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Es war im heißen Sommer neunzehnhundertelf, der Juli neigte sich dem Ende zu, ein heiterer Tag hielt seinen fast toskanisch blauen Himmel über München ausgespannt. Noch das gedämpfte Licht, das durch die rußigen Glasdächer des Hauptbahnhofes drang, trug Sonne in sich und ließ das Kunterbunt von sommerlich geputztem Menschenvolk, das unten auf den Steigen wimmelte, zu ruhiger Harmonie verschmelzen. Rauch puffte zornig oder wallte still aus stämmigen Lokomotivenschloten, er hüllte sich nach oben immer mehr in Glanz und floß unter dem Dach streifig zu Schwaden auseinander, durch die die Helle draußen wie durch einen zart gemusterten Achatschliff fiel, wechselnd von kaltem Weiß und duftigem Blaugrün über reich gestuftes Gelb bis zu den wie mit chinesischer Tusche untermalten Tinten eines warmen Brauns.
Der alte Bahnhof, sonst als häßlich in der Welt verschrien, hatte seinen schönen Tag. Nur schade: unter all den Augen, die das sahen, bemerkten es kaum zwei. Die Reisezeit stand grade recht in Blüte, es herrschte ein erbittertes Gedräng, Mundarten aller deutschen und so mancher fremder Gaue wurden laut. Die meisten dieser Leute, ob sie nun keuchend mit den Ellbogen fochten oder müßig warteten, trugen den gehetzten, leergequälten Ausdruck im Gesicht, der sich von selber einstellt, wo der Mensch seinem ertiftelten Gemächte, der Maschine, gegenübertritt. Seit sie ihm Zeit spart, hat er keine Zeit. Ein solches Bahnhofspublikum aus der Verkrampftheit in entfernte Dinge loszureißen und ihm die Augen für die nahe Wirklichkeit zu öffnen, braucht es sinnfälligerer Reize als die Schönheit glanzdurchwobnen Rauches. Die Schönheit einer jungen Dame etwa, zumal wenn sie herausfordernd modisch aufgetakelt ist, bewirkt schon mehr; die allgemeinste Teilnahme aber, wenn dies Wort für diese Sache paßt, erringt sich stets, was durch Absonderlichkeit die Spottsucht weckt.
Diese Art von Teilnahme erregte ein junger Herr, der eben aus der Schalterhalle trat. Wo er hier ging und stand, da wendeten sich Köpfe nach ihm um, man grinste hinter ihm drein, gutmütig oder hämisch, wie sich's eben traf. Feinfühlige Menschen freilich schauten ihm mit Bedauern nach, wohl auch von jenem halben Ekel angefaßt, der geradgewachsene Schönheitlinge beim Anblick eines Krüppels überläuft. Eins seiner Beine war zu kurz – sein rechter Stiefel zeigte eine Sohle von mindestens drei Fingerbreiten Höhe. Die richtige Dicke war das keinesfalls – sonst hätte dies Opfer schusterhafter Orthopädie nicht so fanatisch, durfte man wohl sagen, hinken können. Im übrigen war er auffallend dürr und eher groß als klein, engbrüstig und schmalschultrig. Sein feingeschnittenes Gesicht wies eine ungesunde Blässe auf, mit leiser Rötung überall, wo diese Farbe störend wirkt. Zu langes Haar, hell aschblond wie der ausgefranste kleine Schnurrbart, hing ihm in glatten Strähnen auf den Kragen nieder. Die Augen sah man nicht: ein schwarzes Glas verdeckte sie, ein Kneifer mit zu klobigem schwarzem Horngestell, der statt an eine Schnur an ein fast fingerbreites schwarzes Doppelband gekettet war. All dies Schwarz ließ sein Gesicht noch käsiger erscheinen.
Schief auf seinem Kopf saß ein für ihn zu großer, aus ungebleichtem Leinenstoff genähter, kühn zerknüllter Hut. Um den lila und weiß gestreiften Kragen war eine sogenannte Künstlerschleife von lebhaftem Grün geschlungen. Eigenwillig zusammengestellt erschien der Anzug: ein graugelber kurzer Schoßrock, eine Weste aus blaugrundigem Goldbrokat und weite Hosen von der Art, die man Pepitahosen nennt – das Ganze offenbar das Werk eines bescheidnen Winkelschneiders in einem weltverlorenen Nest. Etwas vollkommen Zeitentrücktes aber lieh dem Menschen seine Reiseausrüstung im engeren Sinn. An einem Riemen umgehängt trug er eine der ledernen, mit überflüssigem Weißmetall bepflasterten »Kuriertaschen«, die weiland unsern Vätern auf der Reise unentbehrlich schienen, über die Schulter hatte er ein schmalgefaltetes altmodisch großes Plaid geworfen, und von seinen Händen schleppte die linke schwer an einem mit abgewetztem rotem Plüsch bezognen Mantelsack. Die stärkste Verblüffung aber weckte das Gerät, das der seltsame Reisende in seiner Rechten hielt. Es war nicht etwa ein handfester Stock, als Hilfe für den kurzen Fuß, nein, es war eine Reitgerte, hell buttergelb lackiert, von ungewöhnlich mächtigem Format. Zu welchem Zweck sie dienen mochte, blieb ein Rätsel; denn sich diesen Mann zu Pferde auszumalen, überstieg die üppigste Einbildungskraft.
Eine so seltsame Erscheinung war der junge Mann, der um die Mittagsstunde eines Tages gegen Ende Juli im Jahre neunzehnhundertelf stark hinkend aus der Schalterhalle des Münchner Hauptbahnhofes trat. Es wirkte fast, als würde er trotz seinem schwarzen Glas geblendet durch das farbige Gewühl: er machte staunend halt, und zwar so nah der Windfangtür, daß die ihm einen Puff ans Schulterblatt versetzte.
»Äcks!« schrie er auf, drehte den Kopf herum und fügte mit leisem Vorwurf väterlich hinzu: »Nu, nu! Wie kann man denn!« Dies galt der Tür. Er redete mit ihr, wie man mit einem Menschen spricht. Zugleich trat er um einen Schritt zurück und stieß an etwas federnd Pralles hin.
»Soß!« warnte eine heisere Baßstimme hinter ihm.
Der junge Mann fuhr jäh herum. Ein dicker Herr mit ungepflegtem Hängeschnauzbart in dem rundlichen Gesicht warf ihm aus wasserblauen Äuglein grimmige Blicke zu.
»Pardon! Wie meinten Sie? Ich konnte nicht verstehn?« fragte der Fremde in unverfälschtem Baltisch-Deutsch.
