, und empfehle mich für heute. Aus Wiedersehen, Herr Doctor!
Sie war ihm entschlüpft, ehe er noch den spöttischen Hieb parieren konnte. Ein Teufelsmädel! brummte er, da er sie am Ende des Ganges verschwinden sah. Aber wart, wir fangen dich doch noch. Was die kleine Kröte für Augen hat, wenn sie boshaft ausgelegt ist! Wer hätte das in diesem Provinzblaustrümpfchen gesucht!
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Indessen verließ besagtes Blaustrümpfchen auch dieses Haus mit dem Gefühl der Enttäuschung und dem Vorsatz, diese zwei Treppen nie wieder hinaufzusteigen.
Bei ihrem Bemühen, auch in dies Stück Menschenleben einen Blick zu thun, war sie ja freilich auf Manches gestoßen, was in gewissem Sinne hinlänglich »interessant« genannt werden durfte. Um so mehr aber war ihr die Beobachtung auffallend, daß sie sich im Grunde ihres Herzens für dies Stück Wirklichkeit so wenig wahrhaft interessieren konnte, wie für die Schicksale ihrer beiden so ungleichen Jugendfreundinnen. Wie sich's hätte verlohnen können, die Menschen und Zustände, die sie seit den paar Tagen kennen gelernt, dichterisch zu »verwerthen«, konnte sie nicht entfernt sich vorstellen. Denn auch die höchst aristokratische Luft in Kitty's Boudoir erschien ihr heute im Nachgefühl, nachdem der erste Reiz verflogen war, eben so widerwärtig, wie sie den Geruch der frischen Windeln bei der glücklichen jungen Mutter prosaisch gefunden hatte. Clothildens Heim aber kam ihr vollends abstoßend und nicht sonderlich literaturfähig vor.
Es begann ihr also nachgerade ihr ganzes Unternehmen, die höhere Welterfahrung gleichsam wie eine reife Frucht vom Baume des Lebens zu schütteln, verfehlt und gewaltsam zu dünken, und eine beschämende Ahnung überschlich sie, der Cursus, den sie in der Hochschule der Menschenkenntniß durchzumachen beschlossen hatte, werde am Ende nur ein dürftiges Ergebniß liefern. In dieser aufregenden Selbstschau, ob sie sich auch in ihrer Berufswahl nicht etwa getäuscht hätte, da sie noch gar keine Fortschritte verspürte, leuchtete plötzlich die feine, bewegliche Gestalt des Malers vor ihr auf, die einzige, die ihr eine ernstliche psychologische Neugier erweckte. So Einer war ihr weder im Leben noch in Büchern bisher begegnet, und selbst zum Helden eines Romans schien er ihr ausgezeichnet zu passen, so daß sie zunächst beschloß, alle anderen Modelle beiseite zu werfen und »Leben, Thaten und Meinungen« Tino Ansorg's zum Gegenstand eines eindringenden Studiums zu machen.
Als sie nach Hause kam, hielt ihr die Tante ein Briefchen ihres Verlobten entgegen. Zwei kleine Seiten seiner festen nachdrücklichen Schrift, nicht eben unzärtlich, doch nicht darnach angethan, in einen »Briefwechsel für Liebende« aufgenommen zu werden.
Ihre Mittheilungen aus der großen Stadt, schrieb der Herr Landrichter, die ihm übrigens kein sonderliches Heimweh erregten, ließen ihn mit Vergnügen erkennen, daß sie ihren Zweck vollkommen erreiche und so viel Stoff für spätere poetische Verarbeitung sammle, daß sie bald für ein Dutzend Bände genug haben werde. Die Welt scheine sich übrigens seit der Zeit, wo er als junger Rechtspraktikant durch die Münchener Gassen geschlendert sei, stark verwandelt zu haben. Damals seien ihm solche Menschen, wie sie ihr jetzt ein so hohes psychologisches Interesse abgewännen, als sehr alltägliche Narren oder Schufte erschienen. Möglich auch, daß sein richterlicher Beruf ihn daran gewöhnt habe, sich mit dem schönen Schein, auf dem die Poesie beruhe, so wenig als möglich einzulassen, sondern auf das Innere zu dringen, das in Folge der Erbsünde ziemlich durchgehend nichtsnutzig zu sein pflege. Sie aber möge nur fortfahren, die Dinge und Menschen mit ihren Augen anzusehen. Wenn von diesen später einmal die Schuppen fallen würden, sei das nicht allzu schmerzhaft. Auch möge sie bleiben, so lange sie noch Etwas zu studieren finde. Er entbehre sie freilich. Aber er habe sich ja von vornherein sagen müssen, als er sein Lebensglück an ein schreibendes Fräulein knüpfte, daß er ihren Besitz mit der deutschen Nation zu theilen haben würde. Die Rivalität mit einer so gewaltigen Macht sei zwar unbequem, habe aber des Gute, daß sie ihn vor jeder andern kleinlichen Eifersucht auf Einzelpersonen bewahre, so daß weder der geniale Doctor, das Haupt der freien Vereinigung, noch der kleine Maler im Sammetrock ihm seine Nachtruhe raube.
Niemand wird es verwundersam empfinden, daß der Ton dieses Briefes die Empfängerin aufs Unerfreulichste berührte. Bei aller scheinbaren Verehrung ihres Talentes und Respectirung ihrer Handlungsweise klang doch nur allzu deutlich eine gewisse pädagogische Herablassung durch, wie einem unreifen Kinde gegenüber, das man mit leisem Lächeln einem Schatten nachjagen läßt, überzeugt, es werde des Spiels bald müde werden. Vollends empörend war die selbstgefällige Sicherheit, mit der dieser Herr Bräutigam ihrem Verkehr mit den interessantesten jungen Männern von fern zusah. Wußte er so genau, was eine leidenschaftliche junge Dichterseele zu ihrem Glück bedurfte, und konnte er sich zutrauen, ihr das Alles zu bieten, ihren »Lebensdurst« ein für allemal zu stillen, so daß das Rauschen ferner Quellen und Ströme sie nie mehr sehnsüchtig hinauslocken würde?
Sie war über Tische sehr nachdenklich, zeigte auch diesen zweiten Brief nicht, wie den ersten, viel verliebteren, der Tante, der sie auch von ihrem Besuch bei der Schriftstellerin nur mit zwei Worten berichtete. Auch als sie am Nachmittag sich wieder zum Ausgehen rüstete, fand sie nicht für gut, ihr Ziel anzugeben. Denn so frei sie sich der alten Dame gegenüber gestellt hatte, war sie diesmal doch nicht sicher, ob sie nicht einige mißbilligende Worte oder Winke mit auf den Weg bekommen möchte.
Sie brannte nämlich vor neugierigem Verlangen, der Einladung Tino Ansorg's in sein Atelier zu folgen, und zwar wünschte sie dies Abenteuer ohne das schützende Geleit der Tante zu bestehen, die am Ende dazu bereit gewesen wäre, ihr als Gardedame zu dienen. In Künstlerromanen hatte sie so verführerische Schilderungen angetroffen, wie es in den Werkstätten der Herren Maler zuzugehen pflege, daß sie es für ihre Pflicht hielt, auch in diese Regionen des modernen Lebens einen Blick zu thun, zumal ihr, wie gesagt, der Charakterkopf des jungen Künstlers eines besonderen Studiums werth schien.
Er hatte ihr gesagt, daß sie mit der Trambahn vom Denkmal des Königs Max bis unmittelbar vor das Haus in der Theresienstraße gelangen könne, auf dessen Hof sie das Ateliergebäude, in dem er hause, finden werde. Zu anderen Zeiten war es ihr immer ein besonderes Vergnügen gewesen, in einem der großen offenen Wagen so lustig durch die Straßen hinzurollen, das aus- und einsteigende Publikum zu beobachten und sich so frei und unbekannt zu fühlen. Heute aber empfand sie eine seltsame Unsicherheit, als ginge sie denn doch einem halsbrechenden Abenteuer entgegen, und hätte sie sich nicht vor sich selbst geschämt und der Feigheit zeihen müssen, wäre sie noch im Hof des bezeichneten Hauses wieder umgekehrt. Aber so hinter die Schule zu gehen, schien ihr doch unwürdig.
So stieg sie langsam die Treppen des Atelierhauses hinauf, las an den Thüren die unbekannten Namen, daneben die Warnungen: Kein Modell gebraucht! oder: Betteln und Hausieren verboten! und stand endlich mit Herzklopfen vor einer Thür im dritten Stock still, an welcher eine Karte den Namen Tino Ansorg trug, neben einem Schiefertäfelchen zu beliebigen Notizen.
Auch jetzt noch fühlte sie sich einen Augenblick versucht, ihren Namen auf das Täfelchen zu schreiben und sich eiligst davonzumachen. Dann aber nahm sie einen herzhaften Anlauf und klopfte laut und vernehmlich an.
