Annie Hruschka
Das Haus des Sonderlings
Annie Hruschka

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2.

Silas Hempel ging zunächst in ein Zeitungsbüro und kaufte sich die Morgennummer der »Neuen Freien Presse« vom 28. Mai. Unterwegs im Straßenbahnwagen suchte er dann die betreffende Stelle, die in dem gefundenen Blatt herausgeschnitten gewesen war. Sie befand sich unter den Theater- und Kunstnachrichten und enthielt die Besprechung neuer Nummern im Schlußprogramm des Apollotheaters.

Da war vor allem die Traumtänzerin »La belle Adisane«, welche Publikum und Kritik entzückt hatte durch ihre feine, magisch wirkende Tanzkunst. Da waren auch die »Brothers Copley«, englische Equilibristen, die Außerordentliches leisten sollten, das Publikum seit 8 Tagen allabendlich entzückten usw.

Ueber die »Belle Adisane« stand zum Schluß noch: »Der Erfolg dieser Künstlerin, die zum erstenmal Wiener Boden betrat, war so groß, daß ihr nur für drei Abende berechnetes Auftreten weitaus nicht genügt, um allen Wünschen des Publikums gerecht zu werden. Leider ist Mlle. Adisane kontraktlich verpflichtet, von hier nach Budapest zu gehen. Doch ist es, wie unser Berichterstatter, der persönlich im Hotel Palace bei der Künstlerin vorsprach, meldet, der Direktion des Sommertheaters im Englischen Garten gelungen, sie für ein weiteres Gastspiel dort zu gewinnen, sobald die Budapester Verpflichtungen erfüllt sind.«

Silas Hempel steckte die Zeitung enttäuscht ein. Diese Notiz konnte nichts mit dem Verschwinden Torwestens zu tun haben. Höchstens hatte sie ihn veranlaßt, nach Wien zu fahren und sich die neuen Zugnummern im Apollotheater anzusehen. Wozu er da aber die Notiz eigens herausgeschnitten hatte, war nicht klar.

Der Detektiv war nun fast geneigt, Dr. Wasmuts Theorie nicht mehr für so ganz unwahrscheinlich zu halten.

Daß Torwesten diesmal nicht im »Imperial« abgestiegen war, bewies schließlich nichts. Er konnte eben wegen des beabsichtigten Besuchs des Apollotheaters ein diesem Etablissement näher gelegenes Hotel gewählt haben.

Hempel, der aus der Villa Solitudo eine Photographie des Hausherrn mitgenommen hatte, die Titus für sprechend ähnlich erklärt hatte, beschloß also auf alle Fälle, mit Hilfe dieses Bildes am andern Tag Nachforschungen in den Hotels des sechsten Bezirkes zu versuchen. Aber sein Interesse an dem Fall war bedeutend gesunken.

Verstimmt langte er in seiner Wohnung an. Dort meldete ihm seine alte langjährige Wirtschafterin, daß eine junge Dame bereits seit einer halben Stunde auf ihn warte.

Er begab sich also gleich in den Salon.

Ein bildschönes Mädchen mit schwarzem Haar, einem runden rosigen Kindergesicht und blauen Augen erhob sich bei seinem Eintritt verlegen von einem der Fauteuils.

Diese blauen Augen fielen Hempel sofort auf. Nicht weil sie einen selten reizvollen Gegensatz zu dem schwarzen Haar bildeten, sondern durch ihren klaren, warmen Blick, der ungewollt herzlich wirkte. Sie konnte nicht viel über 19 Jahre alt sein. Aber trotz dieser Jugend und trotz dieser kindlich weichen Züge war etwas Sicheres, fast Energisches in ihrem Auftreten.