»Steigen S' mir gleich am Kopf!« erklärte sich der Münchner deutlicher. Nun aber sah er, was der Preuße – dafür hielt er ihn – für ein »z'samm'zupftes Mannsbild« war, und fuhr friedlicher fort: »Tun S' a bißl Obacht gebn, Herr Nachbar, gel?«
Die Ehrung mit dem Nachbartitel versetzte den andern in einen leicht ironisch abgedämpften Wonnetaumel. Er strahlte wie ein Ethnolog, dem es im Urbusch Neuguineas an dem Verhalten eines redlichen Kanakers aufgeht, daß man Menschen fressen kann und deshalb doch kein schlechterer Mensch zu sein braucht als die angeblich so kultivierten Europäer. »Herr ... ä ...« Er wollte »Nachbar« sagen, brachte es aber doch nicht recht heraus. »Ach, bitte, können Sie mir nicht ...? In dieser Riesen-Station ... Der Zug nach Tegernsee, wo jeht er ab?«
»Was? Tegernsee? Im Südbau drüben.« Der Münchner wollte grade durch eine träge Drehung seines Ellbogens in die Richtung weisen, als etwas Furchtbares geschah: ein junger »Gent« schoß eilig zwischen den beiden durch und stieß mit seiner Handtasche an das linke Schienbein des dicken Herrn. Der wendete sich um und wurde blau. Mit einer Stimme, die vor Wut beinahe röchelte, schrie er: »Ja Sapperlott! Schlawak hundshäutener!« und stürzte, zum äußersten entschlossen, dem Frechling nach. Der aber tat gar nicht dergleichen und ließ sich vom Gedräng verschlucken, weil ihm an der Begegnung offenbar nichts lag. Doch auch der Dicke gab beim vierten Schritt schon keuchend die Verfolgung auf. Da er den Feind nicht hatte in der Luft zerreißen können, tat er sein Bestes, ihn wenigstens moralisch abzutun. »Pfundshammel gräuslicher! Geh her, du, wanns d'dir traust!« schrie er und schob, um seine Kampfbereitschaft zu beweisen, den Ärmel drohend vom Handgelenk zurück. Und selbst als er schon seinen Rückzug nach der Schalterhalle angetreten hatte, schaute er, daß jeder wisse, wer der Sieger sei, noch einige Male hinter sich und stieß drohende Töne aus.
Der Balte folgte ihm beifällig mit dem Blick und stellte sachlich fest: »Die Leidenschaft des Greises ist enorm.« Das klang fast wie ein Übungsbeispiel aus dem »Kleinen Plötz«. Dann aber fiel ihm wieder ein, was jetzt die Stunde von ihm forderte, und er fuhr lächelnd fort: »Erbarmung, Südbau! Ich soll wissen!« Unschlüssig spähte er umher, faßte endlich einen Entschluß, raffte den Mantelsack vom Boden auf und hinkte, einer dunkeln Stimme seines Innern folgend, gegen Norden, das ist klar. So mußte er, als es nach dieser Seite nicht mehr weiter ging, quer durch den ganzen Hauptbahnhof zurück. Je länger sich sein Weg erstreckte, desto heller strahlte sein Gesicht; und als er endlich doch am Ziele stand, sprach er begeistert vor sich hin: »Hab ich es nicht jewußt! Der letzte wieder mal von sämtlichen Perrons!« Er kramte in der Umhängtasche zapplig nach der Fahrkarte, fand sie zum Schluß im rechten seiner gelben Zwirnhandschuhe, reichte sie dem Beamten an der Sperre und fragte argwöhnisch: »Dies ist doch auch der richtije Zug nach Tegernsee?«
»Ja, freilich«, murmelte der Eisenbahner, und die Zange machte knips.
»Wei, warum is dann außerdem noch Tölz und ... und, was weiß ich ... Dingsda anjeschrieben?«
Das wurde ihm ausführlich erklärt und daran der Rat geknüpft, er möge einen der direkten Wagen wählen, damit er unterwegs nicht umzusteigen brauche.
»Hotz, das versteht sich wohl von selbst! Der weise Mann baut vor und lehnt jegliche Kraftverjeudung ab«, erklärte er und hinkte los. Als er dann aber die direkten Wagen München-Tegernsee erreichte, flößten sie ihm doch nicht genug Vertrauen ein – er hoffte offenbar auf noch direktere zu stoßen.
So kam er schließlich vorn bei der Lokomotive an, wo ihm nichts übrigblieb, als wieder einmal umzukehren. Erfreulich dünkte ihn das nun nicht mehr – sein Mantelsack bekam allmählich ein abscheuliches Gewicht. Er schleppte sich noch ein Weilchen fort, beachtete jetzt aber keine Richtungstafel mehr, sondern wendete sich bald mit einem Ruck nach links und stieg in den nächstbesten Wagen ein. Etwas von Spannung fühlte er immerhin, als er die Schiebetür aufmachte. Gott sei Dank: er sah sich in der dritten Klasse, es war nicht einmal voll; ah, und da hinten wurde auch geraucht. Was wollte er noch mehr! Ob er in Zukunft einmal umzusteigen hätte, focht ihn fürs erste wenig an. »Vorbauen« mochte der Pedant, der weise Mann vertraute seinem Stern.
Er wählte mit Bedacht den Fensterplatz auf einer zweisitzigen Bank, wo er zunächst für sich allein und ohne Gegenüber war. Kaum daß er dasaß, steckte er sich schon eine Zigarette an. Wie gut tat nach der langen Pause dieser erste Zug! Bald fühlte er sich dank dem Tabak wieder obenauf und sah neugierig in die Welt!
Welch sonderbares Volk da mit der Zeit hereingezogen kam! Die größte Freude machte ihm ein langer Lümmel in Schlierseer Tracht, der mit gebirglerischer »Echtheit« so behängt war, daß er selbst auf den Fremdling aus dem Baltenland, obgleich der Ahnungslose ihn für einen richtigen Bauern hielt, nicht anders als belustigend wirken konnte. »Die Einjeborenen von Tegernsee sind lebhaft in der Farbe und tragen Jötzenbilder in Jestalt silberner Pferde auf dem Bauch«, sprach er vergnügt zu sich. Er hatte anscheinend für solche lehrbuchhaften Feststellungen was übrig.
Der Wagen füllte sich nur langsam, und der Balte hoffte immer stärker, daß ihm unterwegs die lieben Nächsten nicht belästigend nah zu Leibe rücken würden. Das Schicksal schien ja seinen Wünschen unberufen hold zu sein: schon kreischte eine Pfeife anspornend durch die Luft und setzte auf dem Bahnsteig viele Füße in Galopp, die eben noch gemächlich hingeschlendert waren, indessen sich hier drinnen tugendstolze Schadenfreude ob des Gelaufs der Spätlinge erhob; schon gellte, kurz jetzt und gebieterisch, der zweite Pfiff, schon knarrte durch den Wagenbau verstohlen ein wehleidiges Geächz, schon kam, was vor den Fenstern festgestanden hatte, in ein für den ersten Blick beinah gespensterhaftes Rückwärtsfließen, und immer noch saß er allein. Da, horch: die Schiebetür rückwärts von ihm flog in die Wand und krachte wieder zu. Er schaute sich nicht um – er wußte schon Bescheid.
