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Onkel Woldemar

Als Henne mit dem Dienstmann in die langsam ansteigende Nebenstraße eingebogen war, mühte er sich, ein Gespräch in Fluß zu bringen, um so Kundschaft über Land und Leute zu gewinnen. Doch die Verständigung erwies sich als zu schwierig; drum ließ er Leute Leute sein und hielt sich dafür an das Land, das klar und freundlich zu ihm sprach und ihm mit jedem Schritt bergauf ein neues Stück von seinem Reiz enthüllte. Er hatte das Gefühl, als herrsche hier ein ewiger Feiertag – so heiter majestätisch stiegen die Berge himmelan, so launisch buntscheckig glänzten die mit Häusern übersäten Ufer, so farbenstark erschien der See, tiefblau, doch streifenweise, wo ihn ein Windhauch traf, seidig grün überschauert.

»Ist es noch weit, Expreß?« Henne zog seinen Hut, um sich den Schweiß zu wischen.

»A naa! Da vorn noch durch den Hohlweg bloß, na haben mir's bereits.«

Gleich darauf erreichten sie auch schon die Stelle, wo die Straße quer durch eine Bodenrippe schnitt; die grasige Böschung stieg beiderseits steil an.

Auf einmal machte Henne halt, zeigte nach links und rief: »Erbarmung! Was ist das?«

»Ja, wo?« Der Dienstmann schaute verständnislos.

»Das Tier!« sagte der Balte, bleich vor Schreck. Und allerdings stand dort ein weiß und sandfarben geschecktes Rind und musterte die Wanderer neugierig. Nichts als der Kopf, die Brust und die obere Hälfte der Vorderschenkel hob sich vom Blau des Himmels ab, der Rest war durch den Hang verdeckt.

Der Alte fragte unbewegt: »Und nacha?«

»Es ist ein Bolle, nicht?« Die Stimme Hennes klang gepreßt.

»Ha?«

»Nu, wie sagt man denn? Ein Ochse.«

»Woher doch!«

»Nein, ich mein: ein Ochse männlichen Jeschlechts. Das heißt, nu ja ... Wie nennen Sie denn so ein Tier?«

»Ja, Kuh.«

»Was, eine Kuh? Die Milch jibt? Mensch, wie wissen Sie, wo doch kein Euter sichtbar ist?«

»Dös spannst aso: am Kopf.«

»Sie denken also, daß wir unser Leben nicht riskieren, wenn wir weiterjehn? – Dann nehmen Sie doch wenigstens die Mütze ab!«

»Zu was denn?«

»Daß ihn das knallrote Dings nicht reizt, wenn es am Ende doch ein Bolle ist.«

Der Kuh schien es zu dumm zu werden, daß man ihre Weiblichkeit so hartnäckig bezweifelte. Sie brüllte dumpf. Und nun ereignete sich etwas, worüber der Dienstmann beinah erschrak, im nächsten Augenblick aber breitmäulig grinste: der fremde Herr, der sich auf glatter Straße schon mit Laufen schwer tat, klomm überraschend flink den rechten Hang hinan.

Der Alte schüttelte den Kopf und sagte: »Kruzifix!«

Als Henne oben war, hielt er die Hand aufs Herz und keuchte schwer. Aber es stärkte seinen Mut, daß ihn nun gut das Dreifache der Straßenseite von dem verdächtigen Vierfüßler schied. Er schwang sogar die Reitgerte und stieß ein scheuchendes: »Tisch, tisch!« hervor. Dafür, daß er hierdurch die Kuh erschrecke, gab es keinen Anhaltspunkt. Sie musterte das sonderbare Menschenwesen nur gelangweilt, fast betrübt, und wendete sich voll Verachtung ab.

»Bei Gott, das Euter ist vorhanden!« stellte Henne fest. Als wolle ihm das Vieh den letzten Zweifel daran nehmen, hob es den Schwanz, und etwas Dunkles fiel fett platschend ins Gras. »Pfui Schweinerei! Tisch, tisch! Jeh weg!« erdreistete der Balte sich zu rufen. Die Kuh aber schritt gemächlich querfeldein. Er sah ihr eine Weile prüfend nach, dann sagte er: »Gott half! Sie hatte Angst vor mir.«

»Dös kennt man gleich«, bestätigte der Dienstmann mit verdächtigem Ernst.

Henne war entzückt und dachte still bei sich: »Welch kultiviertes Land! Jewöhnliche Expressen schon erweisen sich mit Ironie behaftet.« Laut fuhr er fort: »Ach, lieber Mann, wie komm ich nu da wieder runter?« Seine Augen maßen sorgenvoll den Hang – er konnte es nicht mehr verstehn, auf welche Art er ihn erklettert hatte.

»Zu was denn?« rief der andre.

»Weil ich hier nicht übernachten will!«

»Spazieren S' halt droben weiter; net, Herr Dokta? Die Straßen ziahgt si so von selber nauf.«

»Welch praktische Idee!« Henne hinkte hastig vorwärts, und da seine Angst verflogen war, wuchs neu der Wunsch in ihm, daß dieser Weg durch lähmende Sonnenglut recht bald ein Ende nehme. Er beschirmte die Augen mit der Hand und schaute gespannt voraus. Nun, dort kam endlich eine Menschensiedlung in Sicht. Links lief entlang der Straße eine Mauer, die bergwärts ein geräumiges Stück Land umschloß. Prachtvolle alte Bäume waren, bald einzeln, bald gleichsam zum Strauß vereint, darüber hingestreut; saftgrüne Matten aber herrschten vor, da und dort mit jungen Obstbäumen bepflanzt. Eine niedrige Bodenstufe trug ein breites Haus in Tegernseer Bauart, und vor ihm glühte im Sonnenschein, gleich einem Wasserfall über die Böschung niederstürzend, ein farbenreicher Staudenflor.

So lustig dies Bild Henne zu Herzen sprach – er wurde doch nicht froh daran. Das war trotz aller Mimikry von Ländlichkeit ein Herrensitz; dort konnte Onkel Woldemar nicht wohnen.

»Sagen Sie, Expreß, sind wir bald da?« »Freilich, gleich vorn!« »Ja, wo? Man sieht doch nichts als diese Mauer, die kein Ende nimmt.«

»Nein, auf der drübern Seiten.« Der Alte zeigte auf ein graues Dach, das rechts von der Straße über einen Buckel des Geländes lugte.

»Gott sei Dank!« rief Henne. »Und wem jehört das noble Höfchen da?« Er deutete nach links.