Es dauerte einige Secunden, bis sich's drinnen rührte. Dann öffnete sich die Thür zu einem handbreiten Spalt, hinter dem das Gesicht des Malers mit einer abweisenden Miene erschien. Sofort aber verwandelte sich dieser unwirsche Ausdruck in einen freudestrahlenden, die Thür wurde weit aufgethan, und den Malstock wie ein salutierender Soldat vor sich hin streckend, die Palette vor die Brust gedrückt, rief der junge Mensch mit seinem fröhlichsten Ton:
Sie sind es, theuerstes Fräulein? Ja, das ist etwas Anderes, Bitte, treten Sie doch ein. Ich habe zwar gerade Modell, aber ich war ohnehin schon fertig, und vor Ihnen habe ich keine Geheimnisse.
Er war von der Schwelle zurückgetreten, um sie einzulassen. Sie zauderte aber noch in sichtbarer Bestürzung, seiner Einladung zu folgen, draußen auf dem Gange. Denn im Innern des Ateliers, auf einem etwas erhöhten Sitz, mit dem Rücken gegen die Thür, sah sie die ganz gewandlose Gestalt eines Mädchens, das jetzt, ohne seine Stellung zu verändern, das Gesicht nach dem Eingang umwendete und mit ziemlichem Gleichmuth den fremden Eindringling betrachtete. Das Licht, das aus dem breiten, viereckigen Nordfenster über Schultern und Nacken des schlanken Geschöpfes fiel, zeigte eine tadellose Bildung, während das Profil weder in den Linien noch im Ausdruck etwas Anziehendes hatte.
Aber Sie stören mich durchaus nicht, rief der Maler, indem er Toni's Hand ergriff, sie über die Schwelle zu führen. Ziehen Sie sich nur wieder an, Fräulein, wandte er sich an das Modell. Morgen wieder um dieselbe Zeit. Uebrigens brauchen Sie sich nicht zu genieren, das gnädige Fräulein ist auch Künstlerin, wenn sie sich auch auf Federzeichnungen beschränkt. Nein, wie lieb von Ihnen, daß Sie mir die Ehre geben! Bitte, hier herein. Es ist eine so gräuliche Unordnung, und wenn man aus dem Dunkel kommt, ist man geblendet. Da können Sie gleich kritisieren, was ich eben gemacht habe. Das Fräulein hat den schönsten Rücken in ganz München, aber es ist um verrückt zu werden, die Kunst bleibt immer hinter einer so vollendeten Natur zurück. Dies ist schon die dritte Studie, wieder in anderer Beleuchtung. Treten Sie, bitte, hierher, sonst haben Sie den Reflex vom Fenster. Nicht wahr, der Halsansatz und wie die Linie hier nach der Hüfte hinunterschweift –
Toni war, noch immer stumm, da die ganze Scene ihr nicht geheuer war, vor die Staffelei getreten, während das Modell von seinem Sitz herunterstieg, um hinter einer spanischen Wand seine Toilette zu machen. Sie that, als studiere sie den farbigen Act aufs Genaueste, war aber mit all ihren Gedanken noch bei dem unerhörten Eindruck, den sie beim Eintritt empfangen hatte. Erst nach und nach, als der Maler die beiden anderen Studien hervorholte und neben die heutige stellte, gewann sie so viel Unbefangenheit, ein paar gleichgültige Bemerkungen zu machen.
Inzwischen hatte das Mädchen hinter dem Schirm sich fertig angekleidet und trat nun hervor, sich mit einem Kopfnicken verabschiedend. Tino begleitete sie bis an die Thür und drückte ihr ein Geldstück in die Hand.
Sie haben gesehen, sagte er, zu Toni zurückkehrend, wie dicht das gute Mädel sich verschleiert hat. Sie ist gar kein gewerbsmäßiges Modell, sondern die Tochter einer armen Wäscherin, die jetzt seit sechs Monaten erkrankt ist und Nichts mehr verdienen kann. Da mußte das Mädel für sie einspringen, sperrte sich Anfangs dagegen, aber einer meiner Freunde, der in demselben Hause wohnt, beredete sie endlich. Von dem ist sie dann zu mir gekommen, und jetzt findet sie Nichts mehr dabei. Es ist ja auch ein Vorurtheil, denn am Ende, wozu hat der Schöpfer sein Meisterstück, den menschlichen Körper, geschaffen, wenn Künstleraugen – in aller Zucht und Andacht, versteht sich – sich nicht daran freuen sollen?
Da sehen Sie, verehrtes Fräulein, fuhr er fort, einen großen Blendrahmen herbeischleppend, auf dem eine Kohlenskizze entworfen war, hier plage ich mich nun schon seit Monaten und kann mit der Composition nicht ins Reine kommen. Sie sehen, es sollen die drei Grazien werden, von denen ich Ihnen schon gesprochen habe, eine Uebersetzung ins Moderne, versteht sich, drei reizende Mädel am Strande eines Sees, die vor oder nach dem Bade sich zusammenducken. Die Alten haben sich's bequem gemacht, sowohl die antiken Bildhauer als ein gewisser Raffael und späterhin Canova und Thorwaldsen. Die stellten nur einfach drei reizende junge Frauenzimmer neben einander, meist sich mit den Armen umschlingend und so, daß der ganze Zauber des weiblichen Körpers von allen Seiten zur Geltung kam. Wir aber haben mit den Göttinnen und allem Mythologischen gebrochen, wir verlangen irgend eine menschliche Situation, in der drei schöne Mädels zusammen sitzen, stehen oder liegen können, und da thut einem eben die Wahl weh. Ich hab's auf zehn verschiedene Arten probiert, jede hat was für sich, und jedenfalls muß ein schöner Rücken dabei sein. Aber das bloße dumme Hinsitzen genügt mir nicht. Was meinten Sie dazu, wenn das Mädchen ein Opernglas vor den Augen hielte und etwa nach dem andern Ufer hin vigilierte, ob da keine indiscreten Beobachter sich versteckten?
Er holte ein Blatt herbei, auf dem er die Figur in dieser Haltung entworfen hatte. Toni fühlte, daß ihr mehr und mehr das Blut ins Gesicht stieg, sie wollte aber um Nichts in der Welt prüde erscheinen, zumal der Künstler die Sache ganz ernst und ohne jeden Hauch von Frivolität behandelte. Endlich warf er selbst alle diese Vorspiele in die Ecke und fuhr sich mit einer verzweifelten Miene durch die Haare.
's ist um wahnsinnig zu werden! rief er. Man predigt immer: Natur! nur Natur! Aber wenn man sich ihr ganz auf Gnade und Ungnade ergiebt, tyrannisiert sie einen so unbarmherzig, daß man erst recht Nichts zu Stande bringt. Die alten Zöpfe, die Idealisten, hatten gut lachen. Die dachten sich was aus, und erst wenn sie ans Ausführen gingen, nahmen sie Natur dazu. Hätt' ich meine Gruppe erst im Kopf fertig componiert, so wär' ich jetzt aus aller Noth. So aber habe ich mich von meinen Modellen »anregen« lassen, und nun möchte ich Alles machen und mache Nichts!
Sie warf jetzt ein paar weise Wörtchen hin, ihn zu trösten, worauf er aber nicht sonderlich hinzuhören schien. Er betrachtete sie nur unverwandt, während sie sprach, und sagte plötzlich: Bitte, bleiben Sie so einmal stehen, ein wenig mehr nach rechts – so! O, das ist göttlich! Wollen Sie einmal selbst sehen? Er hielt ihr einen kleinen Handspiegel vor und sagte dann: Ich wäre der glücklichste Mensch auf tausend Meilen im Umkreis, wenn ich Sie so malen dürfte. Sehen Sie, ich habe sogar schon angefangen, aus dem Kopf, genau in dieser Stellung, die mich schon bei unserer Promenade gestern entzückt hat, so daß ich sie mir merkte. Er zog einen großen Pappdeckel hervor, auf dem in Pastellfarben der angefangene Kopf sich befand, etwas idealisiert, aber nicht zu verkennen. So muß ich es machen, gerade in dieser Beleuchtung. Sagen Sie, wollen Sie mir die überschwängliche Gunst erweisen, mich zum Glücklichsten aller Sterblichen zu machen? In drei, vier Sitzungen ist es gethan.
Sie hatte die Skizze aufmerksam beschaut und fühlte die größte Lust, auf diese Art verewigt zu werden. Doch war ihr Manches dabei nicht unbedenklich. Nur um Zeit zur Ueberlegung zu gewinnen, sagte sie:
Ich weiß nicht, ob mein Bräutigam damit einverstanden sein wird.
Ihr Bräutigam? Glauben Sie, daß wir den noch lange fragen werden? Wenn's noch Ihr Gemahl wäre! Aber was für Rechte hat dieser unselige Mensch schon jetzt über Ihr Thun und Lassen! Nein, hinter seinem Rücken werden Sie mir sitzen, er kann hernach froh sein, wenn ich eine Copie des Bildes für ihn mache. Zunächst aber lassen wir alle Bräutigams aus dem Spiel, und Sie thun mir diesen ungeheuren Gefallen wie ein guter Kamerad dem andern. Ha, was die Vogelscheuchen in der freien Vereinigung für Augen machen werden, wenn sie davon erfahren!