»Mein Name ist Heidy Siebert,« sagte sie, sich leicht verneigend, »ein Freund unserer Familie, dem Sie einmal in schwieriger Lage einen großen Dienst erwiesen, Herr Hempel, wies mich in meiner Sorge an Sie.«

»Darf ich bitten, Platz zu nehmen,« erwiderte der Detektiv höflich und fügte dann lächelnd hinzu: »Wenn man so jung und schön ist, mein Fräulein, wird es mit den Sorgen wohl nichts sehr Ernstes auf sich haben.«

»Doch. Es ist sehr ernst. Wenigstens fürchte ich es. Es handelt sich um das unerklärliche Verschwinden meines Bräutigams.«

Silas Hempel machte eine Bewegung der Ueberraschung.

»Oh – sollten Sie etwa die Braut Herrn Torwestens sein, mein Fräulein?«

»Torwesten, nein. Diesen Namen habe ich nie gehört. Mein Bräutigam heißt Georg Brand und ist Reisender. Wir lernten uns vor nicht ganz einem Jahr zufällig im Theater kennen, wo Brand mein Nachbar war. Wir sprachen von dem Stück – es war ›Der Biberpelz‹ – und er fragte mich, ob ich die andern Stücke von Gerhart Hauptmann kenne. Ich verneinte. Da ich mich und meine Mutter durch Sprachstunden erhalten muß, bleibt mir natürlich kein Geld, um Bücher zu kaufen. Irgendwie kam dies dann im weiteren Verlauf unserer Unterhaltung auch zur Sprache, und Herr Brand erbat sich die Erlaubnis, mir Bücher zu borgen. Da Mama, die mit war, nichts dagegen hatte, gab ich gern auch meine Einwilligung, denn Herr Brand gefiel mir gleich sehr gut, und ich merkte auch, daß die Bücher bei ihm nur ein Vorwand waren, mit uns bekannt zu werden. Was ich damals ahnte, trat dann auch ein. Wir lernten uns lieben und verlobten uns. Wenn ihn sein Beruf nach Wien führte, brachte er seine ganze freie Zeit bei uns zu. Er ist ein stiller Mensch, der sich wie ich nichts aus Vergnügungen macht und glücklich ist, wenn er abends in unserem bescheidenen Heim bei uns sitzen und mit mir plaudern kann. Ich will Sie nicht langweilen mit der Beschreibung, was mir diese Stunden waren an innerem Glück und Erhebung. Brand war so viel in der Welt herumgekommen und verstand, wenn er davon erzählte, alles so wunderbar zu beleben durch sein warmes Gefühl und seinen Reichtum an tiefen Gedanken. Genug – er ist mir alles geworden! Ohne ihn hätten Welt und Leben für mich keinen Wert mehr!«

»Und Sie sagen, Ihr Bräutigam ist verschwunden?« fragte Hempel mehr aus Höflichkeit, denn die Sache schien ihm nicht sehr interessant.

»Ja. Seit gestern. Am Vormittag sah ich ihn noch – ganz zufällig in der Mariahilferstraße – dann muß ihm irgend ein Unglück zugestoßen sein, obwohl man mir dies bei der Polizei, wo ich heute morgen war, nicht glauben will!«

Hempel lächelte.

»Es scheint auch kaum glaublich. Wenn Sie ihn doch gestern noch gesehen haben!«

»Ja. Aber er sagte mir da, daß er bestimmt am Nachmittag, längstens am Abend kommen würde. Er kam nicht. Wenn Sie ihn kennen würden, wie ich ihn kenne, wüßten Sie, daß ein Wortbruch bei ihm ausgeschlossen ist.«

»Er kann doch verhindert worden sein.«

»Wodurch? Die Abende sind sein! Und wenn auch. Er hätte uns einen Boten geschickt. Es wäre wenigstens heute früh sein erstes gewesen, Zu kommen und uns zu beruhigen! Sie wissen nicht, wie zärtlich er an mir hängt. Dazu kommt noch, daß das Automobil, in dem ich ihn gestern sah, wie ich heute in den Morgenblättern las, irgendwo an einem abgelegenen Ort halb zertrümmert aufgefunden worden ist. Der Chauffeur lag tot darunter. Das läßt mir gar keine Ruhe.«