»Mir sagen ›Diffidendenburg‹ dazu.« Der Dienstmann zwinkerte vergnügt. »Er selber freilich heißt's: ›Mei Ruh‹!«

»Erbarmung! Wie?«

»Weil er halt Wert drauf legt, auf seine königlich boarische, der Rappenbräu.«

»Ach, ist es dieser Doktor Rapp, der reiche Mann?«

»Dös glaub i! Ja, da sitzt a Geld! Zwei Auto halt er sich. No, überhaupts!«

Sie kamen an ein schmiedeeisernes Gittertor, das einen neuen, hier aber durch Gebüsch beschränkten Einblick in den Garten der Besitzung öffnete. Henne bemerkte eine ansehnliche Tafel aus dunkelgrünem Serpentin, die in den rechten Torpfeiler eingelassen war und eine Inschrift in vertieften Goldbuchstaben trug. Er hinkte hin und las:

Haus
»Meine Ruh!«
Hausierern,
Bettlern,
Ideologen
usw.
ist der Eintritt
strengstens
untersagt.

Henne nickte und bemerkte lächelnd für sich: »Es zeigt sich gleich: ein Plukkat ist er nicht, der Freund von Onkel Woldemar. Wer seine kleinen Witzchen immer gleich fürnehm in Marmortafeln graben kann!«

Wo die Gartenmauer der Villa Rapp rechtwinklig bergwärts abbog, lag an der andern Straßenseite ein stattlicher Bauernhof. Das große, noch in guter alter Zeit erbaute Haus mit steinbeschwertem Schindeldach kehrte dem Wanderer, der aus dem Tal kam, die Rückseite zu. Hier führte eine schräge Tennenbrücke zum Heuboden im ersten Stock. Darunter lag die Stallung; ein wohlgepflegter Misthaufen vor ihr kündete von reichem Viehstand. Der vordere Teil des Hauses enthielt die Wohnräume. Die Giebelwand schaute mit ihren handwerksmeisterlich schön verteilten Fenstern in einen Grasgarten, dem alte Kirsch- und Apfelbäume mit ausdrucksvoll verrenktem Astwerk Schatten gaben.

Henne, in dem der Sinn für solchen stillen Reiz lebendig war, staunte billigend an der weißgetünchten Hausfront hinauf. Doch wurde ihm nur wenig Zeit dazu gelassen; denn als sie in den Garten traten, fuhr beim Haus ein schwarzer Hund mit wütendem Gebell aus seiner Hütte.

»Äcks!« stöhnte Henne und fuhr jäh zurück. »Muß das nu kommen? Fürchterlich! Er will mich fressen, und ich schmeck doch gar nicht schön.«

»Ja, mögen taat er schon. Wenn er net anghängt waar«, entgegnete der Dienstmann. »Ah, Herr Dokta, gehn S' nur zu!«

Henne befolgte diesen Rat nicht. Dem rabiaten Tier noch näher kommen – danke, nein! Der Köter aber hatte kaum bemerkt, wie sehr sich dieser Fremde fürchtete, als er vor Schneid und Leidenschaft einfach in Raserei verfiel. Sein Bellen wurde zum Gekeif, er machte Sprünge, daß ihn die Kette auf die Hinterbeine riß und er sich mit dem Halsband fast erdrosselte.

»Geh, Rußl, blöder Tropf! Halts Mäu, Mistviech elendigs! Am Sack! No, wird's!« zeterte die Stimme einer jungen Frau, die plötzlich unter der Haustür stand. Ein Haselstecken, den sie in der Rechten wippen ließ, gab ihrer Rede Nachdruck und Gewalt. Der Zorn des Hundes zerschmolz zu knurriger Verlegenheit. So bang geduckt, daß er wie kreuzlahm wirkte, kroch er rücklings in seine Hütte und knurrte nur noch gedämpft.

Doch nahm dies nicht einmal der Balte ernst; er hob die Gerte, die er vorher schamhaft hinter sich gehalten hatte, und rief stolz: »Pascholl in Budka! Kusch!«

»Grüß Gott, Sixin!« sagte der Dienstmann.

Die Bäuerin fragte kurz: »Was mögts denn ös?«

»Zum Graf ... Dingskirchen, no, wie schreibt er sich?«

»Brokkenhuus«, erklärte Henne.

»Im Austragshäusl.« Die Hand der Frau wies auf ein kleineres Gebäude, das dem Haupthaus mit etwa fünfzig Metern Abstand gegenüberlag, und dessen gleichfalls weißgetünchte Front einladend durch die Obstbäume leuchtete.

Da sich die beiden nun dem Häuschen näherten, erschien dort in der Tür ein sechzehnjähriger Bursch, den seine Tracht – zimtbraune Hose mit hellgelber Biese und weißblau gestreifte Ärmelweste – als Diener zu erkennen gab. Ein dummer Zug von Würde in dem apfelbäckigen Gesicht und die mit Wasser glattgescheitelte Frisur zeugten von seinem Drang, lakaienhaft zu wirken.

»Moin, junger Mann!« rief Henne heiter. »Der Herr Graf zu sprechen?«

»Nein, um diese Zeit gar nie, weil Herr Graf jetzt schlaft«, erwiderte der Diener und schwoll an vor Selbstgefühl.

Henne aber sagte: »Einerlei! Dann wart ich, bis er ausjeschlafen hat. Nimm dem Expreß die Sachen ab, und führ mich irjendwo herein, wo ich mich unterdes verpusten kann!«

Das schien dem jungen Diener doch ein starkes Stück. Der hergelaufene Schlawiner tat ganz kalt, wie wenn sie Brüderschaft getrunken hätten! Er sagte aber lieber nichts und ließ sich folgsam Mantelsack und Koffer reichen; denn die sichere Art, wie dieser sonderbare Gast befahl, war herrschaftlich und schloß jegliche Widerrede aus.

Der Dienstmann wurde abgelohnt; mit einem lebhaften »Vergelt's Gott!« ging er seiner Wege.

»Vorwärts, Jeliebter!« mahnte Henne.

»Augenblick!« erwiderte der Bursche, setzte das Gepäck hin und verschwand durch eine Seitentür.

Aus dieser trat sogleich ein nicht mehr junges, beleibtes Frauenzimmer und schaute den Fremdling prüfend an. »Wei, Jungherr Manny!« rief sie dann verblüfft.

»Kuck: weiland Tante Ischens Perle, die Karline! Und seit wann sind Sie in Tegernsee?« Der Balte reichte ihr die Hand.

