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(1896.)
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Der Geistliche hatte über die Trauergemeinde, die das offene Grab umstand, den Segen gesprochen, dann drei Schaufeln Erde auf die Kränze geworfen, die den Sarg in der schmalen Tiefe völlig zudeckten. Nach einmal faltete er die Hände zu einem stummen letzten Gebet, dann trat er an den hochgewachsenen jungen Mann am Fußende des Grabes heran, ihm den kleinen Spaten zu reichen, damit auch er die letzte Liebespflicht gegen die dort unten Ruhende vollzöge. Der Trauernde aber, der mit trockenen Augen in die Blumen hinabstarrte – auch während der Grabrede, die von leisem Schluchzen aus dem Kreise der Frauen begleitet worden war, hatte er thränenlos wie geistesabwesend vor sich hin geblickt – auf einmal jetzt, als er die milden Trostesworte des alten Mannes dicht an seinem Ohr vernahm, schien es die stattliche dunkle Gestalt wie ein elektrischer Schlag zu durchfahren. Durch das todtenfahle, regelmäßige Gesicht zuckte ein Krampf, der die noch eben wie erstarrten Züge verzerrte und bis in die Spitzen des blonden militärischen Schnurrbarts zitterte. Die schwarzbehandschuhten Hände, die über den umflorten Hut gefaltet waren, lös'ten sich, als ob sie nach dem Spaten greifen wollten, der Hut rollte zu Boden, und im nächsten Augenblick brachen die Kniee kraftlos zusammen, so daß der völlig Fassungslose in den hochaufgeschütteten Erdhaufen am Rande der Grube niedersank und unfehlbar in das Grab gestürzt wäre, hätten nicht der Geistliche und ein paar rasch hinzuspringende Männer den Unglücklichen noch zur rechten Zeit ergriffen und aus Staub und Geröll wieder aufgerichtet.
Nun stand er, wie wenn die Erschütterung ihn aus einem furchtbaren Traum geweckt hätte, ein paar Augenblicke regungslos, ergriff mechanisch den Hut, den ein Knabe ihm hinreichte, vergaß aber den Spaten zu brauchen und sah nun wieder, jetzt aber mit überströmenden Augen, auf die Kränze hinab. Dann winkte er dreimal einen stillen Gruß der drunten Schlummernden zu und wandte sich, ohne sich von dem Geistlichen anders als mit einem kurzen Kopfnicken zu verabschieden, von der Gruft hinweg, langsam, das Taschentuch vor den Mund gedrückt, wie ein Schlafwandler die Gasse durchschreitend, die sich vor ihm öffnete. Niemand, auch der alte Prediger nicht, gab ihm das Geleit. Alle empfanden die Majestät des Grams, die den vom Schicksal Geschlagenen von allen Glücklicheren abscheidet.
Ein Diener in Livree stand mit abgezogenem Hut an der offenen Friedhofspforte, ein Landauer wartete draußen auf der Dorfgasse. Der Trauernde stieg mit wankenden Knieen ein und rief dem Kutscher ein Wort zu, worauf der Wagen rasch von dannen rollte, die Landstraße hinan, die in die Berge führte.
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Die Zurückbleibenden hatten in tiefer Bewegung ihm nachgeblickt. War doch auch das Schicksal, das den in voller Lebenskraft blühenden jungen Fremden getroffen hatte, grausam genug, um selbst die derben Gemüter der dörflichen Bevölkerung zu rühren, obgleich der Geistliche, der ihnen den kurzen Lebenslauf der Entschlafenen erzählte, nicht von ihrer Confession, sondern ein lutherischer war, ein norddeutscher Pfarrer, der in diesem Luftkurort in den Vorbergen Heilung für ein Nervenleiden gesucht hatte. Er hatte die schöne junge Frau sehr verehrt, als ein rechtes Musterbild aller weiblichen und christlichen Tugenden, und war glücklich gewesen, die Schwermuth, die sie anfangs umschleierte, nach und nach, zum Theil durch seinen liebevollen Zuspruch, sich aufhellen zu sehen. Durch den Tod eines Kindes, das sie nach kurzem Besitz verloren, dann eine schwere Krankheit, die sie infolge dieses Unglücks befallen hatte, war ihre zarte Kraft erschüttert worden, so daß die Aerzte darauf gedrungen hatten, einen ganzen Sommer lang müsse sie, ihren gewohnten Umgebungen auf dem Rittergut der Eltern entrückt, in kräftiger Bergluft nur ihrer Genesung leben. Sie war auch sichtlich aufgeblüht. Sogar das Lachen, das in ihrer jungen Seele lange völlig wie verschüttet gewesen war, hatte sich schüchtern wieder hervorgewagt. Von den Spaziergängen über die Waldhöhen, die sich immer weiter ausdehnten, kehrte sie mit lieblich gerötheten Wangen zurück und schlief wieder wie in den guten vergangenen Tagen. Ja sie fing sogar an, wieder an ein Glück zu glauben, das ihr noch in diesem Leben beschieden sein könnte, und wie rührend dankbar blickte sie zu Dem auf, der während ihrer Leidenszeit mit so zarter Sorge jede Stunde des Tages und der Nacht nur um sie bemüht gewesen war. Es war auch ein herzerfreuender Anblick gewesen, dieses junge, wie für einander geschaffene Paar, das durch die schwere Prüfung nur um so inniger sich verbunden fühlte; er, ein schöner, ernster, ritterlicher Mann, ein vollendeter Cavalier, und die blonde, sylphenhafte Frau, deren Kinderseele so früh zur Erkenntniß des Einen, was noth thut, herangereift war, und die nun zum Trost für das, was ihr entrissen worden, allen Mühseligen und Beladenen, die ihr begegneten, so viel sie konnte, wohlzuthun sich bemühte.
Und dies so reich begabte, so Viele beglückende junge Leben nun plötzlich in die Nacht versunken!
Von einer ersten Wanderung zu den steileren Felshöhen hinaus hatte der junge Ehemann seine kleine Frau in einem kläglichen Zustand, sie auf seinen Armen tragend, in das Hôtel zurückgebracht. Um eine besonders schöne Genziane zu pflücken, war sie bis an den Rand einer vorspringenden Klippe hinangeklettert, und da das glatte, schlüpfrige Erdreich unter ihrem Fuß einsank, einige Klafter tief hinabgestürzt. Wunderbarer Weise war kein Glied gebrochen oder nur verstaucht. Aber heftige Schmerzen verriethen, daß ein inneres Organ verletzt worden war. Der Arzt, in Eile aus der Stadt herbeigerufen, konnte nichts Anderes thun, als Linderungsmittel verordnen. Nach drei schweren Wochen, die sie klaglos mit der Standhaftigkeit einer Heiligen überstanden, war sie sanft entschlafen.
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Diese bewegliche Geschichte hatte der würdige alte Herr noch einmal, obwohl sie allen Zuhörern bekannt war, in schlichten Worten erzählt, und gerade weil er die Betrachtungen über den Unbestand alles irdischen Glücks nicht im landläufigen Pastoralton vortrug, die tiefste Rührung hervorgerufen, so daß, wie es in einem romantisch ausgeschmückten Bericht einer großen Zeitung der Hauptstadt hieß, kein Auge trocken blieb.
Nachdem der Wittwer das Grab verlassen, drängten sich auch Andere herzu, ein paar Schaufeln Erde in die Grube zu werfen. Nicht bloß aus der kleinen Fremdenkolonie, die fast vollzählig sich eingefunden hatte, sondern auch von den einheimischen Weibern, die dabei das Kreuz schlugen und ein paar stille Vaterunser beteten, in der Hoffnung, es werde der armen Seele zu gute kommen, die ja leider ohne den Segen der Sterbesacramente diese Welt verlassen hatte.
Wollen wir nicht auch hingehen, Jella? fragte eine zarte junge Frau, die bei der Grabrede ganz in Thränen zerflossen war, ihre Begleiterin.
Diese, eine große, etwas zur Fülle neigende Gestalt, die mit über der Brust gekreuzten Armen ohne jedes Zeichen des Antheils an dem Trauerakt dagestanden hatte, regte sich jetzt, wie wenn sie Etwas abzuschütteln hätte. Mit leichtem Achselzucken und einem kühlen Rümpfen der rothen, vollen Lippe sagte sie:
Thu nach deinem Herzen, Hetty. Ich spiele die Komödie nicht weiter mit.
Damit wandte sie sich ab, zog das venetianische Spitzentüchlein, das sie über das schwarze Haar geknüpft hatte, fester und schritt, den hellen Sonnenschirm öffnend, über die Grabhügel weg hinter dem Volkshaufen der Gitterpforte zu.
Die Jüngere, die ihre drei Schaufeln Erde der Todten nicht hatte versagen wollen, erreichte die Freundin erst, als sie den Friedhof verlassen hatte. Da es auch ihr unpassend schien, in einem mit Blumen aufgesteckten Sommerhut der Beerdigung beizuwohnen, hatte sie einen schwarzen Schleier über das runde, rosige Haupt geworfen, und aus dem Helldunkel, das ein schwarzes Schirmchen über ihr Gesicht ergoß, leuchteten die blauen Augen noch im feuchten Schimmer der Rührung hervor.
O Jella, rief sie jetzt, sich in den Arm der Freundin einhängend, es ist zu jammervoll! Ich begreife dich nicht, daß du so ungerührt dabeistehen konntest. Und du hast sie doch noch gekannt, sogar vor ihrem Unfall, während ich ja erst vor drei Tagen angekommen bin, als es schon mit ihr zu Ende ging. Wie kannst du nun so gleichgültig sein und sogar von einer Komödie sprechen?
Laß uns dort an den Häusern vorbeigehen, sagte die Andere; da kommen wir ins Freie. Ich führe dich einen schönen einsamen Weg am Wasser entlang, denn die Sonne meint es schon so früh am Tage allzu gut, und in dem Gedränge war's unausstehlich schwül.