Silas Hempel hatte sich aus seiner nachlässigen Stellung kerzengerade aufgerichtet und blickte die Sprecherin gespannt an. Er war plötzlich Feuer und Flamme: »Das Automobil, in dem Sie ihn gestern sahen? Wie war das? Wo? Bitte, erzählen Sie mir diese Begegnung einmal ganz genau!«

»Es ist nicht viel zu erzählen. Ich war auf dem Wege in meine erste Stunde, die um neun Uhr beginnen sollte. Meine Schülerin wohnt in der Neubaugasse. Als ich durch die Mariahilferstraße ging und eben in die Neubaugasse einbiegen wollte, wäre ich fast in ein Auto gerannt. Zu meinem freudigen Schreck sah ich, daß Georg darin saß. Ich rief laut seinen Namen. Er blickte auf, erkannte mich und ließ sofort halten, um auszusteigen.«

»Welch gute Vorbedeutung, dich hier zu sehen!« sagte er freudig. »Ich bin erst seit heute Nacht in Wien und wollte nachher gleich zu dir. Oder hast du viele Stunden heute?«

»Bis ein Uhr, dann bin ich frei.«

»Gut, dann komme ich am Nachmittag. Oder warte . . .«, er sah betroffen vor sich hin, als wäre ihm eben ein unangenehmer Gedanke gekommen. Sein eben noch frohes Gesicht hatte sich plötzlich verdüstert. »Vielleicht kann ich auch erst am Abend kommen,« setzte er kleinlaut hinzu. »Dann aber ganz bestimmt! Grüße mir Mama einstweilen! Auf Wiedersehen, mein Liebling!«

Damit stieg er wieder ein.

»War er allein im Auto oder mit noch einem Herrn?«

»Allein.«

»Und woraus schließen Sie so bestimmt, daß es dasselbe Auto ist, das man gestern abend zertrümmert fand? Haben Sie es denn so genau angesehen?«

»Ja. Erstens war es sehr auffallend. Ganz anders als alle Autos, die ich bisher sah. Hellgrün mit zwei roten Streifen – so soll auch das zertrümmerte gewesen sein. Zweitens sah Georg so vornehm aus, wie er in dem Automobil saß, daß ich noch eine Weile an der Ecke stehen blieb und ihm stolz nachsah. So konnte ich das Automobil und die Nummer sehr deutlich sehen.«

»In welcher Richtung fuhr es?«

»Gar nicht mehr weit. Nur bis zum Palast-Hotel. Dort hielt es, und Georg stieg aus. Ich sah ihn noch im Hotel verschwinden, dann erst setzte ich meinen Weg fort.«

Hempel sah schweigend vor sich hin.

Im Palast-Hotel! Dort wohnte ja auch la Belle Adisane! War das nur Zufall?

Plötzlich fragte er. »Warum heirateten Sie sich denn nicht, wenn Sie einander so lieb hatten?«

Heidy Liebert errötete.

»Ich sagte Ihnen ja schon, daß ich Mama und mich durch Stundengeben erhalte! Georg aber war nur Reisender. Ich weiß nicht, wie viel er da Gehalt hat, aber als wir ein paarmal vom Heiraten sprachen, meinte er wir müßten noch warten.«

»Und sind Sie überzeugt, daß er es ehrlich mit Ihnen meinte?«

»Felsenfest! Darüber kann auch nicht der leiseste Zweifel bestehen!« antwortete sie mit flammendem Blick. »Warum fragen Sie dies?«

Hempel antwortete nur durch eine Frage.

»Besitzen Sie ein Bild Ihres Bräutigams?«

»Ja. Ich habe es mitgebracht, weil Sie es vielleicht brauchen. Es ist seine letzte Aufnahme, und er ist glänzend getroffen.«

Sie nestelte an ihrem Handtäschchen herum und reichte dann Hempel eine Photographie.