Und richtig, eine helle Männerstimme fragte: »Bitte, ist da frei?«
Der Balte nickte gottergeben.
Ein junger Mann, fürs erste nur von hinten sichtbar, hob seine Handtasche aus einem zweifelhaften Stoff, der sich umsonst bemühte, Leder vorzutäuschen, schwungvoll ins Netz. Dann drehte er sich um und sank, erleichtert seufzend, auf den anderen Fensterplatz. »Die Ehre!« sagte er noch atemlos, nahm seinen sonnverbrannten Strohhut von der üppigen Frisur, zog ein vor ein paar Tagen frisch gewesenes Taschentuch hervor und wischte sich umständlich den Schweiß. Da stockte ihm die Hand, er starrte verwundert auf sein Gegenüber. Was war das für ein sonderbarer Kauz! Aber er faßte sich sogleich und tat, als wäre gar nicht er so überrascht gewesen.
Der Balte hatte zu dem Gruß nur stumm genickt. Auf einmal wurden seine Augen gleichfalls groß, das heißt, will man genau sein, wohl nur eins von ihnen. Denn jetzt, wo er das schwarze Glas nicht mehr trug, zeigte sich's, daß, wie sein rechtes Bein, so auch sein rechtes Auge seltsam verkümmert wirkte und bedeutend kleiner als das linke war. Das Erstaunen aber blitzte bei ihm nur flüchtig auf, dann sah er wieder gelangweilt drein. »Eine Hitze hat es!« suchte der andre eine Unterhaltung anzuspinnen.
»Hm«, entgegnete der Balte ablehnend und blickte durch das Fenster in die Welt hinaus, obgleich die hier, so nah beim Hauptbahnhof, recht arm an landschaftlichen Reizen schien.
Bei flüchtiger Betrachtung hielt man den neuen Fahrgast für einen dürren kleinen Kerl mit »überlebensgroßem« Kopf, schaute man aber näher hin, so merkte man, daß nur die Haartracht seinem Schädel diesen Schein von Größe lieh. Er war getreu nach einem Idealporträt Ludwig van Beethovens frisiert und also wahrscheinlich ein Glied der Musikantengilde, die sich die Lebensüberwinderlocken, die dem Meister selbst nur von Kitschmalern angedichtet wurden, zum Vereinsabzeichen auserkoren hat. Die dunkle Haarfülle beschattete ein bartloses, heute aber noch nicht rasiertes lebhaftes Gesicht, das etwas Verschobnes und Verdrücktes aufwies. Breite Backenknochen über hohlen Wangen, niedrige Stirn, kurze Stülpnase, grob geformter sinnlicher Mund, vorspringendes Kinn, neugierig wache braune Augen, deren Blick nur selten standhielt und, wenn er es einmal tat, etwas gewaltsam Harmloses bekam – der ganze Mensch so etwa in der Mitte zwischen Lausbub und Verbrecher, naiv und hinterhältig, frech und unsicher zugleich. Ein Mehltau gleichsam von Schäbigkeit lag über der Erscheinung dieses jungen Herrn, der ungewaschen wirkte, obgleich er sich, vielleicht, sehr gründlich wusch. Es gibt ja Leute, die sich das Waschen ruhig sparen dürften, weil man es ihnen ohnehin nicht glaubt.
Sich selbst gefiel der junge Mann, und deshalb dünkte es ihn kaum begreiflich, daß ihn sein Gegenüber einfach schnitt. Und darum wohl lag ein gewollter Schwung darin, als jetzt auch er sich eine Zigarette aus der Schachtel klaubte und sie anzündete. Dann sank er, wie erschöpft vom Tragen seines großen Kopfes, schlaff in sich zusammen, stützte den Ellbogen aufs Knie und seine Wange an die Faust und sah unter grüblerisch gefurchten Brauen in die Grenzenlosigkeit des Alls und seiner eigenen Tiefen, kurz, ließ es sich der Mühe nicht verdrießen, ungemein bedeutend auszusehn.
Der Balte blieb hartnäckig blind dafür, wenngleich ein Lächeln, das zuweilen hehlings seinen Mund umspielte, den Verdacht erregen konnte, es sei nicht nur die Landschaft Oberbayerns, was ihn so erheiterte.
Als aber dann der Zug zum dritten oder vierten Male hielt, wurde er unruhig und sah sein Gegenüber hilfesuchend an. Denn dies war eine größere Station, der Schaffner leierte da draußen eine lange Litanei, von der man nicht ein Wort verstand, und viele Leute drängten sich zur Tür hinaus. »Erbarmung«, sagte er, »muß ich hier umsteijen?«
Der Musiker erwachte bemerkenswert geschwind aus seiner Versunkenheit: »Kommt ganz drauf an, wohin Sie fahren.«
»Wei, nach Tegernsee!«
»Dann bleiben Sie nur sitzen! Dieser Wagen hier geht Tegernsee direkt.«
»Hotz, soll das möglich sein! Und wissen Sie es auch jenau?«
»Na klar! Ich fahr ja selbst nach Tegernsee. Und möglich? Warum nicht?«
»Ja, weil ... Ich habe ersten, wie ich einstieg, gar nicht nachjesehn. Und dann führt einen Gottes Jüte sonst doch rejelmäßig in den unjeeigneten Waggon.«
»Man kann doch aber nachschaun«, fand der Musiker.
»Nein, wirklich?« rief der Balte überrascht. »Wer hätte das vor einem Jahr jedacht!«
Der andere schlug verwirrt die Augen nieder und sagte wie beiläufig: »Ich hab in Tegernsee auch einen alten Freund, der Balte ist.«
»Herrje, wie wissen Sie?«
»No, nach dem Dialekt.«
»Ich? Welche Kränkung!«
»Das kenn ich genau. Ich war ja selbst im Sommer sieben droben engagiert.«
»Ja drum! Wo hatt ich meinen Kopf!« sagte der Balte etwas rätselhaft.
»Wie meinen?«
»Nein, ach nichts! Pardon, daß ich Sie unterbrach! Sie haben also einen Freund am Tegernsee, der auch ...?«
»Ja, ein Graf Groot von Brokkenhuus«, warf der Gefragte lässig ein.
Der Balte sagte nichts als: »Ach?« Vielleicht verschlug Bewunderung ihm die Rede.
»Den Namen kennen Sie ja wohl?« meinte der Musiker. »Schließlich, dort in Ihrem kleinen Land ...«
»Die ganze Welt erweist sich mir in diesem Augenblick als riesig klein«, fiel ihm der sonderbare Fremdling, wieder ziemlich rätselhaft, ins Wort.