Sie gingen eine Weile schweigend miteinander hin. Dann bogen sie in einen Wiesenpfad ein, der zu den Weiden am Flüßchen führte, wo die Sägemühle stand. Die Luft war ganz wolkenlos. Von den stahlgrauen kahlen Schroffen der Berge schien die Glut der Hochsommersonne in breiten Strömen herabzufließen und im Thalkessel, wie Bäche in einem Bergsee, zusammenzurinnen. Aber unter den Weiden, die jeder Windung der schäumenden Ache folgten, wehte eine frische, krystallene Luft. Dazu war es einsam hier, die Häuser des Dorfes und die drei oder vier Pensionsgebäude für die Sommergäste wurden durch die Kastanien- und Lindenschatten verdeckt, und jenseits auf der frischgemähten Wiesenflur lagen die grauen Heuschober wie Hütten eines ausgestorbenen Zwergenvolks, während schon hie und da einzelne Krähen die Sonnwendzeit ankündigten.
Eine Bank stand an der Schattenseite des Weges, da hielt die junge Frau an und ließ sich mit einem leichten Seufzer auf den Sitz niedersinken. Ich bin so erschöpft! Du mußt nur bedenken, Jella, daß ich ja zu meiner Erholung hier bin, und nun diese Erregung auf dem Gottesacker – laß mich nur fünf Minuten ausruhen!
Meinethalb eine Stunde, Kind. Wir haben ja Nichts zu versäumen.
Sie setzte sich nun auch, faltete den Sonnenschirm zusammen und zeichnete mit der Spitze Runen in den Kiesgrund.
So schwiegen sie eine Weile und hörten dem Rauschen des raschen Wassers zu.
Dann sagte Hetty plötzlich:
Wie mag dem Aermsten jetzt zu Muthe sein? Was mag er denken?
Vielleicht, daß die Straße sehr holprig ist, daß er lieber seinen hellen Sommeranzug trüge, als die heiße Traueruniform, vielleicht, daß er nun die Wahl habe zwischen Comtesse X und Baronesse Trois Etoiles, vielleicht denkt er auch an Nichts und schläft endlich darüber ein.
Wie kannst du nur so schlecht von einem Menschen denken, der dir, so viel ich weiß, Nichts zu Leide gethan und den ein so großer Schmerz getroffen hat! War sie etwa nicht so schön und liebenswürdig, wie Alle sagen, so daß der Verlust ihm nicht so ans Leben gehen müßte?
Ob sie schön war? Du hast sie ja im Sarge gesehen, sie war wenig verändert, eher noch etwas geistiger als im Leben. Ich liebe diese Engelsgesichter à la Fiesole nicht, die noch, wenn sie in die Großmütterjahre kommen, mit ihrer holdseligen Dummlichkeit, ihrem naiven Augenausschlag kokettiren, während hinter der kindlichen Maske ein ganz reifes, oft überreifes Weib sein Wesen treibt und sich ins Fäustchen lacht, wenn die einfältigen Männer sich davon täuschen lassen. Auch diese Vielbeweinte und Gepriesene – ich hatte zu gute Augen, um an das bischen Larve zu glauben. Ich sah das kalte, hochmüthige, bornierte Herz, das aus den unschuldigen Kinderaugen vorschimmerte, und bin der Meinung, die Temperatur der Welt ist um keinen Hauch kühler geworden, seit diese Augen erloschen sind.
Die Andere sah die eifrig Sprechende scharf von der Seite an und sagte zögernd:
Gesteh es nur, Jella, es ist da etwas Persönliches mit im Spiel. Wie kämst du sonst zu einem so grausamen Urtheil über ein Wesen, das von aller Welt vergöttert worden ist? Nein, es fällt mir nicht ein, dir Neid auf sie zuzutrauen. Das hättest du wahrhaftig am wenigsten nöthig, eine so große Künstlerin, der es an Huldigungen aller Art nie gefehlt hat. Aber irgend ein anderer Grund – verzeih, ich bin vielleicht indiscret –
Nicht im mindesten. Warum sollen wir nicht davon sprechen? Allerdings, die Antipathie war gegenseitig. Gleich am ersten Tag, als wir uns im Treppenflur begegneten, – vor sechs Wochen war's, sie waren am Abend vorher angekommen – man hatte schon von ihnen gesprochen, als von einem glänzenden, sehr reichen jungen Paar, und ihn kannte ich ja auch ein wenig aus seiner flotten Junggesellenzeit im Garderegiment, wo er zu meinem Hofstaat, meiner »Menagerie« gehörte, – nun, ich freute mich darauf, ihn als soliden, glücklichen jungen Ehemann wiederzusehen. Aber als ich aus meiner Thüre trat, da er eben, seine Frau am Arm, auf dem Corridor an mir vorbeiging, sah ich an seinem steifen, fremden Gruß, daß er mich nicht kennen wollte, mich auf dem Fuß einer ganz fremden Hausgenossenschaft zu behandeln wünschte. Und sie, die hochmüthige kleine Gans von einer Rittergutsbesitzerin – sie hatte trotz ihrer holdseligen Manieren die Stirn, mich zu »schneiden«, als ob ich nichts Anderes wäre, als ein Kleid, das zum Ausbürsten vor die Thür gehängt sei. Ich bemerkte, daß er roth wurde und ihr ein Wort zuflüsterte. Sie verzog nur ein wenig das Rosenmündchen und schwebte an mir vorbei.
Das ist allerdings stark. Aber was in aller Welt kann sie bewogen haben, da sie doch unmöglich schon aus den ersten Blick eine eifersüchtige Regung gegen dich empfand –
O nein, das nicht. Ganz einfach: der Abscheu eines »reinen Engels« gegen die Opernsängerin, die – um es gelinde auszudrücken – eine Vergangenheit hat!
Die kleine Frau wurde ein wenig roth. Sie faßte die Hand ihrer Nachbarin – eine nicht kleine, aber schlankfingrige, weiße Hand ohne Handschuh – und drückte sie leise.
Sprich doch nicht davon, Jella. Das liegt ja so weit hinter dir.
Ja wohl, ganze sieben Jahre. Aber es ist noch immer nicht »vergangen« genug, um nicht wieder einmal aufgewärmt und einer tugendstolzen jungen Gattin als ein pikantes abschreckendes Beispiel vorgehalten zu werden, so zwischen zwei legitimen Umarmungen. Zugleich ist es sehr brauchbar, um den Erzähler, der es mit der nöthigen sittlichen Ueberlegenheit vorträgt, als einen Mann von soliden Grundsätzen erscheinen zu lassen, der solche Verirrungen trotz der Mahnung des Erlösers, keinen Stein auf arme Sünderinnen zu werfen, streng verdammt. Ob sie wußte, daß auch ihr schöner Ehgemahl kein Heiliger gewesen war, eh' sie den Wildfang unter das eheliche Tugendjoch lockte? Daß der Papa seine Schulden bezahlte, mag ihr vielleicht nicht unbekannt geblieben sein. Das gehört ja aber zu dem aristokratischen Chic, und sie war sich der Reize ihres blonden Persönchens hinlänglich bewußt, um nicht entfernt daran zu denken, der feurige Bewerber könne es nur auf ihr Geld abgesehen haben. Es war auch gewiß nicht der Fall. Auch er ist ja auf dem Lande aufgewachsen, und in einer katzenjämmerlichen Stunde nach einer durchtollten Nacht hat ihn vielleicht ein Heimweh angewandelt nach den Tröstungen seines Kinderglaubens, den er im Hause dieser frommen hübschen Puppe wiederfand. Kann ich's ihm verdenken, daß er durch die Begegnung mit mir unheimlich daran erinnert wurde, daß auch er eine »Vergangenheit« hat, mit der freilich die Männer, zumal nach ihrer »Wiedergeburt«, sich leichtherzig abzufinden pflegen? Er wird ihr nicht gestanden haben, wie eifrig er bestrebt war, in sein Leporello-Register auch meinen Namen einzutragen. Nun, ich gestehe dir, daß die Versuchung für mich nicht groß war. Sogenannte schöne Männer sind mir die ungefährlichsten.
Und als die Freundin schweigend vor sich niedersah: Ich weiß, was du jetzt denkst. Auch Der, dem ich mein ganzes Schicksal, böses und gutes, verdanke, war ein schöner Mann, und daß er allgemein dafür galt, wurde mir als mildernder Umstand angerechnet. Aber eben das hat mir die Augen darüber geöffnet, daß so ein Adonis vom ganzen undankbaren, herzlosesten Geschlecht der Weitherzigste zu sein pflegt. So einer geht ganz auf im Cultus seiner eigenen Person und behandelt uns verliebte Thörinnen nur wie Priesterinnen, die schon belohnt genug sind, wenn sie dem Abgott opfern dürfen. Meiner war überdies ein Graf aus einem uralten Hause, und ich, die arme Tochter eines Kanzleibeamten, die Nichts hatte als ihr bischen unschuldige Jugend, ihre hübsche Stimme, ihr warmes Blut – o Hetty, glaubst du, die eben Begrabene, wenn sie mit siebzehn Jahren ihr Brod als Choristin an der Berliner Oper hätte verdienen müssen, sie wäre als der reine Engel vor den Altar getreten? Vielleicht, wenn sie damals ihren Aribert kennen gelernt hätte, wie ich meinen schönen Freund, hätte auch sie ihren Katechismus vergessen und sich blindlings dem Götzen zum Opfer gebracht. Ob sie dann aber nach dem schauerlichen Erwachen aus dem falschen Traum auch ins Wasser gesprungen wäre, da sie nicht begriffen hätte, daß man in dieser lügenhaften Welt noch athmen könne, ist sehr die Frage. Diese blonden Seelen, wenn sie vor dem Sündenfall fleißig in die Predigt gegangen sind, finden sogar eine Art Wollust in bußfertiger Zerknirschung, die mir immer unverständlich war. Ich bin freilich ein Halbblut; mein Vater war von der französischen Colonie. Nur den Leichtsinn hat er mir nicht vererbt, das verhütete meine germanische Mama. Und so war ich todunglücklich, daß man mich aus dem Wasser zog und wieder zu leben zwang.