Ich mache es zur Bedingung, Herr Ansorg, versetzte sie sehr ernst, daß kein einziger Mensch davon erfährt. Das müssen Sie mir schwören. Nur wenn es sich um eine Ueberraschung für meinen Bräutigam handelt, kann ich darein willigen, und über den Preis müssen wir uns auch erst noch verständigen.
Dazu war er nun nicht zu bringen, zumal er nicht wissen könne, wie viel Arbeit das Bild ihn kosten werde. Die Copie für den Herrn Landrichter werde diesen nicht arm machen. Schweigen wolle er gern. Sie möge dann nur am Vormittage kommen, wo er in der Regel keine Besuche empfange. Und nicht in dem hochanschließenden Kleide, wenn er bitten dürfe, wenigstens ein bissel das Hälschen frei gelassen, was man einen »freundlichen Blick« nenne. Gerade ihr Halsansatz sei so schlank und zart und doch auch kraftvoll – und dergleichen Schmeichelworte mehr.
Sie war ganz wie taumelig von Allem, was sie gehört und gesehen hatte, als sie das Atelier verließ mit dem Versprechen, gleich morgen wiederzukommen. Und noch war sie nicht so tief in das verführerische Verhältniß zu dem jungen Maler verstrickt, daß sie nicht Gefahr gewittert und sich vielleicht doch noch zurückgezogen hätte, wäre er ihr nicht mit so äußerster Bescheidenheit, die fast an Ehrerbietung grenzte, begegnet. So aber konnte sie sich auf dem Heimweg zur Tante dem bezaubernden Gefühl überlassen, das jeder Evastochter das liebste ist, ein Geheimniß zu haben, das sich auf der schmalen Grenze einer reizenden Gefahr hin bewegt, und mit nachtwandlerischer Kühnheit sich vor dem Fallen zu hüten, während man zugleich die ganze Wonne des verbotenen Spiels auskostet.
*
Pünktlich um zehn Uhr am andern Vormittage erschien sie wieder in Herrn Tino's Atelier, von dem Maler mit einer so ehrfurchtsvollen Dankbarkeit empfangen wie eine junge Fürstin, die sich zum Besuch in der Hütte eines Leibeigenen herabläßt.
Das beruhigte sie von Neuem darüber, daß durchaus nichts Bedenkliches sei bei einer solchen Sitzung unter vier Augen. Auch daß der Maler die Atelierthür abschloß, um jede Störung fernzuhalten, erhöhte nur ein wenig das angenehme Gruseln, das sie bei dem Gedanken überlief, was wohl die Kaffeeschwestern ihres kleinen Heimathörtchens dazu sagen würden, wenn sie ein bisher so untadeliges junges Mädchen auf demselben Stuhle sitzen sähen, den gestern ein bezahltes Modell eingenommen, und nun vollends den Maler belauschen könnten, der sich das Taschenkämmchen des Fräuleins ausbat, um ihr Haar ein wenig freier zu ordnen. Er benahm sich dabei freilich so musterhaft discret, wie nur irgend ein Hoffriseur, der den Haarputz einer Hoheit für einen Ball zu besorgen hat. Und sie selbst hatte auch wieder ihre kühle, unnahbare Miene aufgesteckt, die den guten jungen Mann im Stillen zur Verzweiflung brachte.
Sie sah dann aber in ihrer malerischen Stellung und Zurichtung so unglaublich reizend aus, daß das Glück, sie so mit schönster Muße betrachten zu dürfen, alle andern Wünsche einstweilen überwog und Tino Ansorg freudig ans Werk ging. Er fand dabei auch seine muntere Sprache wieder und brachte so drollige Geschichten und krause Einfälle vor, daß sein Modell gleichfalls in die heiterste Stimmung gerieth. Dabei gefiel sie sich ausnehmend in dem lustigen Kostüm, das zu der ganzen Umgebung besser paßte als ihre gewöhnliche Toilette. Ihre klugen dunklen Augen gingen, während sie im Uebrigen sich nicht rührte, neugierig an den Wänden herum und hefteten sich an die hundert ihr ganz neuen Gegenstände, mit denen diese Malerwerkstatt wie die meisten anderen ausgestattet war. Dieser Raum erschien ihr als eine Welt für sich, völlig abgetrennt von der nüchternen, farblosen Alltagswelt da draußen, und der darin herrschte, ein beneidenswerther Mann.
Wie sie im Uebrigen zu ihm stand, war ihr nicht völlig klar. Sie hatte genug lyrische Gedichte gemacht und auch durch ihren Brautstand einige Vertrautheit mit ihrem Herzen gewonnen, so daß sie sich ehrlich sagen konnte, sie sei keineswegs in den braunen Lockenkopf, das zierliche Spitzbärtchen und die kühn und treuherzig blickenden Augen dieses jungen Künstlers verliebt. Gerade, daß sie in seiner Nähe nicht die geringste Befangenheit spürte, beruhigte sie, da sie wohl gedachte, wie ihrem Bräutigam gegenüber ein Gefühl der Unterordnung sie nie verließ, so wenig er seine Ueberlegenheit geltend machte. Sie hatte aber auf den vielumworbenen Freier, der mit höflicher Gleichgültigkeit die gesammte Weiblichkeit des Städtchens behandelte, so scheu und fast furchtsam geblickt, daß sie erst nicht recht glauben konnte, es sei ihm ernst mit seiner Werbung. Diese Stimmung war freilich mit der Zeit gewichen, sie hatte sich rasch genug darein gefunden, dem großen, energischen Mann, der sich ihr gegenüber so fügsam zeigte, den kleinen Fuß auf den breiten Nacken zu setzen. Immer aber blieb eine heimliche Sorge in ihr rege, der Gefesselte möchte sich eines schönen Tages seines Herrenrechts besinnen, so daß sie sich wohl hütete, die Zügel zu straff anzuziehen.
Eine solche Furcht lag ihr Tino gegenüber ganz fern. Sie nahm seine unverhohlene Schwärmerei ohne ein Gefühl der Verpflichtung hin, und da sie ein gewissenhaftes Menschenkind war, enthielt sie sich auch jeglicher Koketterie, die ihn zu irgend welchen Ansprüchen hätte berechtigen können. Es war ganz in der Ordnung, daß sie ihm gefiel, da sie hübsch war und er ein Kunstjünger. Und daß sie an seinem ungebundenen Gespräch Vergnügen fand, konnte ihr auch Niemand zum Verbrechen machen. So durfte sie diese Episode in ihrer Münchener Studienreise sorglos genießen, und wenn später einmal in einer Künstlernovelle diese Eindrücke verarbeitet würden, brauchte sie Niemand Rechenschaft darüber zu geben, wer ihr dabei Modell gesessen.
Etwa eine Stunde hatte die Sitzung gedauert, da sprang Tino auf und erklärte, er müsse eine Pause machen, er fühle sich förmlich hypnotisiert, da er ihr so lange in die Augen gesehen habe. Sie lachte, stieg von ihrem Podium herab und trat vor das Bild, das ihr ausnehmend gefiel. Sie kamen dabei in ein kleines theoretisches Kunstgespräch, bei dem der Maler ausrief, es sei fabelhaft, wie wenig sie von der Malerei verstehe, obwohl sie sonst als eine junge Muse über Gott und die Welt die weisesten und denkwürdigsten Aussprüche zu thun wisse. Das wollte sie erst nicht Wort haben, da ihr Vater sie schon als kleines Mädchen in den Kunstverein mitgenommen habe. Freilich fehle es in der Provinz an aller Gelegenheit, sich weiterzubilden. Wenn sie ihn zum Lehrer annehmen wolle, versetzte der Maler, so getraue er sich, in vierzehn Tagen aus ihr eine ganz respectable kleine Kunstkennerin zu machen, nur könne das freilich nicht ohne den Anblick wirklicher Kunstwerke geschehen. Wie aber wär's, wenn sie sich jedesmal nach der Sitzung ein Stündchen in eines der Museen verfügten? Wenn ihr das recht wäre, könnten sie gleich heute mit diesem Cursus der Aesthetik beginnen; die Pinakothek sei ohnehin nur hundert Schritte weit von seinem Atelier entfernt.
Aus diesen Vorschlag ging das Fräulein nach kurzem Bedenken mit Vergnügen ein. Da sie so gut wie gar keine Bekannte in der großen Stadt hatte, konnte es ihrem Ruf Nichts schaden, wenn man sie in Gesellschaft eines jungen Künstlers die Säle der verschiedenen Kunstsammlungen durchwandern sah. Bei ihren einsamen Besuchen dort hatte sie mit Schrecken bemerkt, daß sie dieser Fülle des Schönen gegenüber sich wie verrathen und verkauft vorkam. Nun sollte diesem Uebel abgeholfen werden und auf eine so erfreuliche Art.
*
Bei der »freien Vereinigung« sich wieder einzufinden, hatte Toni entschieden abgelehnt, und was der Maler ihr jetzt, da er die Mitglieder nicht mehr zu schonen hatte, von Einzelnen derselben erzählte, bestärkte sie in ihrem Entschluß. Tino selbst besuchte die Abendgesellschaft nicht mehr. Er hatte sich einmal noch in dem Café blicken lassen, aber nach einem heftigen Zank mit Fritz Rempler sich für immer verabschiedet, da er es nicht mit anhören konnte, den hochmüthigen Menschen von seiner Angebeteten als von einem »insipiden Gänschen« sprechen zu hören.