»Was?« rief der andere. »Sie kennen ihn wohl selbst?«
»Bei seinem leiblichen Onkel kann man das ja nicht vermeiden.«
»Nein, der Zufall!« klang es hastig zurück. »Ja, ich kenn den Herrn Grafen Brokkenhuus recht gut. Ich hab ihn ... öfters getroffen bei dem Doktor Rapp. Ja, und ... der Doktor Rapp ist ein intimer Freund von mir. Aber Sie kennen ihn wohl auch?«
»Pfui, keine Spur, ich kenn ihn nicht, ich hab ihn nie jesehn, auch seinen Namen nie jehört, ich bin nicht mal mit ihm – befreundet«, sagte der Balte unschuldsvoll.
Dem andern gab es einen Stoß, doch er verschluckte seinen Zorn und antwortete anscheinend arglos lächelnd: »Den Namen Rapp haben Sie sicher oft gehört.«
»Nicht daß ich wüßte! – Doch, ach ja! Napoleon hatte jemand um sich, der so hieß.«
»Den mein ich nicht. Sie werden aber wohl schon Rappenbräu getrunken haben?«
»Münchner Rappenbräu? Das allerdings. Und dann?«
»Da steckt der Name Rapp doch drin.«
»Hei, Gott zum Gruß: ein Witz!« Der Balte lächelte mit heiterer Höflichkeit.
»Erbarmung, halten Sie mich, bitte, nicht für zu naiv! Dies Bier ist nach dem schwarzen Pferd benannt, das selbige Brauerei im Wappen führt.«
»Und dieses schwarze Pferd verdankt sein Dasein halt dem Namen Rapp. Die Rapps sind eine altberühmte Münchner Brauerdynastie.«
Der Balte nahm auch das als Witz und lachte: »Dynastie ist nett jesagt.«
»Was glauben Sie!« entgegnete der Musiker. »Die Geheimrätin, vom Doktor Rapp die Mutter, heißen sie in München überhaupt bloß Königin Gambrina.«
»Anmutig! Und sie bildet sich noch was drauf ein?«
»Die schon! Das kann sie auch, bei ihrem Geld!« Der Musiker stieß einen neidischen Seufzer aus. »Da muß ich sagen, daß mein Freund, der Doktor ...«
»Der Großfürst-Thronfolger Cäsarewitsch?«
»Nein, der ist nicht so. Er gibt sich ganz gemütlich münchnerisch.«
»Hotz tausend! In der Tat: leutselig wie ein andrer Mensch, obwohl er, sag und schreibe, Bier erzeugt?«
»Woher doch! Ach, Sie meinen, der braut Bier?«
»Nicht mal? Was macht er dann?«
»No, so ... Privatgelehrter schimpft er sich, obschon er's gar nicht nötig hat. Er schafft sich auch nicht tot mit der Chemie. Die Rappenbrauerei ist längst in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, und da sitzt der Doktor Rapp feudal im Aufsichtsrat und schiebt so recht kommod bloß Dividenden und Tantiemen ein.«
»Wohl ihm!« erwiderte der Balte.
»Ja, wir sind per Du!« sagte der Musiker ohne rechten Zusammenhang.
»Wohl Ihnen!«
»Und Ihr Herr Onkel auch.«
»Pardon! Sie duzen sich mit Onkel Woldemar?«
»Ach so!« Der Balte schien beruhigt, aber auch gelangweilt. Seine Augen schweiften wieder in die Gegend, die nun etwas Hügliges bekam. Als er aber ein paar Minuten später sein Etui aus Birkenmaserholz hervorzog, hielt er es doch dem andern hin und sagte: »Hei, verjiften wir uns mild mit Nikotin! Sie rauchen wohl? Ach ja, natürlich rauchen Sie.«
»Dank schön! Ich mag Sie aber nicht berauben.«
»Was heißt berauben? Bitte, nehmen Sie! Ganz rauchbare Papiros, selbst jestopft.«
»Dann bin ich so frei, Herr Graf.«
»Erbarmen Sie sich! Graf? Wie kommen Sie auf die Idee?«
»Wenn doch Graf Brokkenhuus Ihr Onkel ist?«
»Dann müssen alle seine Neffen Grafen sein?«
»Leiblicher Onkel, haben Sie mir doch gesagt?«
Der Balte sah pfiffig gespannt aus, als er lässigen Tones fragte: »Und dann? Ich setz voraus, daß Sie gleichfalls das obligate Dutzend Onkel haben. Heißen die nu durch die Bank – Bachhuber?«
Die Wirkung, die dies Wort erzielte, übertraf sein Hoffen noch. Der andre knallte einfach an die Banklehne zurück und saß mit offenem Munde da. »Wo ... woher wissen Sie?« rang es sich aus ihm los.
»Ihr Name prägt sich leichter ein als – Rapp. Franz de Paula Bachhuber – das klingt! Pardon übrijens, ich heiße Henne, einfach bürjerlich.«
»He ... henne?«
»Ja. Erschrecken Sie darüber nicht! Es ist mir selbst nicht anjenehm.«
»Und woher kennen Sie mich eigentlich? Dann hat die ›Woche‹ also doch mein Bild gebracht? Wann war es denn beiläufig drin?«
»Da bin ich überfragt, ich les' die ›Woche‹ nie.«
»Ja, aber woher sonst?«
»Denken Sie bißchen nach!« Der Balte drückte sein größeres Auge zu. »Ich seh Sie vor mir: nicht verkleinert in der ›Woche‹, sondern lebensgroß im Frack. Sie streichen sich die Locken aus der Stirn und machen Ihr Paklonn.«
»Was heißt: Paklonn?«
»Ihre Verneijung. Und die Menschen trinken helles Kymmelsches Bier und rasen milde vor Bejeisterung. Es ist fast auf den Tag vier Jahre her.«
»Sie waren bei der Uraufführung meiner Zarathustra-Symphonie am Rigaschen Strande in Majorenhof bei Horn?«
»Ich war.«
»Und wie hat Ihnen meine Symphonie gefallen?«
»Wei, mir jefiel sie wohl nicht«, sagte Henne schlicht.
Der Musiker war starr und zwang sich mühselig die Antwort ab: »Sie sind – sehr aufrichtig.«
»Erscheint das Ihnen als moralischer Defekt?«
»Ich find es wenigstens – originell.«
»Ja, eben, wenn ein Mensch die Wahrheit sagt, jilt er sofort als orijineller Kopf. Und es ist auch bequem, denn Lüjen kompliziert den Denkprozeß doch unjemein«, erklärte Henne mit dem ernstesten Gesicht.
»Sie lügen also nie?«
»Nie – wär schon wieder eine Lüje, weil zuviel behauptet. Aber nicht nur aus Spielerei und dummer Anjewohnheit, wie das üblich ist.«
»Und ... verstehn Sie denn was von Musik?«
»Jenau so viel, wie Gott mir gab.«
»Was? Sind Sie Musiker?«
»Im Jegenteil: Rendant.«
»Rendant?«
»An der Stadtsparkasse in Riga, ja. Sie hätten mir den widernatürlichen Verkehr mit Kassabüchern wohl nicht zujetraut? Rendanten hier im Ausland sehn meist anders aus?«
»Allerdings.« Bachhuber lachte schluckend auf.