Die Freundin schlang den Arm um die Taille der Sängerin und schmiegte sich zärtlich an ihre Schulter.
Warum lässest du diese traurigen alten Erlebnisse nicht ruhen? sagte sie leise. Es regt dich nur auf, und jetzt bist du über all das hinaus und glücklich und gefeiert in deiner Kunst, und auch dein Ruf ist so tadellos, daß kaum noch Jemand an die erste und einzige Verirrung deines Lebens denkt. Siehst du das nicht an der Verehrung, mit der dir auch hier alle unsere Hausgenossen entgegenkommen?
Die Sängerin zog die seinen Brauen zusammen und warf den Kopf zurück.
Es ist mir ungeheuer gleichgültig, sagte sie dumpf vor sich hin, was die Welt von mir lästern, rühmen oder lügen mag. Auch denke ich an das Vergangene mit größter Seelenruhe. Das Lehrgeld, das ich damals zahlen mußte, hat mir ja einen so großen Gewinn gebracht, nicht nur, daß mich die schmutzige Flut, aus der ich wieder auftauchte, gegen alle Illusionen gehärtet hat, wie das Drachenblut den hürnenen Siegfried: es war ja ein ungeahnter Erfolg des kalten Bades, daß ich plötzlich eine große schöne Stimme bekam. Ob das nur physiologische Gründe hatte, oder ob das Band meiner Seele gesprungen war, so daß nun ein Strom von Leidenschaft durch die Kehle flutete, der vorher gefesselt lag – wer kann es sagen! Und auch die Menschen hat mein Sprung von der Brücke mich kennen gelehrt. Daß du, mein Liebling, die einzige von all meinen Schulfreundinnen warst, die mich damals nicht verleugnete, wie sehr hab' ich dir's gedankt!
Sie neigte sich zu ihr hinab und küßte sie lebhaft auf Stirn und Schläfe.
O Jella, rief die Andere, über und über erglühend, wenn du nur wüßtest, wie ich immer zu dir hinaufgesehen habe! Ich bin ja nur ein ganz alltägliches Geschöpf, ohne allen Heldenmuth im Guten und Bösen, als allenfalls wenn es darauf ankäme, meinen süßen Jungen gegen irgend eine Gefahr zu vertheidigen, oder etwa meinen guten Mann einer verschmitzten Nebenbuhlerin abzujagen, was ich hoffentlich nie nöthig haben werde. In dir aber habe ich von früh an die vollblütige Seele bewundert, die ganz ohne Vorurtheile ihren Weg geht, und damals, als die Menschen so kleinlich über dich urtheilten, – nicht einen Augenblick bin ich daran irre geworden, daß du das thun mußtest, was du thatst. Und wie froh war ich jetzt, als ich nach der schweren Influenza gerade hieher geschickt wurde, wo ich wußte, daß ich dich finden würde! Und daß du ganz die Alte für mich bist – obwohl sich in sieben Jahren am Menschen jedes kleinste Theilchen seiner selbst verwandeln soll, wie dank' ich es dir! Und doch, es macht mich auch wieder traurig, daß du seit jener Zeit eine so dunkle Ansicht von den Menschen dir bewahrt hast, von den Männern meine ich, da ich doch selbst täglich Gott dafür danke, daß er mir einen so herrlichen Mann beschert hat.
Kind! sagte die Andere, ihr sanft die Wange streichelnd, weißt du nicht, daß Ausnahmen die Regel bestätigen? Weil es in Stargard einen Rechtsanwalt giebt, der seine liebenswürdige Frau auf Händen trägt, seinen Sohn musterhaft erzieht und nebenbei sogar ein sehr stattlicher hübscher Mann ist, der schon vor Geschäften seines Berufs keine Zeit hat, sich selbst anzubeten, soll ich meine Ansicht von dem sogenannten starken Geschlecht ändern? mir einbilden, daß Treue kein leerer Wahn sei? daß die eitlen Herren der Schöpfung nicht jeder leichtesten Versuchung erliegen, wenn ein kluges Weib es darauf anlegt? Als ob sie seit Adam's Apfelbiß sich irgend verändert hätten! Du kennst ohne Zweifel das Histörchen von der Matrone von Ephesus, das seit Jahrtausenden zur Verlästerung unseres Geschlechts in immer neuen Variationen weitererzählt wird. Nun, du magst nur glauben, daß mit weit besserem Recht ein Schandmärchen von dem untröstlichen Wittwer der Welt erzählt werden könnte, während unter zehntausend Frauen nicht zwei sich finden ließen, die wirklich so entmenscht wären, den Leichnam ihres Gatten von einem Liebhaber an den Galgen hängen zu lassen.
Frau Hetty schüttelte nachdenklich den Kopf. Du gehst viel zu weit, sagte sie. Von meinem Fritz nicht einmal zu reden; der würde vielleicht erst nach zehn, wenn's hoch kommt, nach acht Jahren so weit getröstet sein, daß er sich zu einer zweiten Ehe entschlösse – hauptsächlich der Kinder wegen. Aber auch der Baron, den du so geringschätzest – mein Gott, es ist ja undenkbar, daß er durch diesen plötzlichen harten Schlag nicht bis ins Tiefste erschüttert sein sollte. Mag er's früher nicht besser getrieben haben als die meisten seiner Kameraden – ganz ohne Einfluß auf seinen Charakter kann das Zusammenleben mit dieser Frau unmöglich geblieben sein. Auch wenn du sie richtig taxirt hättest – er sah sie doch mit anderen Augen an, ihm war sie wirklich ein engelhaftes Wesen, und wie wäre es möglich, daß er ihren Verlust nicht lange, lange Jahre als unersetzlich betrauern müßte!
Die Sängerin hatte sie reden lassen, ohne eine Miene zu verziehen. Nun bückte sie sich nach dem Rasen hinab, an dessen Rande die Bank stand, pflückte eine kleine Blume und hielt sie der Freundin hin.
Kennst du dies zarte Pflänzchen mit den lieblichen blauen Blütensternen? Wir haben, dächt' ich, in der Botanikstunde ihre Bekanntschaft gemacht.
Eine Veronica! Warte, ich weiß sogar noch den lateinischen Zunamen, Veronica chamaedris oder auch saxifraga.
Welche Musterschülerin! Nein, den lateinischen Namen hab' ich vergessen. Den deutschen weiß ich um so besser: Männertreu! Die holde Blume führt diesen edlen Namen mit Recht, denn sie ist eine Heuchlerin.
Wie so, Liebste?
Kann man etwas Hübscheres und Treuherzigeres sehen, als diese zierlichen Blüten, deren Farbe so echt zu sein scheint? Aber trage sie eine halbe Stunde in der Hand, so läßt sie all' ihre Blättchen hängen, und blase darauf, so fliegen die Blüten ab. Wenn der Erste, der ihr den Namen gab, ein Mann war, kannte er sein Geschlecht und war so ehrlich, es einzugestehen.
Du bist boshaft. Freilich, wenn man eine Pflanze von ihrer Wurzel trennt, von dem Boden, auf dem sie gewachsen ist! Aber eine Veronica vollends, die auf einem Grabhügel aufgeblüht ist –
Ja wohl, Treue bis übers Grab – von der alle Grabsteine reden. Und wie lange glaubst du, daß unser trostloser Baron, der am liebsten sich gleich hätte mit begraben lassen, an diesen Friedhof überhaupt noch denken wird, außer einmal im Jahr, wenn er Schanden halber am Todestag einen Kranz schicken muß – bis ihm auch das überflüssig scheint?
Du siehst die Todte immer mit deinen Augen. Er aber war gewiß in diesen »Engel« sterblich verliebt und hat ihn nur so kurz besessen!
Das war des Engels Glück. In drei, vier Wochenbetten wäre das bischen Himmelsfirnis vergangen, und schwerlich hätte die schöne Seele allein mit ihren Gesangbuchliedern und der holdseligen Einfalt vom Lande den verwöhnten Herrn Gemahl länger zu fesseln vermocht. Wie ich ihn kenne, dauert es keine vierzehn Tage, so trägt er den Flor nur noch am Hut und fängt einen kleinen Roman mit irgend einem Nachbarfräulein an.
Ich kann dich nicht so reden hören! rief die junge Frau und stand lebhaft auf. Es mag ja solche Männer geben, die keines dauernden heiligen Schmerzes fähig sind. Aber darum über alle den Stab zu brechen – über diesen, in dessen Zügen ein so unergründlich tiefer Gram, eine Verzweiflung an allem künftigen Glück eingegraben stand – keine wohlfeile Thräne, kein Seufzer, geradezu eine Versteinerung durch dies grausame Schicksal – und der sollte nach vierzehn Tagen – nein, Jella, einer so ungerechten Verbitterung hätte ich dich nicht fähig geglaubt!
Die Sängerin war ruhig sitzen geblieben.
Habe ich vierzehn Tage gesagt? warf sie hin. Drei Tage, dächt' ich, wären mehr als genug. Es ist hübsch von dir, daß du zu Ehren deines braven Rechtsanwalts für das ganze Männergeschlecht plaidirst. Der Himmel erhalte dir deine Illusionen, deren Verlust man mit einigem Herzblut bezahlt. Was aber deinen speciellen Clienten, unsern »versteinerten« Baron, betrifft, so möcht' ich wetten, daß es gelingen würde, binnen drei Tagen ihn aufzuthauen, so daß er in schmelzender Hingebung einem Weibe zu Füßen liegt.
Das Weib möcht' ich wohl sehen!