Er schwamm in der reinsten Glückseligkeit. Hatte er es doch dahin gebracht, drei volle Stunden des Tages die liebliche Gesellschaft des schönen Gesichts zu genießen, und hielt sich nach seiner leichtherzigen Natur den Gedanken, wie lange die Wonne währen möchte, beharrlich fern. Bei der zweiten Sitzung hatte das Fräulein die Photographie ihres Verlobten mitgebracht, um sie dem guten Freunde, dem sie so viel von ihrem jungen Leben erzählt, als eine der wichtigsten Illustrationen desselben zu zeigen. Der aber hatte nur einen kurzen Blick auf das Kärtchen geworfen, etwas Unverständliches gemurmelt und mit einem Achselzucken das Bild zurückgegeben. Mit diesem Biedermann getraute er sich den Vergleich wohl noch auszuhalten, zumal er auch in einer leidlichen äußeren Lage war und außer seinem kleinen Vermögen auf den Verkauf seiner witzigen Genrebildchen rechnen durfte. Warum also sollte er ein für allemal die Flinte ins Korn werfen? Waren nicht schon andere Verlobungen zurückgegangen, wenn sich ein Bewerber zeigte, der einem unerfahrenen Kinde die Meinung beizubringen vermochte, es habe sich bei seiner ersten Wahl geirrt, und es sei seine Pflicht, das offen einzugestehen?
Aber seltsam – so sehr er fühlte, daß er in der Gunst und guten Meinung der jungen Muse täglich große Fortschritte machte, zu der richtigen Gegenliebe, die er bei anderen Mädchen gefunden, wollte es bei dieser nicht kommen. Er sah deutlich, daß zuweilen, wenn er ihr leidenschaftliche Histörchen erzählte oder in der Pinakothek vor einer etwas bacchantisch angehauchten Leinwand seine Erläuterungen machte, ihr Blut in eine ungewohnte Wallung gerieth, ein kleines Feuer in den ernsten dunklen Augen aufglomm und ihre Brust sich lebhafter hob und senkte. Trat er dann aber nur einen Schritt näher an sie heran, oder versuchte gar unter einem Vorwande sie anzurühren, so zuckte es wie ein elektrischer Schlag durch ihre schlanke Gestalt, und um den rothen Mund erschien jener kleine pedantische Zug, der ihn von der Hoffnungslosigkeit all seiner Liebesmühen überzeugte.
So verging die Woche, und der Sonntag kam heran, an dem die letzte Sitzung stattfinden sollte. Der Maler hätte das Ende gern ins Unabsehliche hinausgeschoben. Aber sein Modell fand es nun doch an der Zeit, die Besuche im Atelier einzustellen, die mehr und mehr ihrer Phantasie, wenn auch nicht ihrem Herzen, gefährlich zu werden drohten.
Nie zuvor hatte sie mit einem jungen Manne in so vertraulichem Verkehr unter vier Augen gelebt, da ihr Bräutigam Anfangs nur auf eine Abendstunde gekommen war, so lange der Papa gelebt, während des Trauerjahrs aber sie nur zu Spaziergängen abgeholt hatte, da sie mit ihrer alten Magd das Häuschen allein bewohnte. Und nun hatte sie sich täglich in die Wohnung dieses Fremdlings gewagt, die mit sehr zwanglosen Studien zu allerlei Grazienbildern tapeziert war und durch die Abgeschlossenheit gegen jede Störung einen intimen Reiz erhielt.
Was aber bedenklicher war: der Zustand ihres guten Freundes verschlimmerte sich dergestalt, daß sie einen Stein hätte in der Brust haben müssen, wenn es sie nicht hätte schmerzen sollen, dem Aermsten nicht helfen zu können. Sie äußerte dieses Gefühl in einem längeren Gedicht, das sie ihm nach der nothwendig gewordenen Trennung zusenden wollte. Es war acht sechszeilige Strophen lang und variierte die Eingangszeilen von Schiller's Ritter Toggenburg auf die zarteste und liebenswürdigste Weise, sprach zum Schluß die Hoffnung aus, wenn sie Beide sich im Greisenalter wieder begegneten, auf diese Frühlingsstürme mit Lächeln zurückzublicken, und sagte dem treuen Gefährten einstweilen Dank für die weiten freien Blicke in die Zaubergärten der Kunst, die er ihr eröffnet habe.
Mit dieser lyrischen Leistung war das Musenkind überaus wohlzufrieden, schrieb die Verse sauber ab und that sie in ein Couvert, das sie auf alle Fälle zu sich steckte. Dann machte sie sich, während die Tante glaubte, sie gehe in die Kirche, zu dem schweren letzten Gang in das Atelierhaus in der Theresienstraße auf.
Bei allem Kummer, mit dem Toni sich in die Seele des unglücklich Liebenden hineindachte, konnte sie sich doch eines Gefühls stiller Befriedigung nicht erwehren, nicht sowohl, weil sie nun auch der Gegenstand einer hoffnungslosen Leidenschaft geworden war, als weil sich dieses Abenteuer so recht novellistisch abzurunden Miene machte, sie also in der That einen Griff ins volle Menschenleben gethan hatte, der auch einmal schwarz auf weiß ein »interessantes« Ergebniß zu liefern versprach. Denn es ist unglaublich, wie bald die Beschäftigung mit der Literatur selbst die unschuldigsten Gemüther um die schlichte Kraft, das Leben naiv hinzunehmen, zu bringen pflegt.
So beobachtete die Literaturnovize, während sie im Begriff stand, gleichsam in die Zelle eines Verurtheilten zu gehen und die letzten Stunden mit ihm zu theilen, sich selbst als eine ihr fremde interessante Figur, der sie in einem Romankapitel begegnet wäre. Als sie aber über die Schwelle des Ateliers trat, verging ihr jede Anwandlung ihres Schriftstellerberufs.
Denn der Anblick des guten Jünglings war in der That herzbeweglich, und er selbst vermochte nur nothdürftig seinen zerstörten inneren Zustand zu verbergen. Ob ein wenig Komödie dabei war, als er sich wie ein halb Gelähmter beim Eintritt des Fräuleins erhob, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls war aus seinen Zügen all die Munterkeit gewichen, die ihnen sonst den gewinnenden Reiz verlieh, sein dichtes, lockiges Haar hing ihm wirr ums Haupt, und statt des losen bunten Halstuchs trug er ein schwarzes, das so fest zugezogen war, als seien Strangulierungsversuche damit gemacht worden.
Er hatte auf einem Bauernschemel neben dem Tischchen gekauert, das gewöhnlich seinen Kasten mit Pastellstiften trug. Heute war ein weißes Tüchlein darüber gebreitet und eine kleine Collation zierlich darauf zusammengestellt, ein Teller mit Kuchenwerk, ein anderer mit großen Gartenerdbeeren, dazu eine Flasche mit süßem südlichem Wein und zwei Spitzgläschen – Alles sehr einladend blank und bunt.
Toni bemerkte auf den ersten Blick die Veränderung, die mit ihrem jungen Verehrer vorgegangen war. Doch versuchte sie, sich ganz unbefangen zu stellen, nickte dem armen Sünder freundlich wie alle Tage zu und fragte mit einem kleinen Lachen, ob er plötzlich Lust bekommen habe, ein Stillleben zu malen.
Der Unglückliche warf ihr einen düster vorwurfsvollen Blick zu und erwiderte stockend: da es das letztemal sei, daß er das Glück habe, sie bei sich zu sehen, habe er – es sei sozusagen eine Henkersmahlzeit – er hoffe, sie werde es ihm nicht abschlagen, ehe sie gehe – auf immer – wenigstens mit ihm anzustoßen –
Sie bedaure sehr; sie thue ihm, wie er wisse, gern einen Gefallen, aber Wein trinken, zumal vor Tische – höchstens könne sie sich zu einer der Früchte entschließen, obwohl sie sonst zu dieser Zeit nie Etwas genieße – die Erdbeeren aber seien zu schön. Ihm dagegen werde ein Glas Wein gut thun, er sehe übel aus, er möge sich doch stärken, ehe er an das Bild die letzte Hand anlege.
Statt aller Antwort seufzte er nur, schüttelte die dichte Mähne aus der Stirn zurück und stellte die Leinwand mit ihrem Bilde auf die Staffelei. Da sie inzwischen ohne Weiteres ihren gewohnten Platz wieder eingenommen hatte, machte er sich sofort an die Arbeit, und die beiden jungen Leute öffneten eine Viertelstunde lang nicht zum kleinsten Wort die Lippen, obwohl Beiden das Herz zum Ueberfließen voll war.
