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Hempel war noch bei Sieberts, als der Briefträger läutete und für Heidy einen Brief abgab.
Die Schrift war ihr unbekannt, der Stempel wies als Aufgabeort Baden auf.
Neugierig öffnete sie ihn.
»O – von der Zeitungsfrau aus dem Bahnhofskiosk!« rief sie dann überrascht.
»Was schreibt sie denn?« fragte Frau Siebert neugierig.
»Daß sie zufällig von einem Bekannten, der ein Straßenwirtshaus an der Reichsstraße habe, erfuhr, das Automobil Nr. 417 sei damals gar nicht mehr weiter gefahren. Es habe knapp hinter dem Wirtshaus umgelenkt und sei im schnellsten Tempo zurückgefahren – in der Richtung nach Wien. Sie hoffe also, ›mein Bruder‹ sei nun wieder längst glücklich daheim angelangt. Was sagen Sie dazu?« wandte sie sich an Hempel.
Dieser zuckte die Achseln.
»Alles ist möglich. Vielleicht sind sie nur nach Baden gefahren, um den Brief an Dr. Herrlinger aufzugeben. Einer der Copleys ist dann ja sicher gleich nach Linz geeilt um das Geld am nächsten Tage in Empfang zu nehmen. Das konnte er mit nichts rascher erreichen als mit dem Auto.«
»Aber wo blieben die andern? Fuhren sie mit oder hatten sie bereits einen Schlupfwinkel in Bereitschaft, wohin sie sich mit ihrem Gefangenen begaben?«
»Wahrscheinlich letzteres. Wir sind nun so klug wie zuvor. Diese Nachricht verwirrt uns vollständig, denn wir wissen nun erst recht keine Richtung, in der wir suchen sollen!«
Heidy senkte mutlos den Kopf.
»Wieder nichts! Was sollen wir nun tun? Nach Baden fahren, um diesen Wirt persönlich zu fragen?«
»Das hätte keinen Zweck. Was er weiß, haben wir ja bereits erfahren.«
»Aber das Auto muß doch irgendwo geblieben sein? Warum kommt kein Zeichen vom Chauffeur?«
»Weil er wahrscheinlich nicht kann. Ich fürchte, man wird ihn ebenso stumm gemacht haben wie Wastler.«
»Das wäre schrecklich!«
»Ja, aber es blieb diesen Leuten doch kaum etwas anderes übrig, wenn sie nicht durch ihn verraten werden wollten.«
Diese Meinung Hempels fand schon zwei Tage später ihre Bestätigung durch eine Zeitungsnotiz folgenden Inhaltes:
»Gestern morgen wurde von Schiffern am Praterspitz die halbverweste Leiche eines jungen Mannes aufgefischt, den niemand kannte und der keinerlei Papiere bei sich trug, die über seine Persönlichkeit Aufschluß geben könnten. Ein zufällig vorüberfahrender Chauffeur erkannte in dem Toten seinen Kollegen Paul Maresch. Maresch ist der seit dem 30. Mai mit dem Autotaxi 417 verschwundene Chauffeur der Oest. F.-A.-Gesellschaft. Bekanntlich wurde das von ihm gelenkte Autotaxi von G. Torwesten auf seiner Flucht benutzt, und es kann kaum einem Zweifel unterliegen, daß Maresch wie sein Kollege Wastler und der Artist Chambers ebenfalls ein Opfer Torwestens wurden. Von dem Autotaxi selbst fehlt leider auch jetzt noch jede Spur. Torwesten, der ein guter Fahrer ist, wird die Führung des Wagens wohl selbst übernommen haben. Man nimmt an, daß Maresch in der Nähe von Linz in die Donau geworfen wurde.«
Dieser Nachricht folgte schon am nächsten Tage eine zweite, fast ebenso wichtige Notiz.
Flößer, die von Linz abwärts fuhren, waren an einer Uferstelle, wo sie anlegten, um zu übernachten, mit den Rudern auf ein Hindernis im Wasser gestoßen, das sich dann als ein im Wasser versunkenes Automobil entpuppte.