»Fünf Jahr zurück. Wie meine Gnädije starb. Hat Jungherr nicht jewußt?«

»Nee, keine Ahnung, wo Sie abjeblieben waren. Und Onkel Woldemar? Schläft Mittag, was?«

»Wer sagt? Der Sepp? – Du Schmurjel!« fuhr Karline den Diener an. »Sitzt du auf Ohren? Vor Viertelstund schon hat jeklingelt, daß ich Kaffee mach. Jehn Sie bei ihm hereiner, Jungherr! Ist schon auf.« Sie klopfte an die Türe, die dem Eingang gegenüber lag, und öffnete sie, ohne die Antwort abzuwarten. »Besuch, ganz fremder, ist bei uns jekommen«, verkündete sie geheimnisvoll.

»Besuch?« knarrte eine brüchige Männerstimme. »Fix! Wo ist denn Sepp? Daß er mir hilft!«

»Nu, kann Herr Graf schon liejenbleiben. Der Besuch erlaubt.« Karline machte Henne Platz.

Der hinkte schnell hinein und stutzte, als er seinen Onkel sah. Zweifelnd musterte der Graf mit den vorstehenden blauen Augen seinen Gast und rief dann: »Manny! Grüß Gott! Wo kommst du her?«

»Moin, Onkel Woldemar! Nu, aus Gastein. Bekamst du unsere Karte nicht?«

»Ja, schriebt ihr nicht, daß ihr erst in etwa vierzehn Tagen kommt?« fragte der Graf. »Und wo ist Goswin?«

»Der Süßing beendet vorher seine Kur. Ach, Onkel Woldemar, kann ich solange bei dir wohnen?«

»Furchtbar jern. Karline, was, es wird doch jehn?«

»Jeht alles, wenn muß«, stimmte die Köchin zögernd zu.

»Nu schön!« rief Henne. »Jetzt nur schleunigst einen Stuhl! Die Bergtour hier herauf bei dieser Glut! Ein Königreich für eine Sitzjelejenheit! O prachtvoll! Danke schön!« Er sank aufseufzend in den Korbsessel, den ihm Karline dienstfertig herangeschoben hatte. »Voilà, als erste Rate auf das Königreich anbei das Zepter und die Krone, sprach der Fürst.« Er übergab ihr Hut und Peitsche.

»Eine Reitjerte?« Der Graf bemerkte diesen Gegenstand erst jetzt.

»Onkel Woldemar, du bist von Riga ab der Sechzehnte, der darnach fragt! Laß mich erst mal jenießen, daß ich sitz!« Er lehnte sich zurück und sah sich in der Bauernstube um. »Welches berauschende Appartement, das du bewohnst.«

»Ja, nobler Saal ist, was wir haben!« warf die Köchin verächtlich hin.

»Karline billigt prinzipiell in Bayern nichts«, erläuterte der Graf.

»Ach«, fragte Henne, »ist es hier nicht schön?«

»Nu ja, so lila, Jungherr. Wo Herr Graf bleibt, hält Karline auch noch aus. In erste Zeit war wohl jemein: Kein Wort nicht zu verstehn – die Leute sprechen hier so falsches Deutsch.«

»Manny«, fiel ihr der Graf ins Wort, »du wirst wohl hungrig sein?«

»Wie soll ich wissen, Onkel Woldemar! Jenau wird das erst festzustellen sein, wenn ich mir meine völlig ausjespakte Gurjel bißchen anjefeuchtet habe, falls dies jeht.«

»Was willst du, Manny? Bier? Ich denk mir, für den Durst ...«

»Oh, Buddel Bayrisch muß jetzt schmecken wie der liebe Gott!«

»Ich hol gleich, Jungherr«, rief Karline, prallte aber an der Tür auf Sepp und schickte den nach dem Getränk. »Und wie ist nu mit Essen?« fragte sie.

»Natürlich; machen Sie nur was!« bestimmte der Graf. »Mittag, Manny, ist bei uns vorüber – schon um eins. Was hättest du denn jern?«

»Ach, gleichviel was! Wenn es nicht Klunkermus ist oder Hafertumm mit Beestmilch, Leber, Kaldunih und andere Einjeweide, und um Gottes willen nichts, wo Beeten drin sind, eß ich, was ich krieg.«

»Ja«, lächelte Karline, »mäkeln hat Jungherr Manny schon verstanden, wie er noch kleiner Spuz jewesen ist.«

Der Graf, der die Beredtheit seiner Stütze kannte, hemmte ihren Redefluß: »Karline, was jibt es nu für ihn?«

»Was wir jejessen haben auch. Ist haufenweise nachjeblieben, weil Herr Graf nur wie Kanarienvogel eßt. Buljong ist und jestowtes Kalbfleisch ist, das wärm ich auf – ich hab noch Feuer in die Pliete; und Klimpen im Buljong und Bratkartoffeln mach ich frisch – und Kirschkissell mit Tropfchen süßen Schmant ist auch.«

»Hei, lauter Essen, das ich lieb!« rief Henne. »Alles wohljesinnt und blond, und nur der Kirschkissell als starker Farbenklecks darin.«

»Blond ... Nu?«

»Ja, wirklich, Onkel Woldemar: ich lieb zum Essen nur, was blond, und trink nur jern, was nicht zu naß schmeckt – notabene, wenn ich nicht so proletarisch durstig bin wie eben.«

»Wo bleibt Sepp mit dem Bier?« fragte der Graf.

»Zur Stelle!« klang es von der Gangtür her.

»Dir muß man nach den Tod wegschicken!« tadelte Karline, nahm die Flasche, schenkte ein und gab Henne das Glas.

»Nu, Jungherr Manny, prost!«

Er schüttete das Bier in einem Zug herunter. »Himmel, schmeckt das schön!« stöhnte er atemlos. Plötzlich aber krümmte er sich in seinem Stuhl und seufzte jämmerlich.

»Ich jeh jetzt Essen machen«, meldete Karline.

»Himmel, rennen Sie nicht weg!« rief Henne.

»Manny, ist dir schlecht?« fragte der Onkel besorgt.

»Nee, aber kodderig und flau ... Erst dieser heiße Weg ... Und dann der Katarakt von Bier ... Mir liegt's im Magen wie ein glitschrig kaltes Krokodil. Onkel Woldemar, kann man sich vor dem Essen wohl ein Schnäpschen einverleiben? Sakußka, da jenügt ein Scheibchen Rundstück oder Franzbrot.«

»Selbstverständlich. Allasch muß noch da sein, Manny. Nicht, Karline?«

»Halbe Flasche voll ist noch, Herr Graf. Und mit Sakußka – Sardinen mach ich kleine Büchse auf.«

»Feenhaft!« sagte Henne. »Kaum ist das Wort jesprochen: Allasch – schon erschrickt das Krokodil und zieht sein Schwänzchen ein.«

»Eiskaltes Kruxedull in Bauch!« Karline verzog spöttisch den Mund. »Männer wollen Schnaps ja immer nur wie Medizin.«

Henne schlug die Augen zur Decke auf. »Erbarmung! Ist ein Schnaps schon Alkohol?«

»Trink ruhig zwei und drei!« sagte der Graf. »Und außerdem, Karline, sind Sie hier nicht als Kinderwärterin engagiert.«

Die Köchin zeigte ein beleidigtes Gesicht und ging.