Wie sie ihn so betrachtete, das gelblichbleiche Gesicht das noch vor einigen Tagen von übermüthiger Jugendfrische gestrahlt hatte, seine überwachten, traurigen Augen, dazu die Stille in dem hohen Raum, der sonst von seinem Lachen widerhallt hatte, fühlte sie ein Mitleiden mit ihm, das ihr zugleich als ein scharfer Biß ins Gewissen schnitt, da sie doch sich selbst als die Anstifterin des Unheils betrachten mußte. Sie war sich auch jetzt völlig klar darüber, daß sie nicht mehr für ihn fühlte, als etwa für einen jüngeren Bruder, der ihr einen Liebeskummer gebeichtet hätte. Aber wenn sie sich sagte, wie glücklich sie ihn machen könnte, wenn sie aufstände, sein Kinn in die Höhe richtete und ihren Mund auf seine schmerzlich verbissenen Lippen drückte, bedauerte sie doch, daß sie noch zu sehr von der Provinzmoral gegängelt wurde, um zu thun, was die anderen weiblichen Mitglieder der »freien Vereinigung« unbedenklich sich erlaubt haben würden.
Das Schweigen indessen wurde ihr immer peinlicher, und sie überlegte eben, ob es nicht das Beste wäre, ihr Abschiedsgedicht aus der Tasche zu ziehen, es ihm zu lesen zu geben und eine offene freundschaftliche Aussprache über ihr Verhältniß daran zu knüpfen. Da sah sie ihn plötzlich aufspringen, den Pinsel wegschleudern und wie von einem Tobsuchtsanfall ergriffen durch das Atelier aus- und niederstürmen.
Nein, rief er, fordere was menschlich ist! Das ist noch Niemand zugemuthet worden, ein Kunstwerk zu schaffen, während er am Verschmachten ist. Ich habe mich lange genug zusammengenommen – jetzt aber – und wozu auch? Wissen Sie nicht doch ganz genau, wie es um mich steht? Wenn Ihnen das mißfallen hätte, wären Sie nicht längst so gescheidt gewesen, mich abzudanken als Porträtierer und Cicerone? Aber Sie hatten Ihren Spaß daran, mich immer tiefer in meinen Wahnsinn hineintappen zu sehen. Wissen Sie, mein Fräulein, daß ein Indianer, der einen gefangenen Feind langsam am kleinen Feuer rösten läßt, ein barmherziger Samariter ist gegen Sie? Wenigstens entschuldigt ihn der Hunger. Er wird den Gebratenen aufessen, sobald er gar ist. Sie aber – und wenn ich Ihnen auf einer silbernen Schüssel präsentiert würde – Sie würden danken und sagen, Sie hätten keinen Appetit. Ich kann Ihnen das nicht verdenken. Ich bin nicht so reizend, daß ich Ihrer würdig erschiene, obwohl – mit gewissen Landrichtern getraute ich mir's auch wohl noch aufzunehmen. Aber Sie hätten dann menschlicher und barmherziger an mir handeln sollen, nicht erst das Feuer schüren, um mich dann halbgebraten stehen zu lassen!
Sie war gleich bei seinen ersten Worten erschrocken aufgefahren; was sie gern vermieden hätte, war also doch über sie hereingebrochen. Aber sie faßte sich rasch genug, griff nach ihrem Hütchen und sagte:
Es thut mir leid, Herr Ansorg, daß Sie sich in solchen Uebertreibungen und ganz ungerechten Vorwürfen ergehen. Ich halte es unter meiner Würde, mich zu vertheidigen, und kann Ihre unerhörten Beleidigungen nur damit entschuldigen, daß Sie krank sind und im Fieber sprechen. Dann ist es für mich aber auch nicht passend, länger hier zu bleiben. Adieu, Herr Ansorg! Nach dem Bilde, das ja wohl fertig ist, werde ich schicken und alles Weitere schriftlich abmachen.
Sie stieg mit der Haltung einer kleinen Prinzessin, die ihrem Kammerherrn eine Lection gegeben, von dem Podium herab und näherte sich der Thür. Da sprang er mit ausgebreiteten Armen vor die Schwelle und rief: Theuerstes gnädiges Fräulein, können Sie mir diesen Schmerz, diese Schmach anthun, zu gehen, als ob mein ungehöriges Betragen Sie vertriebe? Was soll ich thun, daß Sie mir verzeihen, mich wieder zu Gnaden annehmen? Ich bin ja so wirr im Kopf nach einer ganz schlaflosen Nacht, daß ich nicht weiß, was ich rede. Aber daß ich Sie nicht habe beleidigen wollen, daß ich Jeden, der Sie zu kränken wagte, erwürgen würde, muß ich Ihnen das noch versichern? Ich wäre ja ein Ungeheuer von Undankbarkeit, wenn ich nicht wie ein Sklave Ihnen gehorchte, nachdem Sie mir so viel himmlische Güte gezeigt, diese ganze Woche mich mit Ihrer Gesellschaft beglückt haben. Aber sehen Sie, es ist hart, daß ich das nun wieder entbehren soll. Andere mögen in solchen Fällen ihren »Lebensdurst« mit schalen Getränken stillen; ich – werde daran zu Grunde gehen, das mögen Sie mir glauben! Aber was kümmert es Sie? Was bin ich Ihnen? Gehen Sie, theures Fräulein, vergessen Sie mich und – seien Sie glücklich!
Er trat mit diesen Worten von der Thür zurück, als wolle er ihr den Weg freigeben, Sie aber rührte sich jetzt nicht. Sie hatte zu Boden gesehen mit glühenden Wangen, da seine stürmische Rede, die von einer wahrhaftigen tiefen Erregung zeugte, ihr mehr und mehr ins Blut ging. Sie suchte nun nach einem freundlich beschwichtigenden Wort, das ein wenig Balsam auf seine Wunde träufelte, ohne zu viel zu verheißen, und sagte endlich, indem sie ihm die Hand hinhielt: Mein armer Freund, ich beschwöre Sie, beruhigen Sie sich. Ich bin Ihnen gewiß nicht böse – wie sollte ich? Glauben Sie nur, auch ich – ich darf Ihnen ja freilich nichts Anderes sein als eine gute Freundin, aber auch mir werden diese Tage mit Ihnen –
Sie war ihm, da er ihre Hand lebhaft ergriffen hatte, ganz nahe getreten und hatte den Druck seiner Hand in herzlichem Mitgefühl erwidert. Auf einmal aber fühlte sie sich von seinen beiden Armen leidenschaftlich umschlungen, und während sie sich umsonst bemühte, sich aus der Umstrickung loszumachen, ihre Augen, Wangen und Lippen mit Küssen bedeckt, denen sie in der grenzenlosen Verwirrung ihres Gemüths sich nicht sogleich entziehen konnte. Einen Augenblick war es ihr sogar, als sollte sie die Besinnung verlieren. Doch eben das Entsetzen vor dieser Gefahr kam ihr zu Hülfe. Mit einem heftigen Ruck lös'te sie sich aus der Umschlingung und trat, die Augen vor Zorn und Scham lodernd, einen Schritt zurück, während er, wie aus einem tollen Traum erwachend, sprachlos sie anstarrte.
Was hab' ich gethan! stammelte er, sich gewaltsam bezwingend. Sie werden mich verachten, mich hassen – o, und doch, ich kann nicht bereuen – noch nicht – und wenn ich diesen Tropfen Seligkeit mit ewiger Verdammniß büßen müßte – nie – nie –
Sie ließ ihn nicht aussprechen. Mit fester Hand ihn zurückstoßend, faßte sie nach dem Thürgriff, riß den hohen Thürflügel auf und schritt, den Räuber keines Blickes würdigend, über die Schwelle.
*
Wie sie die Stiegen hinunter, über den Hof und auf die Straße hinaus gelangte, konnte sie nicht begreifen. Erst als sie sich vor dem Hause in Sicherheit sah, kam sie aus der tiefen Betäubung wieder ein wenig zu sich. Doch fühlte sie sich in allen Gliedern so kraftlos, daß sie sich nicht zu Fuß zu gehen getraute, sondern den nächsten Pferdebahnwagen, der heranrollte, bestieg, gleichgültig, in welcher Richtung er sie davontrug.
Zufällig war's die ihrem Heimweg entgegengesetzte. Doch als sie's bemerkte, war's ihr ganz recht, aus dieser Ringbahn erst die ganze Stadt zu umkreisen, ehe sie bei dem Denkmal des guten Königs am Ende der Maximiliansstraße wieder anlangte. Auf der langen Fahrt konnte sie doch hoffen, ihre Gedanken wieder ein wenig zu sammeln, die, wie ein Vogelschwarm unter einem plötzlichen Regensturz auseinander stiebt, durch das Ungewitter von stürmischer Zärtlichkeit, das über sie hereinbrach, nach allen Richtungen versprengt worden waren.
