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Dr. Herrlinger ging ungeduldig seit einer halben Stunde im Wartezimmer des Untersuchungsrichters auf und ab.
Es schien, als ob Dr. Wasmut heute durch ganz besonders wichtige Dinge in Anspruch genommen werde. Immerfort kamen und gingen Leute, das Telephon war ständig in Tätigkeit, und eben weilte Sicherheitsinspektor Molnar schon eine Viertelstunde bei ihm.
Herrlinger sah auf die Uhr. Es war sechs Uhr vorüber. Zu Bureauschluß konnte er also nicht mehr in seiner Kanzlei sein.
Dann überdachte er noch einmal, was ihn hierhergeführt. Gegen Mittag hatte ihn Heidy Siebert aufgesucht, ganz bestürzt über den Bescheid, den sie in Hempels Wohnung bekommen hatte, daß der Detektiv schon seit fast einer Woche verreist sei. Darauf gab es eine lange Beratung, die nur einmal unterbrochen worden war durch eine Depesche, die Herrlinger erhielt.
Sie war von Silas Hempel aus London und lautete:
»Erhofftes gefunden. Reise über Marseille zurück, um dort Expeditionsliste selbst einzusehen. Vorläufig Schweigen gegen jedermann.
S. H.«
Er hatte nicht für nötig gefunden, Heidy den Inhalt mitzuteilen und war auch entschlossen, jetzt dem Untersuchungsrichter gegenüber davon nichts verlauten zu lassen. Ueberhaupt war es wohl besser, gegen ihn so zurückhaltend wie möglich zu sein, ehe man seine Absichten nicht genau kannte . . .
»Der Herr Untersuchungsrichter lassen bitten,« sagte Titz plötzlich mitten in Herrlingers Gedanken hinein.
Dr. Wasmut empfing den jungen Anwalt mit ausgesuchter Liebenswürdigkeit. Er schien überhaupt in der besten Stimmung. Wäre aber Herrlinger nicht so ganz von seinem Gegenstand erfüllt gewesen, würde er in dem freundlichen Lächeln des Untersuchungsrichters gewiß auch eine leise Spur von Ironie bemerkt haben.
»Sie haben mir, wie ich vermute, etwas Neues zu melden?« begann Wasmut ohne Umschweife, nachdem er seinem Besucher Platz zu nehmen angeboten hatte.
»Ja,« antwortete Herrlinger. »Ich komme meinem Versprechen gemäß, Ihnen mitzuteilen, daß Georg Torwesten aufgefunden ist.«
»Wirklich? Das ist ja sehr interessant!«
Der Ton, in dem diese Worte gesprochen wurden, verriet so wenig Ueberraschung, daß Dr. Herrlinger verblüfft aufsah.
»Sie vermuteten dies wohl schon?«
»Allerdings, nachdem wir ja das Nest in Erdberg heute nacht ausnahmen, ohne ihn zu finden. Es ist ihm vermutlich geglückt, während des Rummels zu entkommen?«
»So ähnlich wenigstens. Aber darf ich vor allem fragen, wie Ihre Kampagne draußen endete? Haben Sie die Lyttons erwischt?«
»Ja, leider nicht ohne Verluste. Ein Geheimagent wurde getötet und zwei Polizisten durch Revolverschüsse verletzt. Auch der jüngste Lytton hat einen Schuß durch die Lunge bekommen, der ihm wohl ans Leben gehen wird. Ich mußte ihn gleich ins Spital schaffen lassen, wo er vorläufig für nicht vernehmungsfähig erklärt wurde. Die beiden andern sitzen hinter Schloß und Riegel.«
»Gott sei Dank! Und Frau Torwesten? Sie war doch auch dabei!«
»Sie irren! Frau Torwesten hat mit den Ereignissen an der Gärtnerei Bremer – Bremer ist natürlich nur der Deckname der Lyttons – nichts zu tun. Sie haben sogar, Gott weiß woher, Papiere darüber, daß sie so heißen. Also, wie gesagt, Frau Torwesten hat gar nichts damit zu schaffen.«
»Oho! Das wissen wir besser. Sie war es ja, die den Stein ins Rollen brachte, indem sie –«
Herrlinger schwieg plötzlich. In seinem Eifer hätte er sich beinahe verplaudert. Da Torwestens Aufenthalt dem Untersuchungsrichter noch einige Tage verborgen bleiben mußte, durfte er selbstverständlich Heidy Sieberts nächtliche Abenteuer noch nicht erfahren.