Er hatte kaum einen Blick darauf geworfen, als er im höchsten Grade überrascht zurückprallte. Das Bild, welches Heidy Siebert ihm als das ihres Bräutigams, Georg Brand, gegeben, war genau dasselbe, das er selbst seit heute morgen in der Tasche trug.

Es konnte keinem Zweifel unterliegen, daß der Millionär Torwesten und der Reisende Brand ein und dieselbe Person waren.

Heidy hatte sein Erschrecken bemerkt.

»Was ist Ihnen? Warum starren Sie das Bild so betroffen an?« fragte sie beunruhigt. »Kennen Sie Georg etwa?«

Hempel antwortete nicht gleich.

Ein Instinkt warnte ihn, Heidy sofort die Wahrheit zu sagen, ehe er selbst den Zusammenhang übersah. Entweder war sie eine arme Betrogene, mit der es Torwesten nie redlich gemeint hatte, oder es gab für ihn ernste Gründe zu dieser Doppelexistenz. Das mußte erst festgestellt werden, ehe man Heidy Siebert aufklärte. Darum sagte er für jetzt nur: »Das Bild kam mir allerdings bekannt vor, doch kann ich mich im Augenblick nicht besinnen, ob und wo ich Herrn Brand schon gesehen habe. Jedenfalls aber will ich mich bemühen, sein Verschwinden aufzuklären.«

Heidy atmete erleichtert auf. Dann sagte sie:

»Ich danke Ihnen! Und nun noch eins. Ich sagte vorhin, daß wir arm sind. Dies ist richtig. Aber ich besitze von meinem Vater ein kleines Erbe, das wir nie angriffen, weil wir es als unseren Notpfennig betrachteten. Es sind 8000 Kronen. Mama ist mit mir einverstanden, daß wir dieses Geld nun für die Nachforschungen verwenden. Sparen Sie also bitte ja nichts, was irgendwie zur Aufklärung dienen könnte. Daß man Georgs Leiche nicht fand, läßt mich ja immer noch hoffen . . . vielleicht stieß ihm ein Unfall zu, und er liegt nun irgendwo krank darnieder. Glauben Sie nicht, daß dies möglich wäre?«

Silas Hempel blickte gerührt in das junge schöne Gesicht. »Hoffen wir es!« sagte er dann ernst. –

Es war klar, daß nach Heidy Sieberts Angaben nun das Palace Hotel den Ausgangspunkt weiterer Nachforschungen zu bilden hatte. Hempel begab sich, nachdem er hastig sein Mittagessen eingenommen hatte, sofort dahin.

Man erinnerte sich dort des hellgrünen Automobils ganz gut, besonders da durch die Berichte der Morgenblätter die Sache aktuell geworden war. Auch in der vorgewiesenen Photographie erkannte der Portier unzweifelhaft den Herrn, welcher mit dem Automobil gekommen war. Er hatte nach der Traumtänzerin La belle Adisane gefragt, war von dem Portier nach dem ersten Stockwerk, wo die Künstlerin Nr. 7 und 8 bewohnte, gewiesen und sofort empfangen worden. Eine volle Stunde lang blieb Torwesten bei der Tänzerin. Dann fuhren beide in seinem Automobil fort, wohin, wußte der Portier nicht.

Mlle. Adisane war dann am Nachmittag in einem andern Auto allein zurückgekehrt und eine Stunde später nach Budapest abgereist, wo sie heute zum erstenmal aufzutreten hatte.

Dies war alles, was Hempel erfahren konnte.

Es bestätigte vorläufig nur seinen schon instinktiv gehegten Verdacht, daß Torwesten Beziehungen zu der Traumtänzerin hatte. War er gekommen, sie fortzusetzen oder – zu lösen? Eigentlich war diese Frage nur im Hinblick auf Heidy Siebert von Bedeutung.