War's denn möglich? Das hatte er gewagt, nachdem er sich stets so bescheiden und unterwürfig gezeigt hatte? Einen so dramatisch-tragischen Ausgang hatte die harmlose kleine »Künstlernovelle« genommen, mit der sie sich nur wie spielend beschäftigt hatte? Hatte er denn Recht mit seiner Anklage, sie habe dies Ende verschuldet durch ihre kokette Ermunterung eines Gefühls, über das sie nicht im Zweifel sein konnte? Aber dann müßte man ja auf jeden freundlichen Umgang mit liebenswürdigen Menschen verzichten, dann hätten auch die gestrengen Philisterweiber Recht, die ihre Töchter mit einem Stachelzaun von kaltherzigen Tugendlehren umgeben und nie ohne Aufsicht herumgehen lassen. Nein, sie hatte sich Nichts vorzuwerfen, sie war ja eben darum heute zum letztenmal gekommen, weil sie fürchtete, es möchte nicht in dem alten harmlosen Stil weitergehen. Wie konnte sie ahnen, daß es schon zu spät war!
Und doch, obwohl vor einem Ueberfall dieser Art das beste Gewissen nicht zu schützen vermag, fühlte sie sich in ihrer jungfräulichen Reinheit durch das Erlebte angetastet; ihr war zu Muth, als hätten die Küsse des rasenden Menschen überall Spuren auf ihrem Gesicht zurückgelassen, so daß sie eilig das Schleierchen ihres Hutes herunterließ, um ihre Schmach vor den Augen der Mitfahrenden und Vorübergehenden zu verbergen.
Dennoch wurde sie im Vorbeifahren von einer jungen Frau erkannt, die ein Kinderwägelchen aus dem blanken Trottoir vor sich her lenkte, aus welchem zwei rosige Blondköpfe hervorlugten. Unwillkürlich wandte sich Toni ab, doch nicht rasch genug, um dem freundlichen Gruß zu entgehen, den die glückliche Mutter zu ihr hinaufsandte. Eine kopfschüttelnde Geberde sollte ihr zu verstehen geben, daß es gar nicht freundschaftlich sei, sich so lange nicht sehen zu lassen. Aber die Neigung zu einem zweiten Besuch in der Kinderstube war nun vollends verschwunden. Sie beneidete jetzt die Jugendfreundin um ihre traulich beschränkte Lage und das einfache Glück, das ganz ohne Reue genossen werden durfte, während sie –! Würde das Mal, das die frevelhaften Küsse ihrer Seele eingebrannt, je ganz vernarben? Zumal – da sie sich in ihrem geheimsten Gewissen nicht davon freisprechen durfte, daß die Umarmung des so toll Verliebten neben aller sittlichen Empörung noch ein anderes Gefühl in ihr geweckt hatte, an das sie nicht zurückdenken konnte, ohne in tiefster Beschämung und Zerknirschung zu vergehen. Wie sollte sie je wieder ihrem treuherzigen Verlobten gegenüber die Augen aufschlagen, nachdem sie in den Armen eines Andern, nur in einer flüchtigen Anwandlung freilich, neben dem tiefsten Abscheu eine verführerische Süße gefühlt hatte.
In solcher kläglichen Verfassung fuhr sie die weite Rundbahn entlang und hätte Nichts dagegen gehabt, wenn es noch stundenlang so fortgedauert hätte.
Endlich aber war das Ziel erreicht. Was sollte der Schaffner denken, wenn sie das Billet noch einmal erneuerte!
Also stieg sie aus und wandte sich der Brücke zu, um dann in die Straße am Quai einzubiegen. Sie wußte, daß um diese Zeit die Tante noch in der Kirche zu sein pflegte. So hatte sie noch eine kleine Frist zu überlegen, ob sie ihr Abenteuer für sich behalten oder der alten Dame beichten sollte. Doch im Grunde, warum sollte sie sich selbst eine Beschämung zuziehen und vielleicht eine schärfere Vormundschaft für die Zukunft? Das Bild konnte sie ja abholen lassen und einfach gestehen, sie habe es bei Herrn Ansorg für ihren Bräutigam bestellt. Daß der wahnsinnige Mensch ihnen wieder in den Weg laufen würde, war doch nicht zu befürchten.
So erreichte sie leidlich beruhigten Gemüths ihre Wohnung und zog die Klingel. Auch hörte sie drinnen die Küchenthür gehen und einen leichten huschenden Schritt im Vorplatz, gleich darauf aber einen andern, kräftigeren und dann die Thür der Küche wieder sich schließen. Noch ein kurzer Augenblick, dann wurde der Riegel zurückgeschoben, und vor ihr stand die hohe, breitschulterige Gestalt ihres Verlobten.
Zu wem wünschen Sie, mein Fräulein? rief er mit lustigem Gesicht, aber die ganze Breite der Thür versperrend. Etwa zu Fräulein Toni Vetterlein, genannt Linda Leonhard, berühmte Schriftstellerin? Bedaure, sie ist nur selten zu Hause, treibt sich pflichtmäßig in allerlei verdächtiger Gesellschaft herum, um Lebensstudien zu machen, vernachlässigt darüber ihre alten Freunde, schreibt kurze, schnöde Zettel statt hübscher, langer Briefe, und kurz und gut – aber Himmelherrgott, Toni, was ist dir? Du bist ja blaß wie die Wand – du kannst dich ja kaum aufrecht halten – wo kommst du her? Was ist dir begegnet?
Er hatte, sobald er ihr tödtliches Erschrecken bemerkte, sie umfaßt und in zärtlicher Bestürzung über die Schwelle gezogen. Drinnen im Zimmer ließ er sie auf das Sofa nieder und stand vor ihr, sie rathlos anstarrend, während sie alle Kraft aufbot, sich zu fassen, und immer nur wiederholte: Es ist Nichts gewiß, Max, es ist Nichts – o, mein Gott! glaube nur – mir ist –
Höre, Kind, sagte er jetzt, da er sah, wie sie seinem Blick auswich und das Taschentuch vor den Mund drückte, ich bin sonst geneigt, dir blindlings aufs Wort zu glauben. Aber daß diese deine Erschütterung nur von der freudigen Ueberraschung herrühren soll, meine edle Physiognomie unvermuthet wiederzusehen, das wirst du einem alten, im strafrichterlichen Verhörsdienst hartgesottenen Juristen nicht weismachen wollen. Also habe die Güte, Tonerl, mir reinen Wein einzuschenken, warum mein Anblick dir wie ein Gespenst das Haar gesträubt und die Kniee schlottern gemacht hat, obwohl ich dir, als wir uns vor vierzehn Tagen trennten, angekündigt habe, du müßtest auf einen Ueberfall gefaßt sein, wenn ich's ohne dich nicht länger aushalten könnte.
Er sagte das in einem zwar ernsten, aber liebevollen Ton, der sie rasch wieder zur Besinnung brachte. Also richtete sie sich auf, fuhr sich über das Haar, das er in seiner stürmischen Umarmung zerzaus't hatte, und sagte: Ja, Max, du sollst Alles wissen. Ich hätte es dir ohnehin geschrieben, heute noch, wenn du nicht gekommen wärst, denn ich darf keine Geheimnisse vor dir haben. Auch mußt du erfahren, welch einen Makel ich durch mein unbedachtes Betragen auf mich gebracht habe, und ob ein so thörichtes Geschöpf deiner Liebe und Achtung noch werth ist. Setz dich dorthin, aber schau mich nicht an. Ich schäme mich gar zu sehr.
Er blieb aber vor ihr stehen und sagte kein Wort, während sie nun zu erzählen anfing, Alles haarklein von ihrer ersten Bekanntschaft mit Herrn Tino Ansorg bis zu der Schlußscene im Atelier. Sie hatte dabei die Augen in ihren Schooß gesenkt und sah mit den glühenden Wangen und dem blassen zitternden Mündchen unglaublich reizend aus, was auch dem Herrn Landrichter nicht zu entgehen schien. Wenigstens leuchtete zwischen dem strafrichterlichen Ernst, mit dem er zuhörte, hin und wieder auch ein verstohlenes Lächeln auf, das er aber sogleich wieder unterdrückte.
Nun weißt du Alles, sagte sie endlich mit der Demuth einer großen Sünderin, die sich der härtesten Bestrafung versieht. Daß ich nicht ganz so schuldig bin, wie es den Anschein hat, kann dir ein Gedicht beweisen, das ich ihm zum Abschied habe geben wollen. Hier ist es. Aber ich hätte schon viel früher – denn freilich habe ich ja sehen müssen, daß er sich sehr für mich interessierte – ich ließ aber Alles so gehen, weil es mir neu und anregend war – und ich dachte auch nicht – er hatte sich so bescheiden betragen, o Gott, er muß krank gewesen sein, als er sich das herausnahm, gewiß Max, es war ein Anfall von plötzlicher Geistesverwirrung, du mußt es milder beurtheilen, ich beschwöre dich, Max –
Das Urtheil überlaß mir! hörte sie ihn jetzt sagen. Jedenfalls erfordert es die Gerechtigkeit, daß ich auch ihn vernehme, ehe ich ihm seine Strafe dictiere. Wo wohnt dieser saubere Herr Tino Ansorg?
Max! Um Gotteswillen, du wirst doch nicht –
Ich werde allerdings, und zwar auf der Stelle. Willst du nicht so gut sein, mir die Wohnung zu sagen, so werde ich sie in irgend einem Adreßkalender aufsuchen müssen. Vorläufig also – adieu!