»In Riga auch«, verriet ihm Henne. »Aber dies Unrendantische in der Erscheinung ist in mancher Hinsicht Goldes wert. Es ärjert meine Direktoren, wissen Sie.«
»Und andre Leute ärgern – freut Sie scheinbar?«
»Ach, Papping, immer noch bei Ihrer Symphonie?«
»Lachhaft, finden Sie sie ruhig schlecht! Und, das geb ich selber zu: es war noch eine Jugendarbeit. Ich kann heute mehr.«
»Wie anjenehm für Sie!«
»Bedenken Sie auch die Verhältnisse! Ich stamme von ganz kleinen Leuten her. Ich habe mir mein Brot verdienen müssen, ja!«
»Doll!« rief der Balte überwältigt.
Bachhuber zog die Stirn in Falten. »Spotten ist leicht. Sein Sie aber bloß einmal jahrelang Cellist in Kurkapellen oder an Provinztheatern! Stumpfsinnig dazuhocken und beiläufig alle drei Minuten einmal auf dem Marterholz von Instrument schrumm schrumm zu machen – das ist eine Lust!«
»Nu, und wo machen Sie zur Zeit schrumm schrumm? In Tegernsee?«
»Nein, das ist Gott sei Dank vorbei: grad damals nach dem Abschluß der Saison im Sommer sieben in Majorenhof hab ich den Bettel einfach hingeschmissen.«
»Beinah vier Jahre schon? Warum rejen Sie sich dann noch drüber auf?«
»Die Jahre vorher reuen einen doch. Was hätte man da alles schaffen können!«
»Das haben Sie seitdem wohl nachjeholt? Sie stehn vermutlich schon bei Ihrer neunten Symphonie und lejen Beethoven jewaltije Rekorde vor?«
»Och, Symphonien, nein, die zahlen sich nicht aus. Aber ich bin jetzt über einer Oper, die was Unerhörtes wird!«
»Nu, ein Bewunderer ist schließlich auch schon was!«
»Wir könnten endlich wohl das Thema wechseln! Finden Sie nicht auch?« fauchte der Musiker erbost.
»Warum nicht? Nichts dajejen! Wechseln Sie!« Henne schaute sein Gegenüber mit heitrer Erwartung an. Bachhuber wurde unter diesem Blick verlegen; er öffnete zwei-, dreimal seinen Mund zum Sprechen, sagte aber nichts. Doch da geschah etwas: Der Zug fuhr eben über eine Weiche hin, wodurch der Wagen stark ins Schwanken kam, und dieser Ruck warf einen länglichen, dünnen, buttergelben Gegenstand, der oben im Netz gelegen hatte, auf des Balten Knie und von dort auf seine Stiefelspitzen nieder.
»Äcks!« stöhnte Henne, faßte sich aber sofort und meinte: »O wie gut, daß das kein Jeldschrank war!« Er bückte sich, hob die Reitpeitsche auf, zeigte sie dem Musiker und sagte ernst: »Gott hilft. Hier ist schon der Jesprächsstoff, dessen sie ermangelten.«
Bachhuber fragte starr: »Gehört die Ihnen? Sie sind Reiter?«
»Funfzehn!« stellte der Balte tiefbefriedigt fest. Im andern regte sich der Verdacht, der Mensch sei nicht gesund im Kopf. Henne aber fuhr fort: »Seit ich von Riga abreiste, sind Sie der Funfzehnte, der mich das fragt.«
»Das haben Sie gezählt? Die Frage liegt ja auch nicht fern.«
»Seh ich denn aus, als ob ich mich selbstmörderisch entschließen könnte, auf ein wildes Tier hinaufzuklettern? Ich schließe schon mit meinem Leben ab, wenn ich in einen Kaseliner steije.«
»Was heißt: Kaseliner?«
»Nu, ein Fuhrmann.«
»Ach, eine Droschke! No, dann sind Sie offenbar recht ängstlicher Natur.«
»Wahnsinnig feig sogar«, erwiderte der Balte.
»Und das geben Sie so schlankweg zu?«
»Gottchen, Sie wissen doch, daß ich der orijinellen Wirkung halber meist die Wahrheit sag. Nu, und ein Hinkepink wie ich ...«
»Ein, bitte, was?«
»Ich hab doch da das hinkende Jebein.« Der Balte zeigte seine dicke Sohle vor.
»Ach, woher haben Sie denn das?«
»So?« Bachhuber schwieg verlegen eine Weile. Dann fuhr er fort: »Eigenartig: auch Ihr Onkel, der Herr Graf, ist nicht recht gut zu Fuß.«
»Das hat nu wieder andere Gründe. A propos: ich war zwölf Jahre nicht mehr mit ihm zusammen. Wie sieht er denn aus?«
»Mei, wie ein Toter, den man wieder ausgebuddelt hat.«
»Welch freundliche Beschreibung!«
»Ihm selber«, fügte Bachhuber hinzu, »dürfte ich das ja zwar nicht sagen. Darin ist er sonderbar.«
»Orijinell im höchsten Grad«, gab Henne zu. »Also jehts ihm jesundheitlich wohl nicht besonders? Davon schrieb er nie ein Wort.«
»No ja, die Füße wollen nimmer recht. Sie wissen doch? ›Vergnügte Beine‹, wie's der Berliner heißt.«
Henne stieß einen Seufzer aus. »Vergnügte Beine. Anjenehm frivol! Sonst aber wird er eher melancholisch sein.«
»Nein, der Herr Graf ist immer guter Laune.«
»Immer?«
»Wenn ich ihn gesehn hab ...«
»Sie sehn ihn wohl nicht immer.«
»Häufig doch. Beim Doktor Rapp.«
»Verkehrt er denn so viel in diesem Philisteer?«
»Jeden Abend bereits. Die zwei sind dicke Freunde, und sie wohnen ja auch dicht beisammen. Nein, der Herr Graf bläst niemals Trübsal, er macht seine Witzchen, trinkt recht gern sein Glaserl ... Wird ihm nicht leicht zu spät; er macht der schönen Centa so auf seine Art den Hof ...«
»Der schönen Senta?«
»Centa«, verbesserte Bachhuber.
»Gut, spricht man den Namen falsch aus!« sagte Henne nachgiebig. »So, so, der Frau von seinem besten Freund!«
»No, was man seine Frau nennt, ist sie ja zwar nicht.«
»Erbarmung, was denn sonst?«
»Seine Mätresse?« fragte Henne neugierig.