Da hättest du nicht weit. Du brauchtest nur mich anzusehen, meinetwegen mit dem Ausdruck sittlicher Entrüstung, der dich übrigens reizend kleidet. Daß mir persönlich irgend daran läge, eine Eroberung an diesem trauernden Wittwer zu machen, wirst du mir nicht zutrauen. Aber es hat mich verdrossen, daß du, wie die Andern, dir von seiner pathetischen Manier imponieren ließest. Wenn ich dir nun deinen Kinderglauben an die berühmte Männertreu zerstöre, will ich dir damit diesen Einzelnen nicht als ein besonders schlimmes Exemplar der Gattung vorführen. Aber du bist am Ende alt genug, die Welt nicht länger durch ein rosiges Glas zu betrachten. Deinem Ausnahmsmenschen, dem unverführbaren Gatten einer reizenden jungen Frau, wird die neue Erkenntniß desto mehr zu Gute kommen, wenn du dich mit anderen Frauen vergleichst, die nicht wie du das große Loos gezogen haben.
Es blieb eine Weile still zwischen den beiden Frauen. Die Sängerin sah gleichmüthig in die raschen Strudelwellen, die an dem schattigen Wege vorbeiliefen. Frau Hetty stand, ihr abgewandt, an einem Weidenstamm und schien die letzte Rede der Freundin überhört zu haben.
Plötzlich drehte sie sich nach ihr um.
Gut! sagte sie. Es soll gelten. Es ist zwar frevelhaft, mit so ernsten Dingen zu spielen, zu wetten, ob ein argloser Mensch einer Versuchung widerstehen oder erliegen werde. Aber um dich von deinen pessimistischen Vorurtheilen gründlich zu heilen – sei's darum! Du sollst drei Tage Zeit haben, das Netz nach ihm auszuwerfen. Wenn er nicht hineingeht –
– hast du die Wette gewonnen und kannst dir unter meinen Schmucksachen – aus dem Arsenal meiner Koketterie – aussuchen, was dir gefällt. Gewinne ich –
Das heißt, wenn du ihn soweit bringst, dir nicht nur ein bischen den Hof zu machen, aus alter Cavalier-Gewohnheit, sondern eine richtige, unzweideutige Erklärung.
Versteht sich. Durchaus unzweideutig. Aber ich verzichte auf einen irgend werthvollen Gewinn, die Chancen sind zu ungleich. Denke doch nur, er hat ja vor Zeiten nach mir geseufzt, on revient toujours –, und gar so viel häßlicher bin ich inzwischen doch nicht geworden. Also es gilt!
Sie erhob sich rasch und hielt der Freundin die Hand hin. Hetty legte die ihre zögernd hinein.
Ich sollte es nicht thun, sagte sie. Es ist doch eigentlich unrecht. Aber ich hoffe dich zu beschämen. Laß uns nun gehen. Es fängt selbst hier am Wasser an heiß zu werden.
Weil du dich dabei erhitzt hast, den Advokaten des Teufels zu machen. Aber willst du die Veronica nicht mitnehmen?
Hetty warf einen Blick auf die Blume, die auf der Bank lag. Sie hat schon ihre Frische verloren, sagte sie und erröthete. Komm nur!
Sie ist eben keine Ausnahme von der Regel, versetzte die Andere mit einem leisen Lachen. Gieb mir deinen Arm und erzähle mir ein wenig von deinem Mann, wie du ihn kennen gelernt hast. Ich konnte ja leider nicht zu deiner Hochzeit kommen, ich war eben erst aus dem Wasser geholt worden.
*
Der Tag verging.
Am späten Abend, als die Lust sich verkühlt hatte und der Mond die weite Bergwildniß bis in die letzten Schluchten erhellte, saß die Sängerin auf der Terrasse des Hôtels, an einem Tischchen am äußersten Rande, zu dem die leisen Düste des Gartens, der frisch begossen worden war, im lauen Nachtwind heraufwehten. Nach und nach hatten sich die anderen Gäste, die hier zu Nacht gegessen, ins Innere des Hauses zurückgezogen, da man »am Land« zeitig zu Bette ging, und von einem Tisch nach dem andern waren die Kerzen in den großen gläsernen Glocken verschwunden. Auf dem Tischchen an der Brustwehr hatte überhaupt keine Leuchte gestanden. Ich sehe bei dem hellen Mondschein genug zu meinem Thee, hatte Jella zu dem Kellner gesagt. Auch schmerzen mich noch die Augen von dem grellen Sonnenlicht über Tag.
Der Kellner, der die schöne, freigebige Künstlerin im Geheimen glühend verehrte, schien es für seine Pflicht zu halten, der Einsamen noch ein wenig Gesellschaft zu leisten. Sie antwortete aber so zerstreut und einsilbig auf sein Geplauder von neu Angekommenen, empfehlenswerthen Bergpartieen und Wetterprophezeiungen, daß er sich bald wieder davonmachte.
Nun saß sie regungslos lange Zeit, den Blick auf die hellen Gartenbeete geheftet, durch welche Leuchtkäfer flogen und Nachtfalter lautlos hinstrichen. Fern aus den Weidenschatten blitzte hin und wieder eine kleine silberne Welle des Flüßchens auf, und ein zarter weißer Nebel wallte am Fuß des Berges über die Wiesen. Weit und breit kein Laut als der scharfe Grillengesang und aus dem Dorfteich die Serenade der Frösche. Im Haus hinter ihr – die Veranda lag vor dem Speisesaal – hörte man den groben Wirth mit den Mägden schelten und das Klirren von Tellern und Gläsern, die in der Credenz aufgeschichtet wurden. Dann wurde auch das still.
Vom Thurm der Dorfkirche hatte es eben Zehn geschlagen, da öffnete sich die Glasthür, die auf die Terrasse ging, ein hoher schwarzgekleideter Mann trat in den Schatten des Vordachs heraus, dahinter der Kellner, der eine Weinflasche und auf einem Teller ein Brödchen trug. Ohne aufzublicken näherte sich der späte Gast dem Tisch, an welchem die Sängerin saß. Jetzt bemerkte er sie, stutzte und machte eine Geberde, als ob er sich zurückziehen wolle.
Gabriele erhob sich rasch.
Verzeihen Sie, Herr Baron, sagte sie, ich habe Ihren Platz eingenommen. Der Kellner sagte, Sie würden heute nicht herunterkommen, es sei sogar ungewiß, ob Sie überhaupt von Ihrer Ausfahrt diese Nacht zurückkehren würden. Und da auch ich es nicht liebe, im Schwarm der schwatzenden und lachenden fremden Menschen zu sitzen, so dachte ich, für dies eine Mal – aber ich respectire Ihr älteres Anrecht und räume sogleich das Feld. Auch bin ich längst mit meinem Thee fertig.
Sie ergriff das Spitzentuch, das sie über die Lehne des Stuhls gelegt hatte, und machte Miene, mit einer leichten Verbeugung sich zu entfernen.
Er vertrat ihr ehrerbietig den Weg.
Ich bitte dringend, mein gnädiges Fräulein, daß Sie sich nicht stören lassen, sagte er mit einer sehr wohlklingenden, weichen Stimme. Ich habe kein besonderes Recht auf diesen Platz, und wenn ich es hätte, würde ich es Ihnen mit Vergnügen abtreten. Ich wollte in der That diese Nacht irgend wo in einem entfernten Dorf zubringen, ich fürchtete mich, in meine verödeten Zimmer zurückzukehren, wo ich die drei letzten Nächte schlaflos geblieben war. Dann zog es mich doch, als es zu dämmern anfing, mit Gewalt wieder zurück, auch an diesen Platz. Wie oft habe ich hier bis Mitternacht gesessen, zwischen Furcht und Hoffnung. Jetzt, da Nichts mehr zu fürchten und zu hoffen ist –
Er hatte das Alles tonlos, mit mühsamer Fassung gesprochen. Nun versagte ihm die Stimme.
Was Sie mir sagen, Herr Baron, versetzte sie, ihr Tuch überwerfend, überzeugt mich nur noch mehr, daß es meine Pflicht ist, Sie allein zu lassen. In Ihrer Stimmung kann man selbst die theilnahmvollste Gesellschaft nicht ertragen. Sie haben einen so schweren Tag hinter sich. Hoffentlich finden Sie heute Schlaf. Gute Nacht!
Sie irren, mein Fräulein, sagte er mit einem Seufzer, wenn Sie glauben, die Einsamkeit könne meine Gedanken zur Ruhe bringen. Zwar könnte ich kein gleichgültiges Gespräch ertragen. Aber wenn Sie mir noch ein paar Augenblicke schenken wollen – stellen Sie den Wein nur hin, Bastian, und gehen Sie, ich brauche Nichts mehr – ich habe Ihnen noch für den schönen Kranz zu danken, Fräulein Gabriele, die Menschen sind überhaupt so voll Theilnahme gewesen; wenn Mitleid trösten könnte – aber wer verlangt auch Trost? Der einzige ist, daß man verloren hat, was nie verschmerzt und vergütet werden kann.
Er hatte sich auf den Gartenstuhl am Tische niedergelassen wie ein völlig erschöpfter Mensch. Auch sie war auf ihren Sitz zurückgeglitten. So saßen sie eine Weile beisammen, ohne sich anzusehen. Seine Augen, die einen feuchten Glanz hatten, waren in die mondhelle Landschaft hinaus gerichtet. Er schien völlig vergessen zu haben, daß er sich in der Gesellschaft eines schönen Weibes befand, und auch sie saß wie abwesenden Geistes in ihren Sessel zurückgelehnt, indem sie ihm nur das halbe Gesicht zukehrte, jenes berühmte Cameen-Profil, das in Hunderten von Photographieen durch die Welt ging.