Max! Wenn du mich nur noch ein bischen lieb hast – o Gott, was hab' ich angerichtet! Nein, so hart kannst du mich nicht büßen lassen! Wenn die Tante nur da wäre, die könnte mir bestätigen –
Sie war aufgesprungen, hatte seinen Arm umfaßt und sich mit vorbrechenden Thränen an ihn geschmiegt. Er drängte sie sanft, aber entschieden zurück.
Du wirst mir erlauben, Kind, zu thun, was ich für recht halte. Ich habe dir die Freiheit des Handelns nicht beschränkt, das beanspruche ich nun auch für mich. Uebrigens denke ich kurzen Proceß zu machen und bald wieder hier zu sein. Rege dich nicht überflüssig aus. Hast du für dein Studium des Lebens Lehrgeld zahlen müssen, so hat auch er seine Lection verdient, darin wirst du mich nicht irre machen. Grüß einstweilen die Tante.
Er schritt, ihr finster zunickend, aus der Thür, und sie hörte, wie er im Vorplatz seinen Hut vom Haken nahm und den Stock ergriff, den er auf der Straße stets zu tragen pflegte. Das machte das Maß ihres Entsetzens voll. Sie sah ihn im Geist das Atelier betreten, hörte seine scharfe, gebieterische Stimme, den aufgeregten Tenor des Malers, sah den Stock sich erheben und mit dem Malstock sich kreuzen – ein Schwindel befiel sie bei dieser Vision, und sie sank halb bewußtlos auf das Sofa zurück, wo zum Glück bald darauf die heimkehrende Tante sie traf, die sich erschrocken um das völlig entgeisterte Kind bemühte.
Sie redete ihr so liebevoll zu, daß das gequälte Herz sich erst in einem Strom von Thränen, dann in einem ausführlichen Bericht über die Ereignisse der letzten Stunden erleichterte.
Du wirst sehen, Tante, schloß sie in verzweifelter Fassungslosigkeit, sie gerathen so heftig an einander, daß es zu einer tödtlichen Beleidigung kommt, sie werden sich schießen, Max, der kurzsichtig ist, wird fallen, und ich – o Gott, ich – sein Blut wird über mir sein mein ganzes Leben lang – ich werde es nicht lange mehr ertragen – der blutige Schatten meines armen Max – horch! was war das? Ein Wagen hält am Haus – wenn er es wäre, wenn man ihn todt oder doch verwundet zu uns brächte –
Aber du dummes Kind! sagte die Tante. Vor dreiviertel Stunden erst ist er fortgegangen – wie kann so im Handumdrehen ein Duell ausgefochten werden – und da steigt er auch frisch und gesund aus der Droschke – was trägt er denn unterm Arm? Er ist schon ins Haus hinein – nun, wir werden ja sehen. Aber trockne dir doch die Augen, Narrerl, du schaust ja aus wie eine büßende Magdalene, und Alles von wegen den paar dummen Busserln, für die du nicht einmal was gekonnt hast.
Sie ging selbst, dem Herrn Neffen, wie sie den Bräutigam nannte, die Thür zu öffnen. Gleich daraus führte sie ihn im Triumph in das Wohnzimmer, wo die Braut mitten im Zimmer stand, mit zweifelnd weit aufgerissenen Augen ihm entgegenblickend.
Da bin ich wieder! rief er, mit herzhaftem Lachen ihr zunickend. Die Tante hat mir gesagt, daß du schon drauf und dran warst, eine Seelenmesse für mich zu bestellen. Aber Gott sei Dank, es ist unblutig abgelaufen bis auf einen kleinen Aderlaß meines Geldbeutels. Höre Kind, du hast deine platonischen Gefühle, die ich aus den schönen Versen kennen gelernt habe, an einen curiosen Kauz gehängt. Denke dir, als ich bei ihm eintrete, wie finde ich diesen Ritter Toggenburg, dem du nur Schwesterliebe widmen konntest und der darüber aus der Haut zu fahren drohte? Ganz gemüthlich spaziert er in seinem Atelier auf und ab, eine Cigarre rauchend und aus einem Glase, das er in der Hand hält, einen röthlichgelben süßen Wein nippend – Moscat von Samos las ich auf der Etikette der Flasche. Zwei Teller mit Kuchen und Erdbeeren, die neben ihm standen, hatte er bis auf einen kleinen Rest geleert, und die Flasche war auch nur noch halb voll. Ich bedauerte, ihn in seinem Frühstück zu stören, er aber, nachdem er erst arglos gefragt hatte, was mir zu Diensten stehe, schien mich zu erkennen – vielleicht hast du mich ihm so genau beschrieben –, wurde etwas verwirrt, und als ich vollends meinen Namen nannte und mich als den Bräutigam der jungen Dame vorstellte, deren Porträt da auf der Staffelei stand, sah ich das helle Entsetzen auf seinem sonst ganz netten Gesicht, die Cigarre ging ihm aus, und er fragte mit beklommener Stimme, ob ich das Bild ähnlich fände. Ausgezeichnet, sagte ich und log dabei nicht; denn es ist wirklich ein ganz famoses Bild, du weißt, ich bin ein bischen Kenner, mein seliger Papa war ja ein Bildernarr, so daß ich dir zugestehen muß: wenn es einmal ein Maler sein sollte, mit dem du einen kleinen Roman spielen wolltest, hättest du weit schlimmer ankommen können. Wenigstens was das Talent betrifft. Die übrigen menschlichen Qualitäten – hm! Ich will dir deinen Seelenfreund nicht schlecht machen, aber daß er nicht der schneidigste Held ist, hat er mir gegenüber bewiesen. Denn beständig schielte er nach meinem Stock, nachdem ich ihm gesagt hatte, ich sei eben in die Stadt gekommen, dich zu besuchen, und da hättest du mir Alles erzählt – Alles, wiederholte ich und sah ihm dabei mit meiner richterlichen Amtsmiene ins Gesicht, daß der arme Sünder roth und blaß wurde und den Kopf wegwendete. Nun, er dauerte mich endlich. Ein Capitalverbrechen ist's denn doch nicht, ein reizendes junges Mädchen, in das man bis über die Ohren verschossen ist, beim Kopf zu nehmen und abzuküssen, zumal wenn besagtes Mädchen nicht einmal abwartet, daß der Fuchs sich in den Taubenschlag schleicht, sondern sich höchstselbst in seinen Bau begiebt. Also sagte ich: ja, ich sei gekommen, um mit ihm abzurechnen. Er werde wohl nicht gedacht haben, daß ich so Etwas auf mir sitzen lassen würde, zumal er mir ganz fremd sei. Unter guten Freunden ließe man sich Dergleichen noch gefallen und nehme es mit der Wiedervergeltung nicht so genau. Aber wir Zwei stünden einander anders gegenüber, und ich müsse daher bitten –
Du merkst, daß ich ihn mit diesen zweideutigen Reden ein bissel hatte auf die Folter spannen wollen, und ich sah, er war darauf gefaßt, entweder eine Forderung oder einen Schlag ins Gesicht zu erhalten. Und da muß ich ihm das Zeugniß geben, er bewahrte eine gewisse Haltung. Der süßfeurige Moscat von Samos mochte ihn hinlänglich gestärkt haben. Trotzdem fühlte er sichtbar eine Last von seinem Herzen fallen, als ich ihn nach all den drohenden Präambeln kurz und bündig fragte, was der Preis des Bildes sei, ich wünschte die Sache sogleich zu berichtigen.
Und auch da benahm er sich recht honorig und erklärte, er habe das Bild aus Gefälligkeit für das Fräulein gemalt und nicht an eine Bezahlung gedacht. Es stehe mir daher jeden Augenblick zur Verfügung. Holla! sagte ich, Sie vergessen, ich bin Ihr Freund nicht, und meine Braut ist auch nicht in der Lage, ein Geschenk von Ihnen anzunehmen. Besitzen aber muß ich das Bild, da ich als künftiger Eigenthümer des Originals das Recht habe, eine Copie mir zu verbitten, mit der allzu leicht Mißbrauch getrieben werden könnte. Ich müsse also darauf bestehen, daß er mir den Preis nenne, oder ich würde es von Sachverständigen schätzen lassen und meine Ansprüche gerichtlich geltend machen.
Da nannte er endlich eine Summe, die so lächerlich gering war, daß ich ihm erklärte, das Doppelte würde immer noch halb geschenkt sein. Doch wolle ich das Vergnügen, ein so schönes Gesicht zu malen, auch in Anschlag bringen, und hier – ich hatte zum Glück mein Checkbuch eingesteckt – morgenden Tages könne er das Geld erheben. Das Bild aber würde ich mir erlauben sofort mitzunehmen, wenn er die Güte hätte, mir vom Hausmeister eine Droschke besorgen zu lassen.
Dagegen wollte er erst Einspruch erheben, die Farben seien noch nicht ganz trocken, auch müsse das Bild gefirnißt werden. Ich gab mich aber als sachkundiger Kunstfreund zu erkennen, schüttelte ihm die Hand und bemächtigte mich meines Schatzes, worauf wir mit gegenseitiger Hochachtung von einander Abschied nahmen.