»Halt, Sepp! Bleib da!« befahl der Graf. Der Bursch stand fragend stramm. »Du, Manny«, fing sein Herr verlegen und ein wenig zögernd an, »was wollt ich sagen? Hast du unsere Aussicht schon bewundert? Von dem Fenster da!«

Verblüfft erhob sich Henne, ging folgsam hinüber und musterte den See im Rahmen seiner Berge ohne rechte Anteilnahme. Es war ein schönes Bild, aber er hatte es unterwegs sattsam genossen; und daß er jetzt fast mit Gewalt darauf gestoßen wurde, dünkte ihn sonderbar. Da lenkte ein Zufall seine Augen auf den Spiegel, der schräg vorgeneigt zwischen den Fenstern hing. Und plötzlich wußte er Bescheid: er hatte nur nicht zusehn sollen, wie der Graf mit Hilfe seines Dieners von dem Divan aufstand, man durfte beinah sagen: aufgestanden wurde, und sich durch das Zimmer zu dem Tisch im Herrgottswinkel begab. Er hängte sich beim Gehen in den Arm des Burschen, und seine Füße tappten unsicher voraus, als traue er der Festigkeit des Bodens nicht.

Henne mußte seufzen. Was Krankheit doch für rasche Arbeit tut! Zwölf Jahre nur hatte er Onkel Woldemar nicht mehr gesehen, heute aber spürte auch der Laie, daß diesem Mann von allen Zielen, die der Mensch erreichen kann, nur noch das eine übrigblieb: mit Anstand und ohne viel Aufhebens zu sterben. Henne, durch die Krüppelhaftigkeit und Schwäche seines Körpers schon von Kind auf der Entsagung seltsam vertraut und so daheim in ihr, daß er den Abstand, den ihm dies von den Derben und Gesunden gab, zuweilen beinah wollüstig genoß – Henne fühlte, daß sein Onkel sich erst hatte hart erkämpfen müssen, was ihm selbst still durch die Jahre zugewachsen war; denn Armut lastet leichter als Verarmung. Eine gerührte Spannung faßte ihn, es weiter zu erleben, wie sich hier ein tapferer Mensch mit seiner Not vertrug.

Als der Graf am Tisch im Korbstuhl lehnte und sein Atem wieder ruhig ging, sagte er: »Wie findest du die Aussicht, Manny?«

Henne schluckte erst einmal herunter. »Meiner Billijung würdig!« rief er dann. »Ah, und da kommt ja auch Karline mit dem Schnaps! Hei, Gott zum Gruß, jeliebte alte Seele!«

»Seele braucht mir Jungherr auch nicht schimpfen«, wehrte die Köchin ab. »Sepp, mach, daß du heraußerkommst! – Nu, und von alt, was Jungherr meint ... Fünf Jahr zurück, da wollt noch ein ganz richtig feiner Mann – Posaamentihr war er –, ich möcht ihm heiraten. Mit eijenes Jeschäft in große Scharrenstraße; Kinder von ihm waren auch erwachsen. Bloß weil Herr Graf mir schrieb, ich soll bei ihm im Ausland kommen, sagt ich zu den Herrn, ich habe keine Zeit nicht, sagt ich. Wie ich von Dünaburjer Bahnhof abfuhr, hat er mir noch ausbegleitet und hat auf Station jeplinzt wie kleines Kind. Da spricht man nicht von alt.« Während dieses Berichtes deckte Karline schnell den Tisch.

»Nu friedlich! Das war lediglich als Huldijung jemeint.« Henne verneigte sich. »Das ist schon ein Jebot der Dankbarkeit: weil Sie durch diesen Allasch meinen vorzeitijen Tod verhindern.« Er schenkte sich mit geübter Hand das Gläschen voll.

»Nu, ohne Schnaps wär Jungherr auch nicht wegjestorben«, grollte Karline herb. »Wenn aber lieber Gott mal jibt, denn muß man Mund von Jungherr noch expreß totschlagen.«

»Karline«, fragte der Graf, »und glauben Sie, daß diese Prozedur bei – Ihnen von Erfolg begleitet wär?«

»Kein Wort nicht sag ich mehr, Herr Graf, und jeh in meine Küche. – Und was ist? Soll ich Kaffee für Ihnen schon gleich bringen?«

»Nein, ich wart lieber, bis auch Jungherr Manny trinkt. Und machen Sie die doppelte Portion!«

»Dammlig ist Karline auch nicht.« Sie zog die Tür mit kräftigem Ruck hinter sich zu.

»Man weiß doch immer, was sie meint«, bemerkte Henne.

»Der Ton ist rauh.« Der Hausherr lächelte. »Aber jedacht ist es doch gut, nu, und das Heimatliche dran versöhnt. – Manny, sag, was machst du da?«

»Ich kämpf mit der Sardine. Bis man se nen Njurnik reinmacht ...«

»Aber übertreibst du nicht die Reinlichkeit? Es bleibt ja überhaupt nichts nach?«

»Das ist dann aber einwandfreies Schierfleisch, Onkel Woldemar. Die Kischken und das Leder widerstehn mir. Und die Gräten – nee, Gott schütz! Denn schon die Möglichkeit, daß eine drinjeblieben wäre, kann mich töten. Führ keinen Jejengrund ins Feld: ich weiß das alles selbst; aber an einer Gräte zu ersticken, die garnicht vorhanden ist, wär auch kein schöner Tod.«

»Ein orijineller wenigstens«, antwortete der Graf. »Nur schade: ich hab kein Mikroskop, das ich dir puffen könnte!«

»Nee, Onkel Woldemar, beraub dich nicht! Es jeht auch so, und zu jenaue Einsicht in die Werkstatt der Natur verdirbt den Appetit.«

»Ja, das hat wohl was. Sonst, Manny, könnt ich Sepp vielleicht zu meinem Freund und Nachbarn Rapp herüberschicken. Er hat, wie ich ihn kenn, bestimmt sogar ein Ultramikroskop. So neuere Erfindungen schafft er sich für jewöhnlich an.«

»Automobile sogar paarweis«, sagte Henne, anscheinend ganz in die Bereitung seines Imbisses vertieft.