Sie hatten im nächsten Ort Anzeige erstattet, denn sie dachten an ein Unglück. Auch die Ortspolizei nahm dies zuerst an, überzeugte sich dann aber bald, daß die Straße an dieser Stelle so weit entfernt vom Ufer war, daß kaum ein Unglück möglich war. Als man das versenkte Fahrzeug dann mit vieler Mühe aus dem Wasser brachte, stellte sich heraus, daß es das verschwundene Autotaxi der Oesterr. F.-A.-Gesellschaft sei und die Nummer 417 mit schwarzer Farbe überstrichen worden war.
Wohin aber waren die Insassen gekommen? Der Untersuchungsrichter sandte sofort ein Dutzend gewiegter Detektivs an die Fundstelle, die von dort aus die Spur der Verschwundenen ausfindig machen sollten.
Sie konnten nur entweder von Linz aus weitergefahren sein oder sich dort in der Umgebung verborgen halten.
Die Linzer Behörden arbeiteten nach Kräften mit. Kein Hotel, kein Privathaus, kein Bauernhof blieb unbeachtet. Stationsleiter und Kondukteure wurden vernommen, die Dampfschiffskapitäne befragt, Streifen durch alle Seitentäler gemacht – doch alles vergebens.
Von den vier Personen, die man suchte, war keine Spur zu entdecken.
Dr. Wasmut konnte es nicht begreifen,
Vier Personen konnten doch nicht spurlos verschwinden! Besonders dann, wenn eine davon für geisteskrank ausgegeben wurde!
Oder sollten sie dies Märchen aufgegeben haben, sobald sie Wien hinter sich hatten? Schließlich war es ja nicht mehr notwendig gewesen, da Chambers Ermordung zu jener Zeit doch nicht bekannt war und kein Mensch eine Ahnung haben konnte, daß der Mörder geflohen war, indem er sich für sein Opfer ausgab.
Geld hatten sie ja genug. Dr. Herrlinger gab seinerzeit an, daß er etwa acht Tage vor Torwestens Verschwinden seinem Klienten Zinsen in der Höhe von 15 000 Kronen gesandt habe. Diese hatte Torwesten sicher mitgenommen. Sie waren nicht, wie man zuerst glaubte annehmen zu müssen, aus der Kasse gestohlen worden.
Dazu kamen die 20 000 nach Linz angewiesenen Kronen. Geld genug, um beliebig weit zu fliehen . . .
Inzwischen war das mit großartiger Reklame ins Werk gesetzte erste Auftreten der Belle Adisane zum Ereignis geworden. Ganz wie der Direktor des Kaisergartens gehofft hatte, waren die Leute in Scharen gekommen, die Kassen fast gestürmt worden. Ein wunderbar warmer Sommerabend unterstützte noch den Erfolg. In der Stadt herrschte drückende Schwüle, alles sehnte sich nach Erfrischung, drängte ins Freie.
Auch Dr. Wasmut war mit seinem Freund in den Prater gefahren, um sich in der frischen Kühle eines Gartens von den Mühen des Tages zu erholen.
Als echter Wiener liebte er diese sommerlichen Praterabende im Gewimmel frohbewegter Menschen, wo in einem Meer von Licht Walzerklänge die Luft durchwehen.
Plaudernd schlenderten die Menschen durch den Wurstelprater, sich heimlich ergötzend über die marktschreierischen Ausrufer der Kinotheater, Ringelspiele, Grottenbahnen und Wunderbuden.
Wie die Lichter funkelten in allen Farben, wie einträchtig die Geigen des Damenquartetts und verschiedener Musikkapellen mit den Riesen-Orchestrions der Karussells, den Orgeln der Grottenbahnen und den Schüssen an den Schießbuden zusammenklangen!
Hier ein Zauberpalast, da ein Irrgarten, Illusionstheater, Hundezirkus, Luftschifferkarussell, amerikanische Schaukeln . . .
»Das ist Leben! Echtes Wiener Leben!« sagte Dr. Wasmut lächelnd. »Wie mich das immer anheimelt, so oft ich es auch schon gesehen habe!«
»Bah – Unsinn ist es, nichts weiter,« meinte sein Freund Karsten wegwerfend. »Unterhaltungen für den Mob, aber doch nicht für unsereinen! Wenn man einmal alles durchstreift, hat man gerade genug davon.«
»Du siehst es mit zu nüchternen Augen an, darum kritisierst du es! Auf mich wirkt es wie ein Stück Volkspoesie. Aber wie ist's – trinken wir unser Bier beim ›Walfisch‹ oder im ›Eisvogel‹?«
»Wenn du nichts dagegen hast, möchte ich den Kaisergarten vorschlagen. Dort tritt heute die ›Belle Adisane‹ auf – das ist doch jetzt eine Sensation! Ich habe noch nie eine Traumtänzerin gesehen und kann mir eigentlich nichts Rechtes darunter vorstellen.«
»Ich auch nicht. Aber ich bin ganz einverstanden. Diese Adisane hat auch für mich noch ein spezielles Interesse.«
»Aha – von Amtswegen! Ich verstehe!«
Sie wanderten dem Eingang zum Englischen Garten zu und lösten sich Karten.