Bachhuber lächelte. »Den Titel würd ich ihr an Ihrer Stelle doch nicht geben, wenn sie's hört.«
»Ich danke Ihnen für den guten Rat. Sonst hätt ich es bestimmt jetan.«
»Sie müssen mich fei auch nicht mißverstehn«, betonte Bachhuber. »Er schneidet ihr natürlich bloß im Scherz die Cour. Obzwar ... Trotz seinen Jahren und ... Er ist noch alleweil ein Bewunderer des schöneren Geschlechts.«
»Ich hab sein frühes Altern auch noch nie auf Weiberhaß zurückjeführt«, lächelte Henne. »Und ist denn die Marjell wirklich so hübsch?«
»Das glaub ich!« sagte der Musiker. »Kopf größer bald wie ich! Wenn eine Frau mich reizen soll, dann muß sie groß sein; finden Sie nicht auch? Groß, üppig und gesund. Und nicht zu klug. – Ja, ja, der tut sich leicht, der Rapp«, fuhr er plötzlich gehässig fort, »mit seinem ekelhaften Geld! Schmeißt es für sich hinaus wie Dreck, der Protz! Und wenn ... Ach was, hol ihn der Fuchs!«
»Die Freundschaft macht Sie wenigstens nicht blind«, erkannte Henne freudig an.
Der Musiker rief hastig: »Dies selbstverständlich – unter uns! Sie sagen doch dem Doktor Rapp nicht wieder, was ich ...?«
»Ach? Ist das hiesiger Komment?« erkundigte sich Henne.
»Dann hab ich Ihr Wort?« forschte Bachhuber nicht ganz unbesorgt.
»Nein, keine Angst! Aber mein Ehrenwort braucht man deswegen wohl nicht zu bemühn. Erzählen Sie mir lieber noch was von Onkel Woldemar und Fräulein Senta. Wie ist sie denn sonst?«
»Nicht weiter welterschütternd. Kleines Münchner Bürgersmädel von solidem Mittelschlag.«
»Solid? Ach was?«
»No, immerhin k. b. Beamtenstochter!«
»Beamter ist ein weites Feld. Beamter kann Minister heißen oder Konduktör.«
»Ihr Vater ist sogar was bei der Bahn gewesen. Oberexpeditor oder so. Nix Hohes, aber – im innern Dienst. Darauf legt sie besonderes Gewicht.« Bachhuber grinste hämisch. »Und vielleicht wird sie doch noch Frau Doktor Rapp. Ich glaub zwar nicht, daß er drauf Wert legt, aber wenn sie's auf Biegen oder Brechen anlegt ...«
»Dann glauben Sie, daß er ...?« Der Balte hob mit beiden Händen die Reitgerte von seinen Knien und formte sie bedeutungsvoll zum Bogen.
Bachhuber sah ihm versonnen zu. »Wenn Sie nicht reiten«, begann er unvermittelt, »was machen Sie dann mit dem Ding?«
»Ich fürchte mich vor Hunden«, sagte Henne.
»Wie meinen? Ach, Sie schlagen damit zu, wenn Ihnen ein Hund ...?«
»Erbarmung, nein! Ich halt sie in der Hand. Von weitem denken sich naivere Hunde doch vielleicht ...«
»Daß einer sich vor Hunden fürchten mag!« Bachhuber fand das unglaubhaft. »Wenn Sie von Löwen oder Tigern reden würden! Aber ein Hund, der einem, der ihn schindet, noch die Hände schleckt!«
»Das ist, pardon, der ahnungslose Menschengrößenwahn. Wenn man ein Tier durch dammlije Dressur verpfuscht, glaubt man, daß man es auch durchschaut! In jedem Hunde steckt der Wolf.«
»In jedem Menschen steckt der Aff!« bemerkte der Musiker.
»Die Anwesenden, hoff ich, ausjenommen?« fragte Henne.
»Sie müssen es nicht gleich auf sich beziehn.«
»Ich dachte eijentlich wohl nicht an mich.«
»Und schließlich stammen wir doch von den Affen ab. Liegt darin etwas Kränkendes?« »Sie meinen: für die Affen?«
Bachhuber schaute eine Minute wie traumverloren vor sich hin. Dann rief er mit einer gewissen Bitterkeit: »Herrschaft, man wünschte sich manchmal, man wär ein Aff!«
»Ja, ich versteh«, der Balte lächelte, »sie säen nicht, sie ernten nicht, sie komponieren niemals frei nach Richard, sei es Wagner, sei es Strauß.«
»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie meine Oper freundlichst aus dem Spiele ließen!«
»So? Wieder schon ein Themawechsel anjenehm? Es sei!« antwortete Henne, schob eine wirkungsvolle Pause ein und fuhr im Plaudertone fort: »Bildschönes Wetter heute, nicht?«
»Hm«, machte Bachhuber.
»Und jestern auch.«
»Hm.«
»Überhaupt die ganze Zeit schon.«
»Hm.«
»Der Barometerstand scheint meinen Plänen jünstig.«
»So? Was haben Sie denn vor?« fragte der Musiker und – ärgerte sich, weil ihm das wider Willen herausgefahren war.
»Vor?« erwiderte der Balte. »Zunächst so vierzehn Tage Tegernsee.«
Ob er von dort aus wieder heimwärts führe, wollte Bachhuber wissen.
»Pfui«, sagte Henne, »wo ich jetzt zum erstenmal im Ausland bin, gras' ich lieber noch bißchen mehr von Deutschland ab.«
»Wo wollen Sie denn alles hin?«
»Nu, wird man sehn! Ich überlaß es der höheren Jewalt.«
»Sie stellen Ihren Reiseplan also gewissermaßen – Gott an= heim?« spöttelte Bachhuber.
»Gott scheint mir doch klein bißchen hoch jegriffen«, meinte Henne nicht besonders klar.
»Dem Zufall also?«
»Nein.« Der Balte schüttelte den Kopf. »Zufall ist er auch nicht in höherem Grad als jeder andre Mensch. Im Jejenteil: als Majoratsherr wird man meist wohl nicht nur aus Versehen in die Welt jesetzt.«
»Was? Wer ist Majoratsherr?« rief der Musiker.
»Mein Reisekamerad.«
Bachhuber starrt staunend auf den leeren Platz zur Seite des andern hin.
»Ach, suchen Sie ihn nicht!« riet dieser ihm. »Wenn er vorhanden wäre, hätten Sie ihn längst bemerkt. Er ist von sehr jewaltigem Format: sechs Fuß, drei Zoll. Der Gute badet sich erst noch in Gastein den Rheumatismus ab und kommt dann nach. Das jebe der Allmächtige! Ich bin ihm nämlich ausjespickt.«
»Ein Gutsbesitzer?« fragte Bachhuber.