»Wie?« rief der Graf. »Du weißt ...?«

Sein Neffe kniff das kleinere Auge zu. »Jestatte erst! Jetzt kommt der heiß ersehnte, sauer verdiente Augenblick. Prost!« Er hob das Schnapsglas, kippte dessen Inhalt in sich hinein, schob sich dann einen mit Bröckchen der Sardine lückenlos bedeckten Semmelbrocken so hastig zwischen die Zähne, als hingen von der Raschheit dieses Tuns Gesundheit und Leben für ihn ab, kaute hygienisch langsam und stellte endlich fest: »So, das war gut!«

»Ja, aber sag ...!« drängte der Graf.

»Was soll ich sagen, Onkel Woldemar?« Henne füllte sein Glas zum zweitenmal.

»Du sprachst von meinem Freunde Rapp?«

»Ach so! Weißt du, ich denk: er braucht das andre Automobil, weil Senta manchmal jern allein spazieren fährt?«

»Auch von Centa hast du jehört?« Der Graf schien fast bestürzt. »Du lieber Gott, woher?«

»Daher. Man hat so seine Quellen. Aber, Onkel Woldemar – auf einem Beine kann der Mensch nicht stehen. Prost!«

Henne vollführte mit dem zweiten Schnaps und mit dem zweiten vorsorglich gleich mit hergerichteten Semmelbrocken die gleiche Zeremonie wie bei dem ersten Glas.

Dies stellte die Geduld des Onkels heftig auf die Probe.

»Manny, erklär mir doch! Ich kann gar nicht verstehn ...«

»Kuck mal«, dachte sich der Neffe, dem der Allasch Feuer durch die Adern trieb, »wie viv der alte Schlieker plötzlich wird! Ist vielleicht doch was dran, daß er bei dieser Senta irjendwie als ›Holländer‹ fungiert? Natürlich ohne Dämonie, weil so ein leerer Quintenzauber à la Wagner sich für einen Grafen Brokkenhuus nicht paßt.«

»Manny, wie kommst du zu der Wissenschaft?« so lag der Graf ihm weiter an.

»Du denkst dir: auf dem Weje der Telepathie; was, Onkel Woldemar? Im Jejenteil: die Spatzen zwitscherten im München-Tegernsee-Expreß davon.«

»Du hörtest, wie sich Leute von mir unterhielten?«

»Einer nur; der andre war ich.«

»Und jemand, den ich kenn?«

»Ich hoff es wenigstens für ihn. Anfänglich war er sogar intim mit dir befreundet.«

»Anfänglich?«

»Bis er erfuhr, daß du auch meiner Wenigkeit nicht völlig fremd bist.«

»Ach? Von der Sorte? – Nu, und was hat er jewußt von mir?«

»Oh, nicht viel mehr, als daß du oft im Rappschen Philisteer verkehrst.«

»Da hat er nicht jelogen. Und wer war der Europäer, dem du deine Kenntnisse verdankst«

»Rat mal! – Höchst spaßhaftes Jewächs und seines Glaubens ein Genie.«

»Schwierijer Steckbrief!« lachte der Graf. »Genie paßt eijentlich auf keinen, den ich hier in diesen Breiten kenn.«

»Ich hab ja nicht behauptet: meines Glaubens, sondern: seines, Onkel Woldemar. Besondere Kennzeichen: notdürftig nachjemachter Beethoven.«

»Franz de Paula Bachhuber? Spukt dieser Zeitjenosse wieder in der Jejend? – Und Genie? Nu: Pumpgenie!«

»Auch dieses überrascht mich kaum«, erklärte Henne.

»Schon anjepufft von ihm?«

»Das wenijer. Die Sorte hat doch Röntjenaugen und kuckt durch die Hose bis ins Portemonnaie. Und da war eben bei mir nichts Erwähnenswertes sichtbar. Aber dich hat er heimjesucht?«

»Sanft nur. Er brach mir Gott sei Dank sein Ehrenwort schon bei den ersten hundert Mark. Meinem Freund Rapp kommt er wohl teurer. Schwatzt ihm ewig was von einer Oper vor, die er ... Und hat doch – darauf nehm ich Jift – niemals im Leben mehr als ein paar Takte komponiert.«

»Nimm nicht!« riet Henne seinem Onkel. Dieser schaute ihn zweifelnd an. »Jift nehmen sollst du nicht. Er hat!«

»Was hat er?«

»Tonjesetzt. Und zwar erbittert. So ein Beest von Symphonie! Ich hab ja in Majorenhof bei Horn selbst die Premiere miterlitten.«

»Wie überraschend! Und was hältst nu du von dieser bisher sagenhaften Symphonie?«

»Onkel Woldemar, ich muß jestehn: Bach ohne Huber ist mir schon mit Abstand lieber. Verrat aber deinem Freunde, dem Mäzen, ja nichts davon!«

»Nein, Manny, keine Angst! Übrijens hat Rapp schon längst jeschworen: keinen Pfennig mehr!«

»Armer Bachhuber! Ich war noch niemals so erschüttert«, sagte Henne. »Widmen wir ihm einen stillen Schluck!« Damit verleibte er sich den dritten Schnaps nebst Imbiß ein.

»Wenn man dir zusieht, kriegt man selbst fast Appetit«, meinte der Graf.

»Warum nur fast? Krieg ihn doch ganz und reajier ihn ab! Ich jeh und sag Karline, daß sie noch ein Glas ...«

»Nein, Manny! Lieber nicht! – Nu, oder ja! Wenn ich aus deinem Glas ...«

»Wir Deutschen fürchten Gott und – unsre Küchenfee!« stellte sein Neffe bei sich fest. Laut fuhr er fort: »Wenn dir kein reines lieber ist ... Ich hol es jern.«

»Wozu! Mir graust vor nix, wie mein Freund Rapp in solchen Fällen zu sagen pflegt«, rief der Graf ein wenig krampfhaft munter. »Jieß mir nur ein! Den Imbiß nehm ich dankend als jenossen an. Sardinen, nein, sind nichts für mich.«

Henne stellte das volle Glas vor seinen Onkel hin. Der faßte darnach und – hätte beinah vorbeigegriffen. Mit Not und Mühe nur erwischte er das Glas.

»Ach ja, vergnügte Hände also auch!« dachte der Neffe wehmütig.

»Prost! Daß es dir bei mir jefällt!« sagte der Graf.

»Prost! Und, Onkel Woldemar, wie ist's mit Numero zwei?«

»Einen könnte man schließlich noch, obgleich mein Arzt, der Hofrat Astaller ... So! Nicht zu voll!« Brokkenhuus kippte den Allasch mit Genuß. Als aber Henne ihn zu einem dritten Glas verführen wollte, wehrte er lebhaft ab. Denn draußen vor der Tür klapperte Geschirr. Er langte nach dem Schnapsglas, fing es diesmal schon auf Anhieb recht gewandt und schob es hastig Henne zu: »Aber trink du noch einen, Manny!«

»Lieber nicht! Der Russe sagt zwar: ohne vier Ecken wird kein Haus jebaut. Aber um sich dem Trunk bis zur Besäufung hinzujeben, ist's noch zu früh am Tag. Und außerdem sieht mich Karline übers Teebrett weg schon strafend an.«

Die Köchin stellte die Terrine auf den Tisch und sagte: »Ist auch nicht viel von Allasch nachjeblieben.«

»Fünf Gläser sind heraus«, wehrte sich Henne.