Wasmut betrachtete ihn mit überlegenem Lächeln.
»Können Sie Ihre Behauptung beweisen, Herr Doktor?«
»Gewiß! Wenn auch nicht augenblicklich.«
»Wissen Sie, daß Beweise, die nicht sofort erbracht werden können, später sehr leicht den Schein der Unwahrscheinlichkeit annehmen?«
»Möglich. Aber wir haben Gründe . . .«
»Gut. Lassen wir also Ihre Beweise beiseite. Die meinen brauchen sich nicht zu verstecken. Ich habe sie heute morgen frisch an der Quelle geschöpft: nämlich in Solitudo selbst. Frau Torwesten legte sich gestern abend infolge eines kleinen Schreckens, den sie mit Fräulein Siebert hatte, in heftiger Migräne zu Bett. Sie hat es, wie nahezu erwiesen ist, bis jetzt nicht wieder verlassen.«
»Erwiesen, und von wem?«
»Von den Laglers, die nachts geweckt wurden, um starken, schwarzen Kaffee für sie zu kochen, da die beiden Dienstmädchen Urlaub hatten. Von diesen Mädchen selbst, die sich, ehe sie fortgingen, von ihrer Herrin verabschiedeten und den Auftrag bekamen, in Wien ein Rezept machen zu lassen, und die kurz nach ein Uhr zurückkehrend, sie genau in derselben Verfassung trafen wie beim Fortgehen. Das Stubenmädchen löste dann die Kammerjungfer in der Pflege ab und blieb bis morgens bei ihrer Herrin«
Jetzt lächelte der Rechtsanwalt.
»Schön. Da Sie sich aber so genau über diese Dinge informierten – muß für Sie doch ein Grund vorgelegen haben, Frau Torwestens Angelegenheit in der Gärtnerei zu vermuten?«
»Ja wohl. Ich habe einen Agenten, namens Kobler, beauftragt, Frau Torwesten in Solitudo zu beobachten. Dieser Kobler war es, der gestern abend gegen elf Uhr plötzlich in einem Automobil, dessen Nummer leider niemand beachtete, vor einer Erdberger Polizeiwachstube erschien und sich Mannschaft ausbat, um die vielgesuchten Lyttons festzunehmen. Er ließ das Haus umstellen und leitete die ganze Aktion. Die Lyttons hatten sich in eine Hinterstube zurückgezogen und empfingen die Polizei mit Schüssen. Kobler ließ die Vordertür erbrechen und drang als erster ein. Leider tötete ihn dabei ein Schuß des alten Lytton, der im dunkeln Flur verborgen stand. Sein Zeugnis fehlt somit. Wir wissen über die Vorgeschichte der Aktion gar nichts. Nicht, wie Kobler an die Gärtnerei kam, nicht, wie er die Lyttons dort entdeckte. Da sein Standort in der Nähe der Villa Solitudo war, lag der Gedanke natürlich nahe, er könne Frau Torwesten gefolgt sein. Darum ließ ich mir heute morgens sofort Auskunft über sie geben. Doch war der Erfolg, wie Sie hörten, ein negativer.«
»Aber doch gewiß nur scheinbar! Sie muß es doch gewesen sein! Nur ihretwegen konnte Kobler sich erlauben, seinen Posten zu verlassen.«
»Doch nicht. Er kann sich leicht getäuscht haben. Es wäre möglich, daß die Lyttons irgend eine Person nach Solitudo schickten, entweder nur um Frau Torwesten zu beobachten oder um ihr eine Botschaft zu senden. Diese Person hielt sich gewiß verborgen und entfernte sich sehr heimlich. Kobler kann sie dabei gesehen haben und ihr dann gefolgt sein – vielleicht sogar in der Meinung, es sei Frau Torwesten selbst.«