Ja, sagte er endlich, Sie müssen schon Nachsicht mit mir haben, wenn ich einsilbig bin. Es ist vielleicht egoistisch von mir, daß ich Sie hier festhalte, bloß aus Gespensterfurcht, damit die warme Nähe eines mitfühlenden Wesens mir das Grauen meiner Lage ein wenig verscheuche. Ich erwarte auch nicht, daß Sie mir Etwas sagen, was ich mir nicht selbst sagen könnte. Sie sind zu zartfühlend, um nicht zu wissen, wie grausam ein banales Wort die frische Wunde reizt. Und etwas Anderes, was mich intimer berührte – Sie kennen mich so wenig, wie ich jetzt bin, und die arme Todte haben Sie ja überhaupt nicht gekannt.
Ihr blasses, stolzes Gesicht röthete sich ein wenig. Es hat nicht an mir gelegen, daß ich ihre Bekanntschaft nicht machen konnte.
Seine Augen streiften mit einem raschen Blick die ihren.
Ich weiß, was Sie damit meinen, sagte er, mit etwas unsicherem Ton. Sie war nicht freundlich gegen Sie, aber auch nur, weil sie Sie nicht kannte. Sie müssen ihr das mit ihrer Erziehung, ihrer geringen Lebenserfahrung zu gute halten und ihr nicht grollen, wenn es Ihnen kränkend gewesen sein sollte.
Sie zuckte unmerklich die Achseln. Kränkend? Sie taxieren mich zu gering. Ich habe es ihr nicht verdacht, so lange sie lebte, und wer im Grabe ruht, ist ohnehin unserem Groll entrückt.
Lassen Sie sich danken für dies großmüthige Wort, sagte er und streckte ihr über das Tischchen die Hand entgegen. Sie schien es nicht zu bemerken, sondern fuhr fort mit ihren Ringen zu spielen, die im Mondlicht funkelten. Das machte ihn verlegen. Er griff mechanisch nach der Flasche, schenkte das Glas halb voll, ließ es aber unberührt stehen.
Es ist mir ein Bedürfniß, mein verehrtes Fräulein, mich gegen Sie darüber auszusprechen, fuhr er fort. Sie wissen, daß Maria auf dem Lande aufgewachsen war, in den Sitten und Vorurtheilen unseres märkischen Landadels. Ihre Eltern sind sehr orthodox, doch ohne Fanatismus. Ich hatte anfangs Mühe, mich in den Ton des Hauses zu finden. Aber wenn man liebt – und es dauerte auch nicht lange, so brauchte ich meine wahre Gesinnung nicht mehr zu verleugnen, um diese trefflichen Menschen nicht zu verletzen, denn ich selbst war ganz der ihrige geworden. Der heitere Friede meiner eignen Kinderjahre war in meine Seele wieder eingezogen, ich dachte mit einer stillen Beschämung an die Jahre, die ich verloren hatte, um allerlei Phantomen von Glück und Lebensfreude nachzujagen. Sie stehen, denk' ich, auf einem anderen Standpunkt und werden lächeln über den sonderbaren Schwärmer, der Ihnen bekennt, daß diese Frau einen neuen Menschen aus ihm gemacht hat.
Ihr Gesicht verrieth nicht, was sie dachte. Nur die feinen Nasenflügel zitterten, und der Mund rümpfte sich ein wenig, als sie erwiderte:
Es fällt mir nicht ein, über irgend eine aufrichtige Bekehrung zu lächeln. Im Gegentheil, ich wünsche Ihnen Glück zu Ihrer Wiedergeburt.
Auch dieses Glück, sagte er mit einem Seufzer, indem er tiefsinnig in das Glas starrte, auch diese Wohlthat des Himmels habe ich nicht umsonst erhalten, sondern muß sie nun nachträglich bezahlen. Denn ich sehe mich vis-à-vis einer hoffnungslosen Zukunft. Sie müssen wissen, ich habe nicht die geringste Neigung und Anlage zur Landwirthschaft, und das Leben auf dem Gut, wenn ich die Jagd ausnehme, wurde mir nur erträglich, so lange sie lebte. Nun aber, da ich sie verloren habe – was soll ich thun? Wieder in die Stadt zu ziehen und in das Regiment einzutreten, widerstrebt mir. Ich fände mich in die Sitten und Anschauungen der Kameraden nicht mehr hinein. Und mein einsames Dasein durch die Welt zu schleppen, auf Reisen zu lernen, daß man unter jedem Himmelsstrich immer derselbe unbefriedigte, an einer unheilbaren Wunde leidende Mensch bleibt, als der man ausgezogen – nein, ich habe einen Thätigkeitstrieb in mir, dem selbst meine militärischen Pflichten nicht immer Genüge thaten, und die Aussicht, als Amateur-Photograph Orient und Occident zu durchstreifen, ist mir entsetzlich!
Es lag etwas anziehend Treuherziges in der Art, wie er das Alles vorbrachte. Sie hatte ihm doch Unrecht gethan, von Komödie war keine Spur in seinem Betragen, nur eine gewisse haltlose Weichheit bestätigte ihre Meinung, daß die »Versteinerung«, von der Hetty gesprochen hatte, nicht an den Kern seines Wesens gedrungen war.
Sie betrachtete ihn verstohlen, während er das Glas an die Lippen setzte und ein paar Tropfen von dem hellen Weine trank. Er war wirklich nicht in jenem üblen Sinne, den sie gemeint hatte, »ein schöner Mann«, Sein sonst lebhaft gefärbtes Gesicht, jetzt durch die lange Pflegezeit des Krankenzimmers blaß geworden, trug nicht mehr den übermüthig leichtsinnigen Ausdruck seiner Offiziersjahre. Die seinen geraden Brauen über den dunkelgrauen Augen zogen sich, wenn er sprach, zusammen, wie bei einem Knaben, der sich Mühe giebt, eine Lection aufzusagen, und unter dem röthlich blonden Bart öffnete sich ein voller, blühender Mund, der sonst so hell zu lachen verstanden hatte, aber durch das schmerzliche Zucken bei der Erinnerung an das verlorene Glück Nichts von seinem jugendlichen Reiz verlor.
Der Wein ist schal, sagte er. So durstig ich bin, kann ich mich nicht überwinden, das Glas auszutrinken. Wollen Sie mir ein wenig von Ihrem Thee gönnen, Fräulein Gabriele? Sie erlauben doch, daß ich Sie so nenne, wie manchmal in der – in früheren Tagen.
Er hatte »in der guten alten Zeit« sagen wollen, doch besann er sich noch, wie unpassend dieser Ausdruck gewesen wäre.
Mein Thee ist kalt geworden und wird bitter schmecken. Auch fehlt es an einer Tasse.
Wenn Sie mir die Ihrige erlauben wollen – man sagt zwar, daß man die Gedanken des Andern erräth, wenn man aus seinem Glase trinkt. Aber ich hoffe, ich wage Nichts dabei. Sie haben keine unfreundlichen Gedanken gegen mich, wenigstens an diesem Tage und nach Allem, was ich Ihnen gebeichtet habe.
Statt der Antwort goß sie den dunkelbraunen Rest in ihre Tasse, füllte sie vollends aus dem Milchkännchen und that ein paar Stück Zucker hinein.
Es wird abscheulich schmecken, sagte sie mit Lächeln, ihm die Tasse reichend. Aber ein Schelm giebt mehr, als er hat.
Ich danke Ihnen, Gabriele, versetzte er. Gewiß, Sie wollen nicht zum Schelm an mir werden. Der Trank ist auch wirklich nicht so übel, wenn ich auch vor Zeiten einen ganz anderen aus Ihrer schönen Hand empfangen habe. Und diese Hand, wie fest wußte sie die Zügel zu halten, an denen sie ihre sonst recht unbändigen Besucher regierte. Man wußte nicht, wenn man von Ihnen ging, ob man Sie mehr bewunderte oder Ihre Strenge verwünschte. Sagen Sie ehrlich, habe ich Ihnen damals nicht den Eindruck eines sehr alltäglichen, unbedeutenden und frivolen Menschen gemacht?
Nicht mehr als Ihre Kameraden. Es lag wohl an der Uniform, daß ich keine besonderen Unterschiede machte.
Sie wollen mich schonen. Aber glauben Sie mir, schon damals, als ich noch Alles mitmachte, was für standesgemäß galt, – in lichten Augenblicken fühlte ich einen leidenschaftlichen Trieb nach etwas Besserem, Höherem, ein Heimweh nach dem verlorenen Paradiese, das ich später an der Seite meiner Marie wiederfand. Schon damals, wenn Sie sich herabgelassen hätten, mich ein wenig ernster zu nehmen als die Andern – Sie hätten Alles aus mir machen können. Ich darf sagen, ich war schon damals besser als mein Ruf. Ich verehrte Sie nicht bloß wegen Ihrer Schönheit und der Künstlerschaft, die uns Alle entzückte, sondern weil ich Sie für eine Elite-Natur hielt, die über alles Kleinliche, Philisterhafte und Conventionelle erhaben ist und nur dem Gesetz gehorcht, das ihre eigene Seele ihr dictirt. Solch eine Freundin zu haben – mißverstehen Sie mich nicht, ich dachte dabei wirklich nicht an das, was man sonst so nennen mag – eine Schwester will ich lieber sagen – was hätte ich nicht darum gegeben! Sie ahnten das nicht, Gabriele, und ich selbst war zu schüchtern – nein, lächeln Sie nicht so spöttisch, auch ein Gardelieutenant kann zum blöden Schäfer werden, wenn das ewig Weibliche, wie es im Faust heißt, ihn hinanzieht. Vielleicht dank' ich es nur Ihnen, daß ich, als ich dann meine Marie fand, vorbereitet war, ihren Werth ganz zu würdigen. Sie war, gerade wie Sie, der reinste Gegensatz zu allen weiblichen Wesen, an die ich mich sonst weggeworfen hatte.
Sie sah ihn ruhig an und sagte dann mit einem ironischen Zucken ihres Mundes, das ihm entging:
Sie sind sehr gütig, daß Sie mir einen bescheidenen Antheil an Ihrer »Wiedergeburt« zuschreiben. Aber es ist spät. Im Hause wird man sich wundern, daß wir noch nicht Nacht machen wollen.