»Fünf ist wohl wenig!« höhnte sie und hob die Flasche gegen das Licht.

»Ich hab sie aber nicht allein ...« rief er und warf einen Seitenblick nach seinem Onkel hin. »Das Krokodil trank mit und ist selig an Alkoholverjiftung einjegangen, Gott sei Dank! Entführen Sie die Buddel also ruhig im Triumph! Sie lassen sie ja doch nicht da.«

»Wird besser sein! Weil Jungherr seine Augen sind ja schon ganz blank. Jungherr soll essen auch. Buljong wird kalt.« Damit ging sie hinaus. –

Es schmeckte Henne, wie sich zeigte, gut. Er tat allem, was ihm Karline auftischte, viel Ehre an. Sich aber das Essen leicht zu machen, war nicht seine Art. Er widmete den Kalbsbruststücken in dem Frikassee die gleiche mißtrauische Sorgfalt wie zuvor schon der Sardine und brachte nichts als reine Muskelfasern zwischen seine Zähne. Nach dem Fleischgang konnte man wohl der Meinung sein, es läge, da er fertig war, mehr auf dem Teller, als er sich genommen hatte. Deswegen kam sein Magen aber nicht zu kurz, und es schien rätselhaft, warum er bei dem Appetit so dürr geblieben war. Der Graf sah ihm mit neidischer Bewunderung zu. Wie ein Kanarienvogel aß der nicht, o nein: im Hinblick auf die Mengen, die er zu sich nahm, ließ er sich gut mit einem Wolf vergleichen, und was wählerische Mäkelei betraf, mit einem Ziegenbock von edelstem Geblüt.

Über dem Garten draußen brütete heiß Nachmittagsstille und strömte durch die Fenster in das Zimmer. Hie und da nur tauschten die beiden ein paar Worte, die kaum etwas sagten. Gedämpft klapperte das Besteck auf Hennes Teller. Selten wehte fernher ein verlorener Laut heran, ein Amselpfiff, ein Truthahnkollern, das Brüllen einer Kuh – hing eine Weile in der Luft und wurde von der Stille eingeschluckt und hatte sie nur greifbar und dem inneren Ohr bewußt gemacht. Sogar der junge Diener dämpfte beim Auftragen seinen Tritt und sah wie schuldbewußt darein, wenn das Geschirr einmal ein bißchen stärker klirrte.

Onkel und Neffe, die sich durch die lange Trennung doch ein wenig fremd geworden waren, kamen sich in dieser stummen halben Stunde näher als durch das zugespitzt hintändelnde Geplauder von vorhin. Dies Schweigen zwischen ihnen wob an einem Band der Neigung, dem Blutsgemeinschaft und ein nahverwandtes Schicksal feste Kettenfäden spannten.

Plötzlich aber wurde Henne die entrückte Stimmung doch zu schwül; er gab sich einen Ruck und sagte: »Nicht, Onkel Woldemar? Wie still es ist! Aber trotzdem die ganze Zeit so was, als ob die Stille – wie soll man da sagen? – von etwas Jeheimnisvollem kocht. Bis man plötzlich bemerkt, daß es jemeine Stubenfliejen sind, die diese ewije Melodie vollführen. Pfui, tisch tisch! Da sitzt mir eine schon im Haar!«

Der Graf schlug matt die Augen auf und antwortete: »Ja, muß man Sepp schon mal nach Fliejenfängern schicken.« Aber der Blick, der seinen Neffen streifte, war sich dieser Worte kaum bewußt und sah auch nichts von Henne. Er ging durch die Wirklichkeiten dieser Welt hindurch und offenbarte in seiner gefaßten Schwermut jenes Wissen um das Letzte, das die wächsernen Gesichter von Toten, die reif und ohne Kampf gestorben sind, so ausdrucksvoll erscheinen läßt in ihrer Ausdruckslosigkeit.

Das Lächeln erlosch auf Hennes Lippen, und er blickte hastig weg. Jetzt seinem Onkel in den Augen lesen – das hätte ihm geschienen, wie wenn er einen belausche, der im Schlafe spricht. Er wollte, diesen Bann zu lösen, ein paar muntre Worte sagen, brachte aber nichts hervor. Da griff er nach dem Löffel und beendete mit langsamer Ausführlichkeit sein Mahl. –

Erst als dann Karlines berühmter Kaffee die Geister weckte und die Zigaretten brannten, kam das Gespräch wieder in Gang. Der Graf bat Henne, ihm von seinem Leben zu erzählen.

»Wei, man lebt«, antwortete der Neffe. »Was soll man viel erzählen! Man wälzt täglich zwischen neun und vier das Kassabuch und ist jewissenhaft darauf bedacht, sich ja nicht aus Versehen totzuarbeiten.«

»Manny, du und Buchhaltung, das reimt sich mir so schlecht. Warum nu grade den Beruf?«

»Wird man jefragt?«

»Weißt du noch, Manny, wo wir uns – du warst wohl noch ein Halbwüchsling – zum letzten Male sahen? – Bei der alten Tante Laura. Und du phantasiertest uns was vor.«

»Auf Tante Laurchens Tafelklavizimbel, ja. Und sie, so harthörig sie ist, fand mein Jepauk zu laut, aus Sorje um ihr ehrwürdijes Instrument. Du lächeltest und schwiegst; und das ist auch Kritik.«

»Glaub doch nicht sowas, Manny! Ich find's jammerschade, daß du nicht bei der Musik jeblieben bist. Jing es denn gar nicht, daß du doch auf die Akademie ...?«

»Mon Dieu, wovon! Wenn man bejütert ist wie eine Kirchenmaus und noch den Haufen Schulden erbt?«

Der Graf sah eine Weile schweigend in die Luft. »Sag«, fragte er dann, »ließ sich das denn gar nicht anders machen?«

»Onkel Woldemar, bei uns! So etwas muß man doch vertuschen. Nu ja, es ist vielleicht klein bißchen kühn, ›vertuscht‹ zu nennen, was jedes alte Weib im Ländchen wochenlang bekakelt hat. Nu, Gott hatte es Papas Gläubijern glücklicherweise offenbart, was ich noch gar nicht wußte: daß die jesamte unvermählte Tantenschaft mich als den Erben ihrer Rubelstücke vorjesehen hatte.«

»Und das war nett von meinen alten Schwestern!« rief der Graf.