Aber Heidys innige, opferbereite Liebe hatte in Silas Hempel so viel menschliche Teilnahme geweckt, daß er doch den Versuch machen wollte, sie zu lösen. Er dachte dabei an das Stubenmädchen und die bekannte Neugier dieser Leute. Sollte sie, da die belle Adisane momentan eine berühmte Person in Wien war, nicht ein wenig gehorcht haben? Um so mehr, als die frühe Stunde ihr für einen Herrenbesuch doch auffallen mußte.

Leider erwies sich das Stubenmädchen als ein weißer Rabe ihres Geschlechts. Sie war nicht mehr jung und kränklich und erklärte, nicht das geringste Interesse zu haben an dem, was außerhalb ihres Dienstes vor sich ging. Dabei blieb sie trotz Geld und guter Worte. Sie hatte den Herrn angemeldet und sich dann nicht weiter um ihn bekümmert.

Nicht einmal an den Namen erinnerte sie sich, weil sie die Karte, ohne sie anzusehen, hineingetragen hatte.

Die Tänzerin war noch im Morgennégligé gewesen und hatte eben ihre Schokolade getrunken.

Während dieser vergeblichen Bemühungen, Auskunft zu erhalten, war es Silas Hempel aufgefallen, daß ein Herr sich mehrmals am Korridor zu schaffen machte und unvermerkt trachtete, etwas von der Unterhaltung aufzuschnappen.

Er ärgerte sich darüber und brach das nutzlose Gespräch hauptsächlich deshalb bald ab.

Als er dann, nachdem er sich vom Portier noch die Budapester Adresse der Tänzerin hatte geben lassen, das Hotel verließ, stand draußen derselbe Herr wieder und bat ihn um Feuer für seine Zigarre.

Dabei sagte er: »Sie haben vorhin das Stubenmädchen wegen des Herrn gefragt, der gestern früh zu der schönen Adisane kam. Darf ich fragen, ob Sie ein persönliches Interesse an der Sache haben?«

Hempel musterte den mit aufdringlicher Eleganz gekleideten Herrn erstaunt.

»Wie kommen Sie zu der Frage? Natürlich werde ich ein Interesse haben, wenn ich mich nach etwas erkundige!«

»Sind Sie etwa von der Polizei geschickt?«

»Nein. Warum?«

»Nun, es könnte ja sein, daß auch dem Herrn ein Unfall passiert ist, da man sein Automobil verunglückt fand. Ich meine nur so. Es ist allerlei merkwürdiges Zeug geredet worden zwischen den beiden, und da Sie nicht von der Polizei sind, will ich es Ihnen recht gern erzählen, wenn Sie wollen.«

»Ja, wissen Sie denn etwas?« rief Hempel, den die dreiste Aufdringlichkeit des Fremden plötzlich gar nicht mehr genierte. »Wer sind Sie?«

»Mein Name ist Salo Goldstein, Reisender in Edelsteinimitationen,« antwortete der Herr stolz. »Ich steige immer im Palace Hotel ab und bewohne immer dasselbe Zimmer – Nr. 6. Diesmal machte mich der Zufall zum Nachbarn der berühmten schönen Adisane. Sie können sich wohl denken, daß man da ein bißchen neugierig ist und gegebenenfalls die Ohren spitzt! Die Hotelwände sind ja auch so dünn und außerdem gab es noch eine Verbindungstür! Aber wenn es Ihnen recht ist, gehen wir da ins Café. Es plaudert sich gemütlicher.«

Der Mann war ein eitler, selbstgefälliger Schwätzer, der glücklich war, sich wichtig machen zu können. Aber daran dachte Hempel jetzt nicht, sondern frohlockte innerlich nur über den Glückszufall, der ihm diesen Menschen in den Weg geführt.

Was er dann unter mancherlei selbstgefälligen Randbemerkungen erfuhr, war folgendes Gespräch.