Ja, fuhr er fort, ohne sich zu rühren, wie wenn er, ganz in seine Gedanken verloren, nicht gesehen hätte, daß sie sich erhob, eine Freundin wie Sie – Sie glauben nicht, welche Wohlthat das jetzt für mich sein würde! Das Beste, das Einzige, was einen Menschen wahrhaft beseligen kann, hab' ich ja unwiederbringlich verloren. Aber gerade weil ich mich so überflüssig aus der Welt fühle, ohne Beruf, ohne Freude – nun doch noch ein Wesen zu wissen, das darum nicht an dem bessern Theil in mir irre würde, das mir, wenn das Fieber des Ungenügens zu hitzig brennt, die Hand auf die heiße Stirn legte, mir sagte: du besaßest es doch einmal; dein Loos ist trotz des frühen Verlustes noch beneidenswerth, verglichen mit Tausenden, die es nie besessen und nicht einmal geahnt haben –
Sie schob den Stuhl zurück und schlang das Spitzentuch unter dem Kinn lose zusammen. Das volle, kräftige Oval ihres Gesichts erschien in der dunklen Umrahmung und dem weißen Licht des Mondes wie in einer geisterhaften Verklärung.
Sie müssen mich entschuldigen, Herr Baron, sagte sie, ich muß Ihnen aber wirklich gute Nacht sagen. Es ist nachtschlafende Zeit. Auch wird es empfindlich kühl, Sie wissen vielleicht nicht, ich halte mich hier auf, um meine Stimme wieder zu kräftigen, die ich im letzten Winter übermäßig angestrengt habe. Ich wünsche mich nicht zu erkälten.
Ich bitte tausendmal um Verzeihung, theures Fräulein, rief er, indem er hastig aufsprang. Zum Dank dafür, daß Sie so nachsichtig einen Menschen anhörten, der Ihnen seine Leiden vorklagte, habe ich Sie hier ungebührlich lange in der rauhen Nachtluft aufgehalten, Herrgott, da schlägt es Elf! Kommen Sie, Gabriele! Ich wäre untröstlich, wenn Ihnen Ihre Güte gegen mich geschadet hätte.
Im Hause schlief schon Alles. Nur der Kellner war noch auf, lag auf einem Sopha im Speisesaal, von dem er schlaftrunken auffuhr, um den Eintretenden ihre Leuchter einzuhändigen und ihnen gute Nacht zu wünschen. Dann gingen sie auf den Zehen sacht die Treppe hinauf, die zu ihren Zimmern im zweiten Stock führte. Nur noch eine einzelne Stiegenlampe flackerte trübe neben dem offenen Fenster, ein frischer Hauch wehte aus der Nacht herein, und der Mond warf unsichere Strahlen über die beiden hohen Gestalten. Bei der Wendung der Treppe verfehlte Gabriele, die mit halb geschlossenen Augen hinausschritt, eine der steilen Stufen und griff schwankend nach dem Geländer.
Nehmen Sie meinen Arm, flüsterte ihr Begleiter ihr zu.
Sie that es, ohne sich zu besinnen. Dabei fühlte sie, daß sein Arm leise zitterte, als sie ihre Hand darauf legte. So erreichten sie den Corridor, auf dem ihre Zimmer lagen.
Das junge Ehepaar hatte die beiden größten und elegantesten Zimmer nach Osten bewohnt, Gabriele ein bescheidenes auf dem westlichen Flügel. Sie wollte ihn verabschieden, als sie den Treppenabsatz erreicht hatten. Er hielt aber ihren Arm fest und ging mit bis zu ihrer Thür. Auch diesen Corridor erleuchtete nur ein im Erlöschen begriffenes Flurlämpchen, das Nichts beschien als die Schuhe und Stiefel, die vor den Zimmerschwellen standen. Auch hier Alles todtenstill, nur daß aus einem und dem andern Schlafgemach sich ein kräftiges Schnarchen hören ließ.
Gute Nacht, Baron, sagte die Sängerin, als sie ihr Zimmer erreicht hatte. Dank für Ihre Begleitung. Ich hoffe, Sie werden nach all den furchtbaren Aufregungen heute endlich Schlaf finden.
Er war vor ihr stehen geblieben, den Leuchter hoch erhoben, so daß der Schein der kleinen Flamme ihre Züge mit einem röthlichen Hauch übergoß. Er starrte sie unverwandt an und sagte dann mit leisem Kopfschütteln:
Schlafen? Nein, meine Freundin, so gut wird es mir nicht werden. Ich hätte das Zimmer wechseln sollen, wo Alles mich an die durchwachte Schreckenszeit erinnert. Aber auch dann – man verlernt Nichts so rasch als den Schlaf. Ich weiß es noch von unsern Manövern her. Aber es ist auch vielleicht besser. Das Erwachen ist um so bitterer.
Haben Sie kein Opiat, das Sie brauchen könnten? noch von der Krankheit her?
Sie hat sich immer dagegen gewehrt, lieber ihre Schmerzen ertragen. Es war eine Art religiöser Aberglaube, von dem die Aerzte sie nicht abbringen konnten. Sich eigenmächtig um das Bewußtsein zu bringen, widerstrebte ihr, als wäre es ein halber Selbstmord. Ich konnte Nichts thun als ihr vorlesen, wenn sie noch um Mitternacht nicht zur Ruhe gekommen war. Aber diese erbauliche Lectüre – ich würde an die Gespräche denken, die sich oft daran knüpften, und meine Schmerzen nur noch schärfer empfinden.
Seltsam, sagte die Sängerin, auch ich habe ein unfehlbares Schlafmittel an einem Buch, das freilich von einem weltlichen Autor stammt. Kennen Sie Lamartine's Jocelyn? – Nun, Sie haben Nichts daran verloren. Eine ordentlich tropische Langeweile herrscht darin, eine unendliche Melodie verschwommener Gefühle und affectierter Gedanken, Alles in einer sonoren, eintönigen Rhetorik, wie nur Franzosen sie goutieren können, so daß ich in den sechs Jahren, seit ich das Buch besitze, noch nicht damit zu Ende gekommen bin. Ich führ' es aber immer mit mir, eben als Schlafmittel. Wenn ich noch so aufgeregt bin nach einer großen neuen Rolle, einem heftigen Verdruß oder sonst einem widerwärtigen Erlebniß, brauche ich nur zehn Zeilen meines theuren Lamartine vor mich hinzusagen, und der Sturm in meinem Blut legt sich, wie wenn man Oel auf ein bewegtes Meer schüttet. Hören Sie nur:
Il est des jours de luxe et de saison choisie,
Qui sont comme les fleurs précoces de la vie,
Tout bleus, tout nuancés d'éclatantes couleurs,
Tout trempés de rosée et tout fragrants d'odeurs,
Que d'une nuit d'orage on voit parfois éclore,
Qu'on savoure un instant, qu'on respire une aurore,
Et dont comme des fleurs, encor tout enivrés,
On se demande aprés: Les ai-je respirés?
Nicht wahr, dieser schwüle Parfüm muß Einem zu Kopf steigen und das Bewußtsein umnebeln, wenn man ihn auch nur kurze Zeit einathmet – tout bleu, tout nuancé, und dabei Nichts, was man wirklich sieht und mit Händen greifen kann, da auch der Poet sich nur an süßen Klängen berauscht, daß ihm Hören und Sehen vergeht. Soll ich Ihnen das Buch leihen?
Er antwortete nicht sogleich. Dann haschte er nach ihrer Hand und drückte seine heißen Lippen darauf.
Ihr Mittel würde mir wohl nicht helfen, sagte er. Ja, wenn Sie mir auch Ihre Stimme dazu leihen könnten, meine theure Freundin – diese Stimme, die mir, seit ich sie heut so freundliche Worte sagen hörte, besser als alle schwülstige Poesie mein Innerstes beruhigt. Nochmals, haben Sie Dank! Und nun – da es doch einmal sein muß – gute Nacht!
Damit wandte er sich rasch ab und ging mit hastigen Schritten, daß die Flamme seiner Kerze lebhaft flackerte, den Corridor hinunter seiner Wohnung zu.
Gabriele sah ihm einen Augenblick nach. Ein seltsames Lächeln flog über ihren halbgeöffneten Mund. Dann trat sie in ihr Zimmer und schloß die Thür hinter sich zu.
Der Mond schien grell zu den beiden offnen Fenstern herein. Sie dachte nicht daran, die Kerze wieder anzuzünden, die bei ihrem Eintreten im Zugwind erloschen war, sondern stand einen Augenblick und sog die nächtliche Frische ein. Dann warf sie die Taille ab und ließ sich die Kühle über Hals und Schultern wehen.
Das dumme Blut! murmelte sie vor sich hin. Es sollte doch nicht mit von der Partie sein!
Langsam lös'te sie den Knoten, der ihr schweres braunes Haar im Nacken zusammenhielt, und schüttelte es, daß es tief über die Hüften niederrollte. Dann hob sie die Arme und wiegte sie, wie wenn sie wünschte, sie möchten sich in Flügel verwandeln, mit denen sie sich in die weite, freie Luft hinaufschwingen könnte. Ein Nachtvogel schwirrte dicht an ihr vorbei, sie fuhr mit einem leichten Erschrecken zusammen und warf das Fenster zu. In demselben Augenblick hörte sie ein leises Klopfen an der Thür.
Sie horchte auf. Ihr schöner blasser Mund preßte sich zusammen, ihre volle Brust hob sich wie im Kampf gegen ein beklemmendes Gefühl. Schon? sagte sie vor sich hin. Dann stand sie noch ein paar Augenblicke, wandte sich aber, als das Klopfen sich wiederholte, entschlossen um.
Bist du's, Hetty? Was hast du mir noch so spät zu sagen? Warte, ich öffne dir gleich!