»Nett, Onkel Woldemar, ist gar kein Ausdruck dafür. Wo ich von Kindesbeinen an schon durch mein Mundwerk bei den Tanten nichts als Ärjernis erregte! Was siegte, war das Mitleid mit dem hinkenden Jebein und meiner, nu, wie sagt man, Lebenstüchtigkeit.«

»Und, Manny, weil ja deine arme Mutter die Lieblingsschwester von uns allen war. Nur schade, daß die Erbschaften nicht dir selbst zugute kamen!«

»Schweinerei, nicht wahr?« rief Henne. »Nu, einerlei, die Schulden bin ich los.«

»Was? Alles abjezahlt?«

»Seit Tante Ischens Tod. Es blieb sogar was nach, so daß ich mir einen Bechsteinflüjel leisten konnte für den Hausjebrauch. Jibt ja paar so verrückte Freunde, die mich jern über die Tasten rasen hören.«

»Manny, aber dann begreif ich nicht ... Und Tante Laura schrieb mir doch, daß du sie auch beerbst.«

»Leere Versprechungen von einer, die ganz ohne Frage ewig lebt!«

»Jeh, Manny, sie muß reichlich achtzig sein.«

»Sehr reichlich: siebenundachtzig. Was beweist das? Sie stirbt nie. Und ich muß bis zu meinem Tode jeden Sonntag bei ihr Mittag essen, meistens Sachen, die mir widerstehn. Das findet sie erzieherisch.«

»Wär damals nicht meine Bank verkracht, dann könnte ich dir helfen«, sagte sinnend der Graf. »Zu schade, daß Leibrente mit dem Tod erlischt! Auf meine Erbschaft würdest du nicht lang zu warten brauchen.«

»Laß, Onkel Woldemar!« rief Henne unbehaglich, rührte eifrig in der Tasse, hob dann das Kinn und fuhr lässigen Tones fort: »Es hat auch wenig Zweck – mir fehlt, was Franz de Paula Bachhuber den Mut jibt, Leute anzupuffen: der Glaube an die Sendung als Musiker, was man so die Berufung nennt. – Ich hab mich auch bei langsam an mein Kassabuch jewöhnt und bewundre mich ja so, daß ich das fertig bring! Kurzum: ich, Feigling von Natur, fürchte mich vor nichts so sehr wie vor Veränderung.«

Ein Lächeln zog die Lippe von des Grafen vorstehenden Oberzähnen, während sein fliehendes Kinn sich kaum noch vom Hals abhob. »Da hast du dir's unjünstig ausjesucht. Du wirst wahrscheinlich noch recht viel Veränderungen mitzumachen haben.«

»Nein, Onkel Woldemar, mit meinem Willen nicht!«

»Auch da wird nicht jefragt, was einer will, mein lieber Manny. Ich trau dem Fortbestand der Ruhe in Europa nicht. Es knistert irjendwie schon im Jebälk.«

»Ja, ja; das Grundmotiv in deinen Büchern, Onkel Woldemar.«

»Und das hast du bemerkt? Die meisten nehmen an, daß ich nur von der – wie soll ich sagen? – Jötterdämmerung des Adels sprech. Adel! Wir leben in einer total verbürjerlichten Welt und haben selbst gar keine andre mehr jekannt. Und ist man mal an sie jewöhnt, hält man's gut in ihr aus, wenn man zufällig mehr in ihren oberen Regionen jeboren ist. Da unten aber – na!«

»Was, Onkel Woldemar, denkst du an Revolution? Die Deutschen machen sowas nicht.«

»Wer weiß! Hat man in Rußland denn jeglaubt ... Und doch hast du's im Jahre fünf da oben selber miterlebt.«

»Ach das? Sehr viel bemerkt hab ich ja nicht davon. Vorm Schützengraben standen paar bedrohliche Maschinenjewehre, und das Straßenleben war bißchen belebter als wohl sonst, soweit ich davon Kenntnis nahm. Zu mir kam nie ein Hooligan. Er hätte auch nicht viel Pretiosen vorjefunden.«

Der Graf zeigte ein dünnes Lächeln. »Du siehst das richtig bürjerlich. Wie mein Freund Rapp! Bei dem verkehrt zum Beispiel eine junge Russin, Malerin oder sowas – Nihilistin, wie sie im Buche steht, und die aus ihren Ansichten auch kein Jeheimnis macht. Und glaubst du, das nimmt jemand ernst?«

»Wie spannend!« lachte Henne. »Eine lebendije Nihilistin kennenzulernen, hab ich mir längst jewünscht. Ich hielt sie mehr für eine Sage.«

»Sage, die Bomben schmeißt.«

»Ach, wird sie denn? Wenn du jestattest, nehm ich sie auch nicht ernst.«

»Sie selbst – dazu ist wohl kein Grund. Dies russische Intellektuellenjeschwätz! Aber unsre bürjerliche Welt glaubt auch nicht an das tiefe Meer, das oben so kuriose Wellen schlägt. So tanzt man schön jemütlich Walzer auf dem Vulkan und engagiert dazu den Feind.«

»Onkel Woldemar, wirkst denn nu du dabei als Stimme eines Predijers in der Wüste?«

»Nein, Manny, was hätt das für einen Zweck! Ich hoff ja auch, daß ich's in den paar Jahren, die mir, wenn's Gott so will, noch bleiben, nicht mehr erleb, wie alles dies, in das man nu mal hereinjeboren ist, zusammenkracht.«

»Ach, Onkel Woldemar, was wird es denn schon krachen! Wie käm es auf einmal dazu?«

»Manny, wenn nu, wie Anno fünf in Rußland, ein Krieg den Anstoß jibt? Es sah die letzten Tage fast so aus. Jetzt hab ich das Jefühl, wir rutschen diesmal grad noch drum herum.«

»Ach, weil dies kleine deutsche Kriegsschiff nach Agadir hinfuhr? – Nee, für Krieje ist die Menschheit nicht mehr dumm jenug.«

»Wovon wird sie jetzt plötzlich klug jeworden sein«, so widersprach der Graf, »wo sie doch seit dem sechsten Schöpfungstag in jeder Situation das Dümmste tat, was auszudenken ist; und grade, weil sie's mit dem Verstande machen will! Ideologen – nein, Gott schütz!«

»Guck mal«, sagte Henne, »endlich weiß man, auf welchem Beet die schöne Warnungstafel am Gartentore deines Freundes wuchs.«

»Die kennst du auch schon, Manny?«

»Ja, Onkel Woldemar! Und außerdem kenn ich auf Grund nur dieser Tafel deinen Freund jenau.«