Ich hab' das Bild draußen im Flur einstweilen beiseite gestellt. Du wirst nicht gerade verlangen, Kind, es wieder zu sehen. Mir aber soll's in meinem einsamen Junggesellenleben Gesellschaft leisten, bis ich das Original endlich in Besitz nehmen darf. Ich hoffe, es soll nicht gar zu lange dauern. Aber davon reden wir später. Vorläufig hab' ich nur die eine Sehnsucht, daß meine verehrte Frau Tante mir möglich bald Etwas zu essen geben möchte. Denn ich habe einen Wolfshunger, und dieser Kunstmaler war so wenig dankbar für meine hochherzige Behandlung, daß er mir nicht den kleinsten Kuchen oder auch nur ein Gläschen von seinem süßen Wein angeboten hat.
*
Die nächsten Stunden vergingen in jener gedämpften, leise nachzitternden, aber vorwiegend heiteren Stimmung, deren nach einem Gewitter, das sich unschädlich in einem erquickenden Regenguß entladen hat, Himmel und Erde sich zu erfreuen pflegen.
Der Landrichter war gegen die alte Dame die ritterliche Aufmerksamkeit in Person, gegen seine Braut voll zarter Rücksicht auf ihr noch immer verwundetes Gemüth, wobei er sie jedoch durch die alte schlichte Derbheit seines Tones darüber zu beruhigen suchte, daß Nichts zwischen ihnen geändert sei. Er hatte allerlei scherzhafte Anekdoten von seiner Praxis und der kleinstädtischen Gesellschaft mitgebracht und trug sie so ergötzlich vor, daß auch das leidmüthige Gesicht der jungen Muse sich endlich aufheiterte und sie in das Lachen der Tante mit einstimmte, die im Grunde eine humoristische Natur war und nur durch das eingeengte Leben etwas von ihrer natürlichen Frische eingebüßt hatte. Um so dankbarer war sie für jede Gelegenheit, wieder einmal der alltäglichen Langenweile überhoben zu werden, und hatte den Bräutigam ihrer Nichte von Anfang an ins Herz geschlossen, da sie an dem Mädchen selbst die literarisch anempfundene Feierlichkeit und den höheren Stil ihres Sinnens und Denkens nicht gerade erfreulich fand.
Sie wollte daher auch Nichts davon wissen, daß der Bräutigam schon am Abend wieder abreis'te. Wenigstens bis morgen früh solle er noch bleiben, sie könne ihm ein ganz leidliches Nachtlager im Wohnzimmer anbieten. Leider aber nöthigte ihn ein Termin, am nächsten Morgen schon um acht Uhr im Bureau zu sein, und ein Frühzug, der ihn rechtzeitig dort abgeliefert hätte, stand im Fahrplan nicht verzeichnet.
Als sie daher zu Dreien nach Tische einen Spaziergang über den Gasteig gemacht hatten, die Tante in der Mitte der beiden Verlobten, die nur selten einander anredeten und überhaupt der alten Dame die Führung des Gesprächs überließen, kehrten sie in etwas kleinlauter Stimmung in die Wohnung zurück, da die Trennung nahe bevorstand. Um sechs Uhr mußte der Herr Landrichter aufbrechen, wenn er den Abendzug in sein drei Stunden entferntes Heim nicht verfehlen wollte. Die Frau Kanzleiräthin bestand darauf, ihm erst noch einen Imbiß vorzusetzen, daß er nicht ausgehungert nach Hause käme. Er erklärte zwar, sie habe ihn zu Mittag so reichlich gefüttert, daß er noch auf etliche Stunden satt sei. Sie ließ aber nicht nach, bis er ein paar Bissen von der kalten Küche genoß und ein Glas Wein dazu trank, dazwischen immer nach der alten Standuhr schielend, deren Zeiger langsam auf die sechste Stunde losrückte.
Die Braut hatte sich, während er sich noch stärkte, vom Tisch erhoben, wo sie Nichts angerührt hatte, und war hinausgegangen. Jetzt stand auch die Tante auf und sagte, es werde nun doch bald Zeit sein, sie wolle nach dem Tonerl schauen, die sich gewiß fertig mache, ihrem Max noch bis zum Bahnhof das Geleit zu geben.
Nun erhob sich auch der Bräutigam, und sobald er sich allein sah, schwand von seinem offenen, männlich schönen Gesicht die Heiterkeit, die er im Geplauder mit den Frauen geflissentlich zu bewahren gesucht hatte. Er war offenbar froh, einmal recht von Herzen aufseufzen zu dürfen, trat ans Fenster und blickte in sorgenvollen Gedanken auf den Fluß und die breite, menschenbelebte Straße am Geländer hinab. Er hatte Anderes von diesem Besuch bei der Liebsten gehofft, und nun sollte er sie wieder verlassen, zwar um eine Erfahrung reicher, doch immerhin neuen Abenteuern ausgesetzt, die sie vielleicht mit theurerem Lehrgeld zu bezahlen haben würde.
Da er aber seinem Grundsatz gemäß ihren Willen auch jetzt nicht zu beschränken entschlossen war, mußte er wohl oder übel den Dingen ihren Lauf lassen, und nahm sich nur vor, ein wenig fleißiger nachzuschauen, ob er nicht etwa wieder als Ritter Sanct Georg hier erwünscht sein möchte, die gefährdete Unschuld von irgend einem Ungeheuer in Sammetrock oder Literatenjoppe zu erlösen.
Indem hörte er die Thür gehen und wandte sich, einen neuen Seufzer unterdrückend, vom Fenster weg, da sah er sein Mädchen vor sich stehen, zum Ausgehen gerüstet, die Augen in lieblicher Verwirrung niedergeschlagen, regungslos, wie seines Befehles harrend.
Bist du fertig, Schatz? fragte er. Nun, es wird auch wohl Zeit sein. Die Tante lassen wir wohl zu Hause, sie fährt nicht gern mit der Trambahn. Aber was tausend, du siehst ja selbst ganz reisefertig aus! Wohin willst du denn mit der stattlichen Handtasche?
Ich wollte dich fragen, erwiderte sie stockend, ohne ihn anzusehen, ob es dir unlieb wäre, wenn ich dich bäte, mich mit nach Hause zu nehmen. Ich weiß zwar nicht, wie du jetzt zu mir gesinnt bist – ob du mir meinen Leichtsinn auch völlig verziehen hast – ich könnte dir's nicht verdenken, wenn du mich nicht mehr so lieb hättest wie früher – obgleich – es würde mich so unglücklich machen – ich könnte nie mehr –
Die Stimme versagte ihr, ihre Augen quollen über, sie barg das Gesicht in beide Hände, denen das Täschchen entglitten war.
Im nächsten Augenblick fühlte sie ihren Kopf an seine breite Brust gedrückt und seine Hände heftig zitternd an ihrem Haar, daß das Hütchen schonungslos zerknüllt wurde.
Tonerl, Kind, liebste Thörin, was redst du für unsinniges Zeug! rief er. Und da in diesem Moment die Tante eintrat: Was sagen Sie, Frau Tante? Sie will fort von Ihnen! Mein kleiner Student hat aus der Hochschule des Lebens schon genug bekommen von der gefährlichen Wissenschaft, jetzt soll ich ihn in die Ferien mitnehmen, und er fragt, ob ich's auch gern thäte! Aber mit tausend Freuden, Kind, und ich verspreche dir, ich will dich auch nicht examinieren, wie weit du's etwa sonst noch hier gebracht hast, das werden mir deine schriftlichen Arbeiten später noch hinlänglich zeigen. O Tonerl, ich habe dich immer für ein sehr kluges Frauenzimmer gehalten, aber diesen gescheidten Einfall hab' ich dir doch nicht zugetraut.
Sie machte sich sanft von ihm los. Du bist viel zu gut, Max, sagte sie, ihre Thränen trocknend, ich verdien' dich gar nicht. Aber mit der Schriftstellerei lass' ich mich nicht mehr ein, das magst du glauben. Ich habe noch viel, viel zu lernen, was zum Leben gehört; dazu aber will ich in deine Schule gehen. Und nun komm, wir müssen fort. Die Tante ist so gut und schickt mir meinen Koffer nach, und ich danke ihr auch noch tausendmal, daß sie mit mir dummem Ding so viel Geduld gehabt hat.
Sie lief zu der Alten hin und küßte sie herzlich. Dann sah sie ihren Bräutigam an, zum erstenmal wieder mit einem Aufleuchten ihrer schalkhaften Zärtlichkeit. Max, sagte sie ganz schüchtern, weißt du, daß du mich heut den ganzen Tag noch nicht ein einzigmal geküßt hast? Thu's, bitte, ehe wir gehen! Ich glaube sonst nicht, daß du wieder der Alte bist – und ich – ich habe mir das Gesicht schon dreimal wieder gewaschen, außer mit meinen Thränen! – –
Es. ist wohl anzunehmen, daß der großmüthige Mann sich nicht lange bitten ließ, einen so billigen Wunsch zu erfüllen.
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Buchdruckerei von Gustav Schade (Otto Francke) in Berlin N.
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