»Ja, das ist eine Eijentümlichkeit der Majoratsherrn – wenigstens bei uns.«
»Und hat er denn ein schönes Gut?«
»Nu: wie so'n kleineres deutsches Fürstentum.«
»Ach, was Sie sagen! Gibt es das? Da muß er aber klotzig reich sein?«
»Am Hungertuche nagt mein Vetter Brokkenhuus wohl nicht, soweit ich unterrichtet bin.«
»Auch ein Graf Brokkenhuus? Wie kommt's denn dann, daß unser Graf ...? Er ist doch schlecht dran mit dem Geld?«
Der Balte musterte den Frager mit leisem Erstaunen und fragte: »Oh? Er hat Sie angepufft?«
»Wie? Angepufft? Ach so, Sie meinen angepumpt? – Nein doch, woher!« rief Bachhuber mit einiger Hast. »Aber er hat beim Krach der großen Bank in ... Dings – wo war's noch gleich – hübsch was eingebüßt.«
Ein verständnisinniges »Mhm!« war alles, was der Balte hören ließ. Es schien ihm klar, in welchem Zusammenhang allein sein Onkel hatte darauf verfallen können, dem Musikanten dies ungeschmeichelte, ja sogar planvoll grau in grau gemalte Bild von seinen Verhältnissen zu malen.
»Und dieser Herr, Ihr Reisegefährte, kommt ebenfalls nach Tegernsee?« erkundigte sich Bachhuber.
»Ich nehm es an und rat es ihm, bei meinem Zorn!«
Henne kniff das kleinere Auge zu. »Das möchten Sie wohl wissen?«
»Och ...« warf Bachhuber nachlässig hin. »Und sonst? Was ist er denn sonst für ein Mensch?«
»Lieber Gott: ein Rumpf, zwei Beine und zwei Arme und ein Kopf. Oder in welcher Hinsicht meinen Sie?«
»So überhaupt. No ja: ob er zum Beispiel ... musikalisch ist?«
Der Balte zuckte mit den Achseln. »Er war wohl, glaub ich, fünfmal in der ›Lustijen Witwe‹ drin. Sonst hab ich nichts bemerkt. Wie kommen Sie darauf?«
»Man fragt halt; nicht?« erwiderte Bachhuber und dachte: »Versteh nicht, was der Depp zu grinsen hat!« Im Grunde aber verstand er es genau. Denn Hennes Mienenspiel gab an kränkender Wahrheitsliebe seinem Mundwerk wenig nach. Gewogen bleiben durfte ihm der Kerl! Trotzig stemmte er den Ellbogen auf die Fensterbrüstung, stützte den Kopf in die Hand und sah vornehm müd ins Leere.
Der Balte brannte sich eine frische Zigarette an und schien vom Zorn Bachhubers nichts zu merken. Auch er sah nun hinaus, nicht aber, wie der Komponist, ins Leere, sondern mit steigendem Vergnügen auf die grüne Flur, die draußen vorüberzog, pfeilschnell im Vordergrund und um so langsamer, je weiter seine Augen schweiften. Wo der Angelpunkt für diese drehende Bewegung saß, konnte er nicht erkennen; die Hügelkette aber, die, nicht gar so fern, die Aussicht sperrte, hatte schon die andre Fahrt. Sie eilte vorwärts mit dem Zug, und auch die Berge, die sie ferneblau überragten, reisten mit. Den Sohn des sandigen Ostseestrandes dünkte es fast, als blicke er in einen üppigen, gepflegten Park. Nur selten zeugte ein Kornfeld oder ein Kartoffelacker von harter Pflugarbeit. Sonnenbeschienene Matten dehnten sich sanft gebuckelt bis an den Höhenrand, und darüber hingestreut das tiefere Grün von Wäldchen, kleineren Baumgruppen, Ulmenalleen und einzelstehenden breitkronigen Ahornen. Manchmal grüßte ein Bauernhof herüber mit weißen Mauern unter rotem Dach, behäbig hingelagert wie ein kleiner Fürstensitz, und weiter hinten an den Hang geschmiegt tauchte ein Dorf mit stämmigem Zwiebelturm auf, sauber wie aus der Spielzeugschachtel. Hennes Blick hing liebevoll an diesem Land, das ihm von Reichtum ohne saures Mühen und von wurzelständiger Kultur gesegnet schien. An seinen Fahrtgenossen, der sich gleicher Reize allerdings nicht rühmen konnte, dachte er überhaupt nicht mehr.
Bachhubers Groll verpuffte unbemerkt und machte bald ihm selber kaum noch Spaß. Aber als erster das Gespräch von neuem anzufangen, ging ihm gegen den Stolz. Er gähnte verstohlen vor sich hin. Allmählich fielen ihm die Augen zu; bleierne Müdigkeit beschlich ihn, und er nickte ein. Als Henne endlich wieder nach ihm sah, schlief er schon fest.
Ach, wachen Sie doch auf! Wir sind ja da!« rief Henne und tippte mit dem Finger an die Schulter Bachhubers.
»Wie? Was? Schon Tegernsee? Hab ich geschlafen?« fragte der verwirrt.
»Wenn nicht, dann stellten Sie sich wenigstens mit täuschendem Erfolg so an«, sagte der Balte, und die beiden machten sich bereit. Der Wagen hatte sich derweil geleert; sie traten als die letzten in den Sonnenschein hinaus. »Wie komm ich nu hin?« erkundigte sich Henne, als die Sperre durchschritten war. »Ob man wohl einen Fuhrmann kriegt?«
»Och, massenhaft! Es hat bloß wenig Zweck. Es sind ja höchstens zehn Minuten, und bereits die ganze Zeit bergauf. Man wird's kaum schneller fahren, als man's geht.«
»Ich hab ja keine Eile. Und bergauf, mit meinem hinkenden Jebein ... Aber, bitte, fahren Sie doch mit! Wir haben wohl den gleichen Weg?«
»Nein, besten Dank, ich ...«
»Wollen Sie nicht zu Doktor – nu, wie heißt er – Rapp?«
»Ja, nein ... Ich weiß noch nicht. Ja, doch. Ich muß mich nur zuvor rasieren lassen.«
»Verschwendung wär es nicht«, räumte der Balte ein. »Und für nen Vollbart ist's wohl noch zu kurz. Auch jing Beethoven immer glattrasiert.«
»Ist Ihnen diese Ähnlichkeit auch aufgefallen?« rief der Musiker.
»Wie denn nicht? Beethoven sah frappant so aus wie ein verkitschter Bachhuber.«
»Ach Sie, mit Ihren Witzen!« lächelte der Komponist ein wenig sauersüß und lenkte ab: »Moment! Ich tu bloß erst mein Kofferl in das Handgepäck. Ich bin gleich wieder da.«
Er lief und kam zurück. Sie schritten auf den Ausgang zu. Grade noch ein Einspänner stand wartend da.
»Können Sie fahren?« fragte Henne.
»Ha?« Der Kutscher sah ihn zweifelnd an und rückte höflich seinen grünen Hut ein bißchen tiefer in die Stirn.
»Gel, Sie sind frei?« dolmetschte Bachhuber.
»Schon«, erwiderte der Mann und wendete sich unvermittelt an sein Roß mit einem grimmigen: »Brr! Heb dich stad, Häuter elendiger!« Denn der Schimmel hatte angezogen, als der Balte eben seinen kurzen Fuß aufs Trittbrett stellte.