»Ach, Manny, das sind kleine Scherze, wie er sie liebt. Danach allein darf man nicht urteilen. Er jilt sogar bei andern Chemikern als Licht und ist durchaus nicht dumm.«

»›Dumm‹ mein ich auch nicht. Außerdem ist ›dumm‹ in meinen Augen keine Schande. Wenigstens kommt es auf den Grad an. Normale Dummheit ist sehr ledern – jeb ich zu. Sobald sie aber drüber hinausjeht, wirkt sie als interessantes Phänomen, wie, nu, wie negatives Feuerwerk. Kuck beispielsweise Süßing, unsern lieben Goswin, an!«

»Man weiß, woher er's hat«, lachte der Graf. »Vorteilhaft für die Rasse war diese Billeringsche ›Blutauffrischung‹ nicht.«

»Nu, aber körperlich ...« wendete Henne ein. »Er ist doch eine prachtvolle Erscheinung, bis er – was sagt.«

»Ich, Manny, hätt ihn mir nicht als Reisekameraden ausjesucht.«

»Erbarm dich, Onkel Woldemar, hab ich das Jeld?«

»Ach so!«

»Und Tante Aina hatte solche Angst, ihr Süßing könnte durch Einsteigen in falsche Züge oder sonstije Unglücksfälle verlorenjehn. So engagierte sie mich als eine Art von Reisemarschall für das dreiunddreißigjährije Kind. Rendant und Reisemarschall – scheint, daß Gottes Füjung mich prinzipiell am falschen Platz verwenden will.«

»Und wie kamt ihr nu miteinander aus?«

»Ach ja ... Klein bißchen stört es wohl, daß ich den armen Kerl so schlecht behandeln muß.«

»Weswejen mußt du?«

»Wenn er für mich bezahlt! Sonst kam man sich ja wie ein Bettler vor!«

»Ja aber, da du ihn so plötzlich verlassen hast, muß doch ...«

»Nein, nein, das hatte andere Gründe. Es schmissen sich uns dort im Hotel zwei Damen an. Sie gaben sich nämlich als solche aus, aber, sag selbst: wenn sich die eine auf den Adonis Goswin stürzt, den außerdem noch eine Grafenkrone schmückt, kann man das noch für echte Liebe halten; wenn aber die andre mir höchst feurige Avancen macht, sagt das jenug. Muß ich nu Süßings Erfolje bei seiner Circe bewundern und dabei in ewijer Angst vor diesem andern schrecklich zielbewußten Weibe leben? – So bin ich Montag, als der Süßing artig in seiner Badewanne saß, stilliechen ausjekratzt. Und leider muß ich, bis er nachkommt, nun dir auf der Tasche liejen, Onkel Woldemar.«

»Manny, bleib, solang du Lust hast! Ob allerdings die gute Aina dir Dank dafür wissen wird, daß du ihn grade da verläßt, wo er bestimmt vor einem falschen Anschluß steht?«

»Ich rechne nicht auf Dank«, erklärte Henne. »Und einen schönen Dummerjahn vor Weibern hüten, jeht über Menschenkraft. Ich hoffe nur zu Gott, daß er nicht völlig ausjeplündert hier in den Hafen treibt.«

»Nu, schlimmsten Falls«, tröstete der Graf, »hilft mein Freund Rapp ihm aus.«

»Der Mensch ist unanständig reich, was, Onkel Woldemar?«

»Hier hör ich deine ›Quelle‹ rauschen, Manny. Nein, so reich, wie sich Bachhubers mißjünstige Phantasie das vorstellt, ist nicht mal Vanderbilt. Aber nach seinem ganzen Lebenszuschnitt steht sich Rapp jewiß nicht schlecht. Was wußte denn der kleine Musikant sonst noch von ihm?«

»Gott, eijentlich hat er nur mild auf ihn jeschimpft.«

»Jeschimpft? Lebt jahrelang von ihm ...!«

»Ja, eben, dafür fand ich es mild.«

»Ach«, warf der Graf verächtlich hin, »laß er erzählen! Du wirst sehn: Rapp ist ein netter Kerl – ja, apropos: gleich heute nach dem Abendessen hinzujehn, wird dir kaum passen?«

»Nein, aber wenn du's vorhast, jeh doch ja! Ich bleib jern allein.«

»Manny, was denkst du! Keine Spur! Nein, ich schick Sepp hinüber und sag ab. Sei doch so gut und drück mal auf den Knopf dort an der Tür.«

Der kleine Diener kam und stand abwartend stramm. Der Graf erklärte ihm ausführlich, was er dem Herrn Doktor ausrichten solle. Aber während er so sprach, konnte ein feines Ohr vernehmen, daß ihn die Absage im Grund schon wieder reute.

In Hennes Blick trat ein verschmitztes Lauern, und als Sepp draußen war, fing er anscheinend harmlos an: »Übrigens, Onkel Woldemar: so furchtbar hat dies Pumpgenie auf den Herrn Rapp doch nicht jeschimpft. Und was er über Fräulein Centa sagte, klang sogar beinah verliebt.«

Der Graf hob schnell den Kopf, dann aber gab er mit ruhigem Spott zurück: »Da wird er kaum viel Jejenliebe finden.«

»Auf jeden Fall verkörpert sie sein Frauenideal«, schmunzelte Henne; »sie ist doch groß und üppig, nicht?«

»So?« lachte der Graf. »Jeht er da nach dem lebenden Jewicht?«

»Ja, doch. Groß, üppig und jesund, hat er betont.«

»Jesund, das ist sie, Manny, ja, erfrischend und beneidenswert jesund!«

»Ich stell sie mir als so ne Art von weiblichem Pendant zu Süßing vor.« Henne sah seinen Onkel harmlos an.

»Ach was? Behauptet das der Esel auch?«

»Als Lob doch, Onkel Woldemar! Dummheit hält er für einen Reiz bei Frauen.«

»Der Dohjan, der! – Weil sie nicht klug schwatzt über Dinge, die sie nicht versteht! Ein Mädel, das Instinkt bis in die Fingerspitzen hat!«

»Nu weiß man ja«, stellte sein Neffe bei sich fest, »wer der Magnet für ihn in diesem Hause ist. O Weiber, Weiber, was macht ihr aus euern Knechten! Jung jewohnt, alt – komische Figur. Tja, armer Onkel Woldemar!« Doch gab ihm die Miene des also Bemitleideten wohl zu denken, denn er überlegte weiter: »Nu aber: arm; was heißt denn arm! Ist der der Reichste, der am meisten hat?«

Und wieder sahen sie eine Weile schweigend vor sich hin.


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