»Das müßte sich doch durch den Chauffeur feststellen lassen, der sie an die Gärtnerei gebracht hat. Kobler kann nur dieses Auto benützt haben, um die Polizeimannschaft zu holen. Was ist aus dem Fahrzeug geworden?«
»Es war später verschwunden. Ich nehme an. daß Torwesten es zur Flucht benützte.«
»Nein. Frau Torwesten entfernte sich mit demselben Auto. Lassen sie den Chauffeur vorladen und konfrontieren Sie ihn mit ihr. Er muß sie ja wiedererkennen. Das Auto stammt aus Baden und trägt die Nummer 102.«
»Gut. Ich werde mir den Mann kommen lassen, bin aber überzeugt, daß Sie sich irren. Gegen Frau Torwesten konnte ich bisher trotz allen Mißtrauens – das sich übrigens nur auf ihre Verwandtschaft mit den Lyttons gründet – nicht das mindeste Verdächtige konstatieren. Sie hat keine Ahnung von dem Schuldkonto der Ihren.«
»Das glauben Sie wirklich, Herr Untersuchungsrichter?«
»Jawohl. Sie hält sogar ihren Mann für unschuldig.«
»Wie rührend!«
Dr. Wasmut machte eine ärgerliche Bewegung. Dann sagte er:
»Es ist ja schließlich gleichgültig, wie wir über Frau Torwesten denken. Die Hauptsache ist, daß ich die Lyttons habe und . . . aber wo ist denn Ihr Freund Torwesten? Warum brachten Sie ihn unserer Verabredung gemäß nicht mit?«
»Pardon, Herr Untersuchungsrichter, diese Verabredung bezog sich nur auf Torwestens Auslieferung überhaupt, nicht auf einen bestimmten Termin. Der Zweck meines heutigen Kommens war, Ihnen mitzuteilen, daß Torwesten sich augenblicklich nicht in der Verfassung befindet, Verhören gewachsen zu sein.«
»Wieso?«
»Man hat durch Verabreichung starker betäubender Mittel die Klarheit seines Geistes zu trüben versucht und damit einen so schlimmen Angriff auf sein Nervensystem begangen, daß er gegenwärtig außerstande ist, sich gegen den auf ihm ruhenden Verdacht mit der nötigen Energie zu verteidigen.«
»Es genügt, wenn er meine Fragen beantwortet und sich über die Nacht von 29. Mai ausweisen kann,« sagte Wasmuth gemütlich.
»Um ersteres zu können, muß er eben die Folgen des Morphiums, das ihn in völlig apathischen Zustand brachte, erst überwunden haben. Und letzteres hat seine Schwierigkeiten, weil der einzige Zeuge für die fragliche Zeit sich gegenwärtig auf einer Afrikareise befindet und nicht zur Aussage herangezogen werden kann.«
Dr. Wasmut lächelte immer ironischer.
»Aha – der berühmte Unbekannte –?«
»Nein. Es ist der Gutsbesitzer Max Schönfeld, in dessen Gesellschaft Torwesten jene Nacht verbrachte. Unglücklicherweise stand der Mann im Begriff, sich einer Forschungsreise anzuschließen, und ist am nächsten Morgen abgereist. Nicht er also, sondern bloß sein gegenwärtiger Aufenthalt ist unbekannt.«
»Sie haben diese Informationen von Torwesten selbst?«
»Zum Teil . . . ja.«
»Das dachte ich mir!«
Das mitleidige Lächeln des Untersuchungsrichters begann Herrlinger nervös zu machen.