Ohne sich zu beeilen, ging sie nach der Thür und schob den Riegel zurück. Vor der Schwelle draußen im Gang stand die dunkle Gestalt des Barons.
Sie sind es, Baron? Ich dachte, es wäre meine Freundin. Was führt Sie noch einmal zu mir? Haben Sie ein Gespenst gesehen?
Er stand ohne sich zu regen und betrachtete sie. Ihre Züge, da das Gesicht dem Mond abgekehrt war, konnte er nicht erkennen. Er sah nur den Glanz, der auf dem Umriß ihres Nackens und den herrlich geformten Schultern lag und die Gestalt umfloß. In manchen ihrer Rollen hatte sie dem großen Haufen nicht weniger von ihrer Schönheit enthüllt. Aber hier unter vier Augen im Halbdunkel der heimlichen Nacht war die Wirkung noch ganz anders bezaubernd.
Verzeihen Sie, stammelte er, ich konnt' es nicht aushalten drüben mit meinen überwachten Sinnen. Es ist grauenhaft und beschämend zugleich für einen Mann, der Soldat gewesen. Ueberall, auf jedem Sessel, auf dem leeren Bett – immer dieselbe blasse Erscheinung – ja sogar die Stimme glaubte ich zu hören – und es ist zu spät, mir noch ein anderes Zimmer aufschließen zu lassen. Ich werde mich ans offne Fenster setzen und den inneren Räumen den Rücken kehren, aber ich wollte Sie doch noch um Ihr Schlafmittel bitten, Ihren Jocelyn. Ich hoffe – Sie werden mir wegen der Störung nicht zürnen –
Ihnen zürnen? Sie thun mir so leid. Gerne will ich Ihnen das Buch leihen – ich muß es aber erst suchen. Nur einen Augenblick muß ich bitten – ich weiß nicht, wo ich es hingelegt habe –
Sie trat ins Zimmer zurück und ging nach einer Kommode, deren oberste Lade sie herauszog. Dann wandte sie sich plötzlich nach ihm um, der die glühenden Blicke nicht von ihr ließ, und sagte:
Wollen Sie vor der offenen Thür stehen bleiben, bis ich es gefunden habe? Wie unbesonnen! Falls Jemand dazu käme und fände Sie hier an meiner Thür, bedenken Sie doch, wie Sie mich compromittieren würden. Wenn Sie doch einmal da sind, so treten Sie lieber noch auf einen Augenblick herein, ich weiß bestimmt, daß ich das Buch hier zu meinem Reisehandbuch gelegt habe.
Er warf einen raschen Blick den Corridor hinunter, wo Alles still und dunkel war.
Wenn Sie gestatten – sagte er.
Dann trat er über die Schwelle und zog die Thüre leise ins Schloß.
*
Es war um die zehnte Morgenstunde, doch noch nicht heller Tag geworden, denn ein starker Föhn strich aus dem Wetterwinkel herein, und die Sonne stand hinter grauem Gewölk.
Um diese Zeit pflegte die Sängerin Frau Hetty zu einem Gang in den Wald abzuholen, wo Beide mit einem Buch oder einer Handarbeit oder auch nur mit ihrem Geplauder auf einer Bank sich ansiedelten, die heißen Stunden zu überdauern.
Auch heute klopfte sie an die Thür der Freundin, doch nicht zum Ausgehen gerüstet. Hetty schien das Wetter ebenfalls nicht dazu verlockend zu finden.
Sie saß in ihrem einfenstrigen Stübchen vor dem Tisch, auf dem noch das Kaffeegeschirr stand, hatte die Briefmappe vor sich und sah vom Schreiben auf, als Gabriele hereintrat.
Guten Morgen! nickte sie ihr entgegen. Ich hatte mir schon gedacht, wir würden heut nicht in den Wald können, es sieht nach Regen aus. Da hab' ich schon immer angefangen, nach Hause zu schreiben. Gestern Nachmittag aber hab' ich dich vergebens gesucht, und auch Abends hast du dich unsichtbar gemacht. Wo hast du nur so lange gesteckt?
Ich bin auf die Wetteralm gestiegen, wollte einmal meine Stimme probieren und unbelauscht Solfeggien singen.
Nun? Hat die Luftcur ihre Schuldigkeit gethan? Bist du wieder im Besitz deiner Höhe und Tiefe?
Danke. Es ging vortrefflich. Zuletzt habe ich mit der Sennerin um die Wette gejodelt und das Compliment bekommen, mich höre man noch eine Meile weiter. Ich bin mit diesem Erfolg sehr zufrieden, denn ich kann nun morgen oder übermorgen abreisen.
Abreisen? Aber du wolltest ja – und ich, die ich darauf gerechnet hatte, wenigstens noch drei Wochen mit dir zusammen zu sein –
Ja, Schatz, es werden einem manchmal Striche durch die schönsten Rechnungen gemacht. Aber du bist hier ja so gut aufgehoben auch ohne mich. Die gute Frau Regierungsräthin und der alte Forstrath, der dir so eifrig die Cour macht – diese Alpenveilchen sind wohl wieder von ihm?
Sie nahm den kleinen Cyclamenstrauß aus dem Glase, das neben dem Schreibzeug stand, und tauchte ihre seine Nase hinein.
Die junge Frau sah ihr scharf ins Gesicht. Ich glaube dich zu verstehen, Jella, sagte sie, ihre eine Hand hinhaltend. Das ist hübsch von dir.
Daß ich dich nicht ferner bewachen will, wenn Graubärte dir gefährlich werden möchten?
Weiche mir nicht aus. Ich weiß, weßhalb du fort willst. Diese abscheuliche Wette – du fühlst, daß du sie aufgeben mußt, wenn du nicht etwas Erzböses thun willst. Und da machst du lieber gleich einen Strich darunter. Hab' ich nicht Recht? Thut dir der arme Trauernde nicht doch zu leid, um ein so diabolisches Spiel mit ihm zu spielen, gerade weil es nicht ganz unmöglich wäre, daß du's gewinnen könntest?
Die Sängerin, immer an den Blumen riechend, ging langsam durchs Zimmer, ohne zu antworten. Sie trug ein lustiges gelbes Morgenkleid mit schwarzen Spitzen, das ihre bleiche Haut und das glänzende, leicht gewellte Haar, das in einem kunstlosen Knoten tief im Nacken lag, vortheilhaft hervorhob.
Wie du heute wieder schön bist! sagte die Freundin. Und er hat es doch so nöthig, daß seine arme, erschütterte Seele zur Ruhe kommt und nicht in Versuchung geführt wird. Diese Nacht wenigstens hat er endlich geschlafen.
Die Andere blieb stehen.
Woher weißt du das?
Nun, das ist einfach. Die Wände hier sind ja so dünn wie in einem Kartenhaus, und dos-à-dos mit diesem meinem Sopha steht drüben im Wohnzimmer des Barons ein Ruhebett, ich sah es vom Gang aus, als die Thür einmal offen stand. In den letzten Nächten nach dem Tode seiner Frau hat er sich dort gebettet, aber ich hörte ihn stöhnen und sich herumwerfen, daß mich's recht erbarmte und mich fast selbst nicht schlafen ließ. Die letzte Nacht war's ganz still. Erst gegen Morgen, so um Vier – ich fuhr eben erschreckt aus einem bösen Traum auf, deine boshaften Reden über »Männertreu« hatten es dahin gebracht, daß ich meinen eigenen Mann mit einer Anderen schön thun sah – da rührte sich's auch nebenan, aber nicht lange, so war's wieder still. Er muß dann noch ruhig weitergeschlafen haben.
Ich gönn' es ihm. Bis dahin hatte er allerdings wenig geschlafen.
Bis dahin? Was meinst du? Wie kannst du wissen –
Nun, ich dächte, ich wäre wohl die Nächste dazu. Erst um vier Uhr hab' ich ihn dazu bringen können, sein Zimmer wieder aufzusuchen. Man steht hier früh auf, und wenn man den trauernden Wittwer dabei betroffen hätte, vor Thau und Tage sich aus dem Zimmer einer fremden Dame zu stehlen –
Jella! Nein, es ist unmöglich!
Die kleine Frau war aufgesprungen und starrte die Freundin mit weit aufgerissenen Augen an. Als diese ruhig fortfuhr, an dem Sträußchen zu riechen, sank sie auf das Sopha zurück und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen.
Sei doch kein Kind, sagte die Andere, indem sie dicht an sie herantrat und ihr mit einer Hand sacht über das Haar strich. Warum unmöglich? Es giebt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als die rechtschaffene Frau eines biederen Rechtsanwalts sich träumen läßt. Daß es freilich so geschwind damit gehen würde, hatt' ich selbst mir nicht eingebildet, und auf mein Ehrenwort, er ist ganz von selbst gekommen, ich habe nicht den kleinsten Finger ausgestreckt, damit er die ganze Hand und die ganze übrige Person ergreifen sollte. Kokett bin ich überhaupt nie gewesen, man behauptet, ich hätte es nicht nöthig. Dieser arme Baron aber – von dem ganzen schwachen Geschlecht der schwächste – das bischen Charakter durch die Thränenflut aufgeweicht – er hat mich wirklich gedauert, wie er mir gestand, er sehne sich nach einer echten, festen Freundschaft, die seinem jetzt so verarmten Leben Halt geben könne. Und dann klagte er mir seine Schlaflosigkeit und kam noch nach dem letzten Gutenacht wieder, um ein Buch zu holen, das ich ihm als Schlafmittel empfohlen, und so gab ein Wort das andere und endlich – nun, das berühmte Wort wurde wieder einmal wahr: »an jenem Tage lasen wir nicht weiter«.