»Entschuldige, ich habe nur mit dir zu tun! Dein Vater, der mir ja ganz fremd ist, geht mich nicht das mindeste an.« –

»Ach, sei doch nicht so, Georg! Du kannst ja doch mir zuliebe wenigstens mit ihm reden!«

»Dir zuliebe?« sagte Torwesten im Tone höchsten Erstaunens. Dann schwieg er, und es blieb eine Weile still, bis er wieder begann.

»Wir wollen es kurz machen, Anny. Ich will ehrlich sein und dir sagen, daß ich nie wieder in eine Unterredung gewilligt hätte, wenn mich nicht mein eigenes Interesse zwänge, nun endlich einen Strich unter die Vergangenheit zu machen. Ich will heiraten –«

»Was, du willst heiraten? Wirklich? Wen denn? Wie mich das interessiert!«

»Wen, ist gleichgültig. Für dich kommt nur in Betracht, daß ich es will, und um es zu können, noch einmal zu einem Opfer bereit bin. Die näheren Bedingungen mit dir festzustellen, dazu bin ich gekommen.«

Die Tänzerin klatschte in die Hände.

»Aber das trifft sich ganz gut! Vater würde mir nie erlauben, in dieser Sache noch einmal selbständig vorzugehen. Wir wollen es also zusammen beraten . . .«

»Danke. Das würde dann nur auf eine Erpressung hinauslaufen!«

»Was fällt dir ein! Du verkennst meinen Vater. Wir wollen uns doch friedlich einigen?«

»Ja. Aber ich will nur mit dir allein verhandeln, und zwar sogleich,« erklärte er entschlossen.

»Das tut mir leid, denn darauf gehe ich nicht ein. Wenn du darauf bestehst, bist du umsonst gekommen,« gab sie ebenso entschlossen zurück.

»Das ist dein letztes Wort, Anny?«

»Unbedingt. Ich habe Vater versprochen, dich zu ihm zu bringen!«

»Wohnt er nicht hier bei dir?«

»Nein, in der Praterstraße. Auch die Brüder. Wir reisen nämlich getrennt. Es ist aus Geschäftsrücksichten vorteilhafter. Sie sind übrigens schon seit acht Tagen hier, während ich noch ein Gastspiel in München zu absolvieren hatte. Und nun entscheide dich. Willst du mit mir zu ihnen fahren?«

Das »Ja«, das Torwesten antwortete, klang gepreßt und zornig. Offenbar sah er ein, daß ihm nichts anderes übrig blieb.

»Schön. Dann will ich mich nun ankleiden lassen. Bleibe einstweilen hier. Dort liegen Zeitungen und Zigaretten. Tu, als wärest du bei dir zu Hause.«

»Das war alles,« schloß Herr Salo Goldstein, »aber immerhin interessant genug, nicht wahr? Schade, daß ich nicht weiß, wer der Gimpel ist, der dieser Person seinerzeit ins Netz ging und nun sicher tüchtig blechen muß, um wieder gänzlich loszukommen. Oder kennen Sie vielleicht seinen Namen? Fragten Sie in seinem Interesse?«

»Ja, er heißt Brand und ist Reisender, wie Sie,« antwortete Hempel, der es nicht für nötig fand, Herrn Salo tiefer einzuweihen, zerstreut.

Dann versank er in Nachdenken.

Also mit Heidy Siebert meinte es Torwesten doch ehrlich! Das beruhigte den Detektiv sehr. Er hätte diese schönen, blauen Mädchenaugen nicht weinen sehen mögen.

Aber was war dann mit Torwesten weiter geschehen? Warum kam er abends nicht zu Sieberts?

Herr Salo Goldstein schwatzte inzwischen weiter, vom hundertsten ins tausendste springend.