Dieser wich entsetzt zurück. »Gott schütz! Das Pferd hat Nücken!«
Bachhuber schüttelte den Kopf und grinste. »Fassen Sie ein Herz! Der alte Gaul frißt Sie schon nicht.«
»So alt wird er nicht sein!« behauptete der Kutscher.
»Da hören Sie's!« rief Henne. »Und das tückische Beest – Kucken sie, wie es die Ohren hinterlegt! Sobald ich einsteig, rast es pleng Karrieer in die Buschkaden. Und das wär mein Tod!«
»Sie! Geht Ihr Schimmel manchmal durch?« erkundigte sich Bachhuber.
Der Kutscher erwiderte mit großer Sicherheit: »Da könnt er was erleben!«
»Und im entscheidenden Moment reißt dann die Jageleine ab«, sagte der Balte. »Nein!«
Der Rosselenker sah ihn zwinkernd an, er fragte aber nur: »Ja, fahrt der Herr jetzt oder fahrt er net?«
»Wer? Ich? Auf keinen Fall! Hier, nehmen Sie!«
»Vergelt's Gott!« brummte der Kutscher, steckte das Markstück ein und rief plötzlich: »Hü!« Ein Zügelruck, ein Peitschenknips, der Wagen ratterte davon.
»Was meinen Sie«, erkundigte sich Henne, »ob irjend so ein Jeannot aufzutreiben ist, der mir den Weg zeigt und die Sachen transportiert?« Er wendete sich um und schaute in den Schalterraum. »Wei, ist der Mensch da der Stationschef oder ein Expreß?«
»Sie, Dienstmann!« rief der Musiker; und als der Graubart mit der roten Mütze langsam herangekommen war, sprach er ihn an: »Sie, wissen S'den Herrn Grafen Brokkenhuus?«
»Ach, das ist der magere alte Herr, wo sich ein bißl hart marschiert, droben beim Six?«
»Ganz recht. Da sollen Sie das Gepäck hinschaffen von dem Herrn.«
»Ich jeh gleich mit«, fiel Henne ein. »Hier, nehmen Sie mir das erst ab.«
Staunend musterte der Dienstmann den Mantelsack und kratzte sich hinter dem Ohr. »Aber ein Markl kostet es fei schon«, erklärte er.
»Hotz, ich versteh den Menschen nicht. Was will er?« fragte Henne.
»Eine Mark verlangt er«, sagte Bachhuber.
»O jern! Ich find es fast jeschenkt, verglichen mit Gastein. – Expreß, jetzt holen Sie mir meinen Tschemodann. Hier ist das dazu nötije Flick Papier.«
Der Dienstmann nahm den Zettel in Empfang. »Was soll ich holen?«
»Wird so was wie ein Koffer sein?« erriet Bachhuber.
»Keine Spur! Ganz leicht! Ein mittelgroßer Tschemodann.«
»Zwölf Kilo!« rief der Dienstmann, als er auf dem Gepäckschein nachgesehen hatte. »Kost es drei Mark; das ist die Tax.« Es hatte sichtlich sein Ehrgefühl verletzt, daß dieser Zugereiste seine Dienste fast geschenkt fand.
Henne nickte kurz und sagte: »Nitschewo! Pascholl!«
Merkwürdig: russisch schien der Oberbayer zu verstehn. Er machte kehrt und setzte sich sogar in eine Art von kleinem Trab.
»Wir gehn derweil voraus«, schlug Bachhuber vor. »Bis wir drunten am Eck sind, kommt er schon nach.«
Die staubige Straße lag im heißen Sonnenschein und war belebt von Menschen, die zum Bahnhof pilgerten.
»Die Masse Leut!« sagte der Musiker. »Und für den Bummelzug? Kann mir nichts andres denken, als es ist in Tölz was los.«
»Dann wohl ein Maskenfest?« vermutete der Balte.
Bachhuber lachte und offenbarte ihm, daß hier die feine Welt tagtäglich so herumlief – jeder halbwegs jüngere Mann, auch die Krummbeinigen, in der kurzen Wichs und selbst Kommerzienrätinnen bis zu zwei Zentner Lebendgewicht im Dirndlgewand.
»Was? Kurze Wichs? Sind das die ausjewachsenen Höschen mit den kahlen Knien? Pardon, und wie nennt man das Farbenfreudije, in das sich diese Damen hüllen?«
»Dirn-del-ge-wand«, skandierte Bachhuber. »Dirn, das ist eine Bauernmagd.«
»Ach so! Jestatten Sie, und ziehn sich hier die landschen Weiblichkeiten in der Tat so ähnlich an?«
»Hm, sagen wir: entfernt. Der Stil ist eher wohl Berliner Warenhaus. Weiß nicht: vielleicht entwirft der Poiret in Paris jetzt auch schon welche. Jedenfalls sind Dirndlgewänder neuerdings am Land die große Mode. No ja, es ist ein billiges Tragen, und es modelliert die Formen schön heraus.«
»Berauschend!« stimmte der Balte zu, aber es lag nicht die Spur von Trunkenheit in seinem Blick.
»Und jetzt ...« Bachhuber hielt an einem Fahrweg, der nach links abbog. »Ich geh weiter gradaus, Sie müssen drüben nauf. Da kommt auch schon der Dienstmann. Also dann ...«
Der Balte reichte ihm die Hand. »Adieu. Dank für die lichtvolle Insbildsetzung! Auf Wiedersehn!«
»Die Ehre!« sagte Bachhuber und fügte beiläufig hinzu: »Ach, was ich noch ... Falls Sie je mit dem Doktor Rapp auf meine Symphonie ...«
Henne aber unterbrach ihn: »Keine Angst! Wie werd ich nu – Mäzene kopfscheu machen!«
»Ha?« Bachhuber starrte ihn entgeistert an, fegte dann mit der Hand wegwerfend durch die Luft und stellte fest: »Das wird wohl keine Schand sein. Ein Vergnügen ist's einmal sicher nicht.«
»Auch noch? Das war wohl etwas viel verlangt«, fand Henne.
»Nun ... Ach, einerlei!« Der Musiker zog seinen Hut. »Empfehl mich. Hat mich gefreut.« Er setzte sich in Marsch.
»Moin!« rief ihm Henne nach. »Ganz meinerseits! Recht schmerzlosen Friseur und glückliche Verrichtung!« So trennten sich für diesmal ihre Wege.
»Soll mir gewogen bleiben, der Prolet, der windige!« sprach Bachhuber vor sich hin.
»Was für ein spezifiker kleiner Knot!« erwog der Balte sehr vergnügt bei sich.
Prolet und Knot – in der Bedeutung weichen die beiden Wörter wenig voneinander ab. Und diese Gegenseitigkeit des Urteils bewies schlagend, wie gut die zwei sich unterhalten hatten. Ein Hauptreiz menschlichen Verkehrs liegt ja bekanntlich darin, daß sich jeder dem andern an Bedeutung, Geist und Klasse ohne den kleinsten Zweifel überlegen fühlt.