Was hast du da nun zu weinen? fuhr sie fort, als Hetty die Hände vom Gesicht nahm und nach dem Taschentuch griff. Beweinst du seinen Sündenfall oder den meinen? Was ihn betrifft – der alte Adam, der trotz aller Bet- und Andachtsstunden noch nicht in ihm erstickt ist, hat in die verbotene Frucht à belles dents eingebissen, und ich bin überzeugt, sie wird seiner Gesundheit nicht schaden. Ich aber – du hast ja selbst gestern mich darum bewundert, daß ich meinen Weg gehe, ohne mich um fischblütige Vorurtheile zu kümmern. Er machte mir ganz das nämliche Compliment. Ich bin gottlob frei und für mein Thun und Lassen Niemand Rechenschaft schuldig. Wenn mir nun die barmherzige Laune kam, einem Menschen, der sich vor Gespenstern fürchtete, eine Nacht lang Gesellschaft zu leisten – ist das so etwas Unerhörtes, Entsetzliches? Ich glaubte wirklich nicht, daß du noch so naiv seiest. Ich hätte dir dann das kleine Abenteuer schonend verschwiegen und dich bei dem Glauben gelassen, die zarte Veronica sei verleumdet worden und von so dauerhafter Constitution wie diese Alpenveilchen.
Hetty stand mühsam auf, trocknete sich die Augen und sagte: Es war vielleicht kindisch, daß es mich so erschütterte, du mußt bedenken, ich lebe in einer anderen Welt als du. Aber wenn ich mich auch schäme, daß ich in Thränen ausbrach – verbergen hätt' ich dir doch nicht können, wie grauenhaft ich es finde, nicht nur, daß du es gethan hast, sondern noch mehr, daß du so kaltblütig davon sprichst, als wäre es gar keine so ungeheuerliche Sache, einen Menschen vor sich selbst in seinem eigenen Bewußtsein für alle Zeiten erniedrigt zu haben. Das mag dir ungemein spießbürgerlich und philiströs vorkommen, ich kann einmal nicht dafür, daß ich eine bessere Meinung von den Menschen hatte, nein, noch habe. Denn ich bin überzeugt, sobald er sich darüber klar wird, was für eine Todsünde er begangen hat, wird er den einzig möglichen Weg einschlagen, sich vor seinem eigenen Gewissen wieder zu Ehren zu bringen.
Was meinst du?
Indem er dir seine Hand anträgt.
Nun, am Ende könnte dann das Gebackene vom Leichenschmauß noch kalte Hochzeitsschüsseln geben. Aber nein, Kind, zu dieser Hamlet-Parodie wird es nicht kommen. Einmal weil so ein freiherrliches Gewissen eine viel härtere Haut hat, als daß so ein kleiner Biß, noch dazu wegen einer recht standesmäßigen Sünde mit einer Dame vom Theater, es sonderlich incommodieren könnte. Zweitens aber – zur Heirath gehören bekanntlich Zwei, und ich würde, wenn er mir einen Antrag machte, ihm einen Korb geben, der nicht einmal mit einem Veronicastrauß verblümt wäre.
So sehr ist er dir zuwider? Aber du Entsetzliche, und doch hast du –
Versteh mich recht: er ist mir gar nicht zuwider, aber es wäre gegen meinen Stolz, zwei Dinge zu vermischen, die Nichts miteinander gemein haben. Daß ich nicht grausam gegen ihn war, that ich nicht pour ses beaux yeux, ich wollte nur meine Revanche haben für die Beleidigung durch den »Engel«, seine angebetete Frau. Diese Genugthuung würde mir gefälscht und geschmälert, wenn ich jetzt ihre Erbschaft anträte. Nein, er soll nicht glauben, ich sei eine schlaue Speculantin, die seine weiche, aufgelockerte sinnliche Stimmung sich zu Nutze gemacht hätte, ihn einzufangen. Von heut' an existiert er nicht mehr für mich, und um ihm darüber keinen Zweifel zu lassen, reise ich ab. Ich bin großmüthig genug, ihm die Beschämung zu ersparen, die er trotz seiner aristokratischen Anschauungen doch wohl empfinden würde, wenn er mir am hellen Tage in seiner tiefen Trauer begegnete und wir müßten die Komödie spielen, als hätten wir uns nicht bei Mondenschein in einer minder trostlosen Stimmung kennen gelernt.
Das Einzige, was ich bei der ganzen Sache beklage, fuhr sie vor sich hin nickend fort, ist der Verlust deiner Freundschaft. Denn ich fürchte, wenn du dich auch bemühen wolltest, den Abscheu zu verbergen, mit dem du mich von nun an betrachtest – mit dem besten Willen, Liebste –
Still! flüsterte die kleine Frau. Um Gotteswillen, er hat Alles gehört!
Sie standen sich ein paar Augenblicke regungslos, nach der Wand hin horchend, gegenüber.
Ich höre Nichts, sagte die Sängerin.
Doch, doch! Ich weiß Bescheid um jedes Geräusch nebenan. O Gott, hauchte sie, wie muß ihm zu Muthe sein! Er lag auf dem Ruhebett, dein Eintritt, unser Gespräch haben ihn aufgeweckt, und jetzt – er hat es nicht länger ausgehalten, er ist aufgestanden und hat den Tisch neben seinem Lager gerückt – er weiß, wie du von ihm denkst, daß es nicht eine flüchtige, zärtliche Verirrung von deiner Seite war, sondern eine kaltblütige That der Rache, daß du ihn verachtest, daß es ihm nie möglich wäre, was geschehen ist, zu sühnen durch die Hingabe seines ganzen Lebens an dich – und daß vollends noch eine Mitwisserin vorhanden ist – sage was du willst, es ist zu furchtbar!
Sie sank wieder auf das Sofa und starrte zu Boden, den Kopf in die Hand gestützt.
Beruhige dich, gutes Herz, versetzte die Sängerin. Man kommt über Manches hinweg, und wenn es bei ihm etwas länger dauert, als bei Anderen, unter andern Umständen, nun, jede Schuld rächt sich auf Erden. Ich habe, wie du weißt, die todte junge Baronin nicht geliebt. Aber eine etwas längere Nachwirkung ihrer Macht über den Gemahl hätte ich ihr doch gegönnt. Und jetzt – es ist wohl besser, wir Zwei nehmen gleich Abschied von einander. Denn meine Gegenwart wird dir schwerlich wohlthun, und ich kann nur von der Zukunft hoffen, daß sie, wenn du dich weiter im Leben umgesehen hast, dich lehren wird, auch über mich milder zu denken. Ich umarme dich nicht, du würdest es nur mit Widerstreben dulden. Diese Alpenveilchen aber erlaubst du mir wohl dir zu entführen. Ich möchte sie in meinen Jocelyn legen und zum Andenken aufbewahren an eine leider gewonnene Wette. Adieu, Liebste! Grüß deinen Gatten von mir, wenn du meinen Namen noch über die Lippen bringen magst.
*
Der Tag verging still und trübe. Ein feiner Regen verhüllte die hohen Gipfel, machte den Wald unwegsam und hielt die mißvergnügten Sommergäste in ihren Zimmern zurück, da der Barometer trotz der dichten schwarzen Mauer im Wetterwinkel hoch stand und Jeder hoffte, am Nachmittag werde sich der Himmel aufhellen.
Statt dessen verdunkelte er sich mehr und mehr, und auch ein Gewitter kam und rumorte und zog vorüber, ohne einen günstigen Umschlag bewirkt zu haben.
Niemand im Hause wunderte sich, daß man den trauernden Wittwer nicht zu Gesicht bekam. Man hörte, er habe sich zu Mittag auf seinem Zimmer servieren lassen, mit Schreiben von Briefen und Einpacken beschäftigt. Auch die beiden Freundinnen waren unsichtbar geblieben.
Gegen Abend, als das Wetter sich ein wenig besserte, stieg der Baron langsam die Treppe hinab und trat in das Comptoir zu ebener Erde, wo der Wirth hinter seinem Rechnungsbuche saß.
Er erklärte, er gedenke morgen früh abzureisen, bestellte einen Wagen nach dem ziemlich entfernten Bahnhof und wünschte schon heut seine Rechnung zu berichtigen. Für die Dienstboten händigte er dem Wirth eine ansehnliche Summe ein, dankte ihm für alle während der schweren Zeit seiner Frau bewiesene Aufmerksamkeit und ging dann, dem dicken Manne freundlich die Hand schüttelnd, aus dem Hause.
Der Wirth sah ihm nach, wie er den Weg nach dem Friedhof einschlug. Es schien ihm nur selbstverständlich, daß der Scheidende noch einmal das frisch ausgeworfene Grab besuchen wollte.
Es hat ihn doch arg gepackt! sagte er zu seiner Frau, die bei ihm eintrat.
Ei ja wohl, auch so vornehmen Herren wird Nichts erspart. Hast du gesehen, wie blaß er gewesen ist, grad' wie da die Wand? Und die Kniee haben ihn kaum tragen wollen, 's ist aber auch eine charmante Dame gewesen, die Baronin, so leicht findet er keine Zweite. Na, Gott tröst' die arme Seel'. Ein schönes Geld haben sie hier sitzen lassen.
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Am folgenden Tage lasen die Bewohner der Hauptstadt unter den Nachrichten aus Bädern und Sommerfrischen in ihrer Zeitung das Folgende:
Unserm gestrigen Bericht über die Beerdigung der allgemein beweinten Baronin *** müssen wir heute eine erschütternde Nachschrift hinzufügen. Am Abend nach dem Begräbnißtage hat man ihren jungen Gemahl – er stand erst im Alter von einunddreißig Jahren – auf dem Hügel, der sich über den sterblichen Resten seiner angebeteten Gattin wölbte, durch einen Revolverschuß in die rechte Schläfe entseelt aufgefunden. Ein Uebermaß treuer Liebe und Leidenschaft zu der Entschlafenen hat ihm den unseligen Entschluß eingegeben, da er den herben Verlust nicht glaubte überleben zu können. Er wird nun an der Seite der geliebten Frau bestattet werden, der bis zum letzten Athemzuge all seine Gefühle und Gedanken gewidmet waren.
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