»Ja, ja, diese Tingel-Tangelleute! Es ist immer eine gefährliche Geschichte, sich da einzulassen! Artistenvolk! Eine ganz eigene Welt. Alles Talmi. Man kennt das! Hätte Brand meine Erfahrungen gehabt, er wäre wohl klüger gewesen. Selbst die Direktoren schmieren sich mit ihnen an. Ich bitte Sie – z. B. jetzt die Geschichte mit den ›Brothers Copley‹! Sie haben doch gehört davon?«

»Nein,« sagte Hempel zerstreut. »Was ist denn geschehen?«

»Wahnsinnig ist einer davon plötzlich geworden! Vorgestern abend, gleich nachdem sie ihre Nummer absolviert hatten. Eine feine Nummer, sage ich Ihnen! Tollkühn! Halsbrecherisch. Noch nie dagewesen. Der Direktor vom Apollo war ganz glücklich, daß er sie hatte. Da passiert ihm so etwas! Kaum sind die drei Brüder vorgestern fertig, da fängt der eine zu schreien und zu toben an und rennt davon. Die andern ihm nach natürlich. Die ganze Nacht und noch den halben Tag sollen sie hinter ihm hergewesen sein, bis sie ihn endlich in einem Weinberg bei Grinzing aufstöberten. Vom Auftreten keine Spur mehr. Und die zwei andern allein können jetzt natürlich nichts machen. Man wollte ihn in eine Anstalt schaffen, aber das ließen die Brüder nicht zu. Sie wollen ihn selber betreuen und irgendwohin aufs Land bringen, wo sie hoffen, daß er sich in der Stille wieder erholt. Ich erfuhr dies gestern zufällig im Caféhaus, wo man davon sprach. Man vertuscht es, um den Copleys für später nicht zu schaden. Dem Direktor vom Apollo mußten sie übrigens jetzt Schadenersatz leisten, sonst hätte er ihnen nicht geholfen, die Sache zu vertuschen. Mein Gewährsmann wollte sogar von 10 000 Kronen wissen, die . . .«

Hempel, der nur halb zugehört hatte, unterbrach jetzt Herrn Salos Redeschwall, indem er sich erhob.

»Sie verzeihen, aber ich muß gehen, Herr Goldstein. Ich danke Ihnen für Ihre Mitteilung.«

Aus all dem, was er gehört hatte, schien dem Detektiv nur eines von Bedeutung: daß la belle Adisane mit Torwesten nach der Praterstraße gefahren war. Dort mußte man weiter suchen. Das hellgrüne Automobil war hoffentlich nicht unbemerkt geblieben.

Es gelang ihm in der Tat, Leute zu finden, die es gesehen hatten. Einige erinnerten sich, daß es eine Zeitlang vor einem Hotel garni stand und dann mit zwei jungen Leuten in der Richtung des Pratersterns fortgefahren war.

Das Hotel war stark besetzt, meist von Kaufleuten und Reisenden aus der Provinz, die viel aus- und eingingen, so daß der Hausknecht nicht auf die Kommenden oder Gehenden achtete.

Er glaubte sich zwar zu erinnern, daß in dem grünen Auto eine schöne, junge Dame gekommen war, behauptete aber, es hätten sich drei Herren in ihrer Begleitung gefunden.

Ob einer davon der Photographie geglichen habe, die Silas Hempel ihm zeigte, wußte er nicht. So genau habe er sich die Leute nicht angesehen.

Uebrigens seien zwei der Herren schon öfters ins Hotel gekommen, um einen älteren Herrn im dritten Stockwerk aufzusuchen, mit dem sie wahrscheinlich Geschäfte hatten.

Der Herr war als Prokurist Warrik aus Manchester gemeldet, reiste aber gestern bereits wieder ab. Er hatte mehrere Koffer bei sich und ließ sich gegen acht Uhr abends ein Auto holen, um nach dem Westbahnhof zu fahren. In seiner Begleitung befand sich ein Herr, der krank schien, denn Warrik brachte ihn nur mühsam die Treppe herab und mit Hilfe des Chauffeurs in das Automobil.