»Es liegt nicht der mindeste Grund vor, meine Worte scherzhaft zu nehmen,« sagte er gereizt. »Wir wollen Ihnen Torwesten ja auch nicht vorenthalten und verlangen bloß einige Zeit, bis er sich erholt hat.«
»Die ich Ihnen aber leider nicht gewähren kann,« erwiderte Dr. Wasmut plötzlich ernst werdend. »Es wäre der größte Fehler, den ich begehen könnte, Ihrem Klienten Zeit zu lassen, sich ein Verteidigungssystem zurecht zu legen. Ich habe in dieser Sache so viel Beweismaterial sammeln können, daß die Voruntersuchung sehr bald abgeschlossen sein kann. Es bedarf nur noch weniger Verhöre, und ich kann die Akten der Staatsanwaltschaft vorlegen. Ist Torwesten unschuldig, so genügt eine einzige Vernehmung. In diesem Fall läge mir daran, die Sache noch vor Beginn der Gerichtsferien vor die Geschworenen zur Entscheidung zu bringen. Sie begreifen also, daß ich Eile habe . . .«
»Und ich bedauere, darauf keine Rücksicht nehmen zu können,« unterbrach ihn Dr. Herrlinger, nach seinem Hut greifend. »Ich werde Ihnen Torwestens Aufenthalt nicht eher verraten, als ich es in seinem Interesse für gut halte.«
Er wollte sich entfernen. Da sagte Wasmut wieder mit dem früheren ironischen Lächeln:
»Einen Augenblick noch, Herr Doktor. Ich habe dies vorausgesehen und kann Ihnen etwas mitteilen, was Ihren Standpunkt sofort verändern wird.«
»Schwerlich! Was könnte dies sein?«
»Daß ich bereits seit heute morgen weiß, wohin sich Torwesten bei seiner Flucht aus der Gärtnerei gewendet hat!«
Herrlinger erbleichte.
»Das . . . wissen Sie . . .? Unmöglich!«
»Gar nicht! Es stand ja zu erwarten, daß Torwesten früher oder später aus seinem Schlupfwinkel Nachricht an Fräulein Siebert gelangen lassen oder sie gar selbst aufsuchen würde. In dieser Voraussetzung lasse ich die Siebertsche Wohnung schon seit geraumer Zeit unauffällig überwachen. Wie gut dies war, zeigte sich heute nacht. Fräulein Siebert, die offenbar auf irgend einem mir noch unbekannten Weg Nachricht von Torwestens Aufenthaltsort bekam, hat ihm vermutlich selbst zur Flucht verholfen. Und da ich so ziemlich voraussah, was nun folgen werde, habe ich mich Torwestens versichert. Man hat ihn verhaftet, während Fräulein Siebert bei Ihnen war, um Ihren Rat einzuholen. Und vorhin, als Sie hier nebenan warteten, hat man mir seine Einlieferung ins Untersuchungsgefängnis gemeldet.«
Dr. Herrlinger stand eine Weile völlig stumm da. Es war ihm unmöglich, die Folgen dieser Tatsache mit einem einzigen Blick zu überschauen. Nur daß sie für Torwesten bei seinem jetzigen Zustand sehr ernst sein mußte, begriff er.
»Wollen Sie nun etwa auch Fräulein Siebert verhaften lassen?« fragte er endlich dumpf.
»Nein. Sie hat nur im Glauben an Torwestens Unschuld gehandelt. Eine Mitschuldige ist sie keinesfalls. Als Zeugin freilich werde ich sie später vielleicht nicht entbehren können.«
»Und Torwesten halten Sie wirklich für schuldig?«
»Das wird von seinem Verhalten abhängen. Die Lyttons, welche ich bereits vernahm, behaupten, sie hätten ihn nur verborgen, aber nicht gefangen gehalten.«
»Was sagen Sie über den Mord an Chambers?«
»Daß Torwesten ihn nach einer Eifersuchtsszene begangen habe. Der Alte erfuhr erst nachher davon, der Junge war Zeuge, konnte ihn aber nicht mehr verhindern.«
»Das ist eine erbärmliche Lüge!«
»Darüber werden die Geschworenen zu urteilen haben,« erklärte der Untersuchungsrichter kühl. Herrlinger richtete sich entschlossen auf.
»Ja. Aber dann wird auch die Verteidigung zur Stelle sein und hoffentlich nicht . . . ungerüstet!«
Dr. Herrlinger verbeugte sich und verliest das Zimmer.