Da er den Hausknecht weder zur Unterstützung rief noch ihm ein Trinkgeld gab, hatte sich dieser auch nicht weiter um ihn bekümmert.

Viel mehr war auch aus dem Stubenmädchen nicht herauszubringen. Sie wußte nichts von einem Besuch, den Herr Warrik etwa im Laufe des Tages bekommen hätte, und hatte auch das grüne Auto nicht gesehen.

Als es dunkel war, klingelte der englische Kaufmann nach ihr und befahl, ihm ein Gefährt zu holen, da es nun Zeit sei, nach der Bahn zu fahren. Von dieser seiner Abreise war schon am Morgen die Rede, als er die Rechnung verlangte und bezahlte. Die drei Handkoffer schaffte er selbst mit Hilfe des Stubenmädchens hinab. Dabei sah sie auch zum erstenmal, daß sich noch ein Herr bei Warrik im Zimmer befand. Er lag auf dem Sofa und schlief. Warrik flüsterte ihr zu, es sei sein Sohn, der leider erst kürzlich aus einer Irrenanstalt entlassen worden sei und den zu holen er eigentlich nach Wien gekommen sei. Er schlafe meist, und das sei gut, sagten die Aerzte, weil er in wachem Zustande doch nur aufgeregt sei, sogar gefährlich würde.

Als die Koffer unten waren, habe Warrik den Kranken mit Gewalt so weit geweckt, daß er ihn die Treppe hinab habe schaffen können. Er war dabei sehr liebevoll um ihn besorgt und trug ihn halb. Sie – das Stubenmädchen – habe ein Grauen vor dem Irren gehabt und sich nicht in die Nähe getraut. Sie sei froh gewesen, daß der Alte mit seinem unheimlichen Sohn das Haus verlassen habe.

Als ihr Hempel Torwestens Photographie vorwies, sagte sie, daß Warriks Sohn wohl eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Bilde habe, aber daß er es wirklich sei, wage sie nicht zu behaupten.

Damit mußte sich der Detektiv vorläufig begnügen. Er zweifelte kaum, daß der angebliche Sohn Warriks Georg Torwesten war. Auch daß drei Herren mit der belle Adisane im Auto gekommen seien, hielt er für möglich.

Sie konnte ja zuerst ihre Brüder irgendwo getroffen und mit zu dem Alten genommen haben. Warrik war natürlich ihr Vater. Die Brüder hatten dann das grüne Auto an sich genommen, Adisane war wahrscheinlich zu Fuß still und unbemerkt aus dem Hotel garni verschwunden und der Alte, der Torwesten vielleicht durch ein starkes Schlafmittel betäubte, hatte sich später mit diesem davon gemacht, als es dunkel wurde.

Aber wozu? Torwesten war ja seinen eigenen Worten nach zu einem weiteren Geldopfer bereit gewesen!

Bot er zu wenig? Wollte man ihn irgendwo mit Gewalt festhalten, um noch mehr zu erpressen?

Ja, nur dies konnte beabsichtigt sein. Sein Tod konnte diesen Leuten gar nichts nützen.

Und da sie, wohl um die beständige Bewachung und Torwestens Versuche, sich frei zu machen, zu bemänteln, ihn für irrsinnig ausgaben, konnte es nicht schwer fallen, ihre Spur zu finden.

Man reist weder im Inland noch im Ausland unbemerkt mit solch einem Kranken. Schade, daß niemand im Hotel garni die Nummer des Autos wußte, in dem sich Warrik entfernt hatte!

Auch Dr. Wasmut, dem Hempel noch spät abends Bericht erstattete über das, was er im Laufe des Tages ermittelt hatte, war der Ansicht, daß es nicht schwer sein könne, Torwesten sehr bald aus den Händen der Erpresser zu befreien.

 


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