Hier war es stiller, vornehmer. Da war der raffinierte Luxus, der die oberen Zehntausend anlockt.
Beide Herren trafen alle Augenblicke Bekannte und befanden sich bald in einer Gesellschaft, die sie nicht mehr los ließ.
La belle Adisane war erst um elf Uhr zu erwarten. Man speiste inzwischen in der Czarda und begab sich dann ins Olympion, wo Karsten bereits für gute Plätze gesorgt hatte.
Die Damen waren sehr gespannt. Die Herren witzelten.
»Viel Lärm um nichts,« sagte einer, der bereits viel herum gekommen war und gerne damit prahlte.
Aber dann verstummte alles ganz plötzlich. Der Vorhang ging auseinander und man blickte in das Innere eines von magisch bläulichem Licht durchströmten Tempels.
Zart und fern wie Aeolsharfen erklang die Musik.
Da erhob sich im Hintergrunde eine schlanke, weißgekleidete Gestalt von wunderbar ebenmäßigen Formen. Ihre Augen waren halbgeschlossen. Ein traumhafter Ausdruck lag auf den feinen Zügen.
Tanzte sie? Schwebte sie? War es nur plastisch gewordener Ausdruck der Seele, der sich hier in mystischen Bewegungen offenbarte?
Niemand wußte es. Aber wie hypnotisiert blickte alles auf das goldfunkelnde, juwelenblitzende Weib, das langsam aus seiner statuenhaften Ruhe zum Leben zu erwachen schien, alle Aeußerungen und Eindrücke der Seele, Freude, Schmerz, Leidenschaft, Liebe ausdrückend. Geheimnisvolle Gebärden, ein Gleiten, Schmiegen, Drehen – alles so unendlich vornehm und anmutig, daß die Zuschauer fast den Atem anhielten vor Begeisterung.
Dann ein jäher, blendender Lichtblitz, ein seltsames Zucken in den Händen und Füßen der Tänzerin, ein Aufflammen von Räucherwerk in den großen, goldenen Urnen des Tempels, und der Zauber versank.
Die weißgekleidete Gestalt ruht wieder regungslos im Hintergrund. Der Vorhang schloß sich. Die Musik verstummte.
Im zweiten Bild dieselbe dezent gekleidete, weiße Gestalt im rosigen Licht eines Zaubergartens, über dessen Rosengewinden Palmen ihre Kronen ausbreiteten.
Diesmal tönt die Musik wie Vogelsang, leise und süß. Der Tanz aber stellte das Erwachen der Seele zu erster keuscher Liebe dar.
Beispielloser Beifall folgt diesem letzten Bild. La belle Adisane verbeugt sich zweimal schüchtern – fast linkisch, mit einem verlegenen, kindlichen Lächeln und verschwindet.
Kein Klatschen oder Rufen brachte sie noch einmal vor das Publikum.
»Einzig! Großartig! Himmlisch!« riefen die Damen entzückt und viele Herren stimmten ihnen bei.
Nein, diese belle Adisane konnte unmöglich die leichtsinnige Verführerin sein, die man bisher nach Dr. Herrlingers Bericht über ihre Ehe mit Torwesten in ihr vermuten mußte.
Das mußte damals in London mit der Trennung anders zugegangen sein. Gewiß war sie es gewesen, die Torwesten den Laufpaß gab, nachdem sie erkannte, daß er ihrer nicht würdig sei. Dieses Wesen und einen Artisten als Liebhaber – unmöglich!
Während Wasmuth dies dachte, folgte er mechanisch seinen Begleitern zum Ausgang, denn viele, die nur gekommen waren, die Traumtänzerin zu sehen, verließen vor Beginn der nächsten Nummer den Saal.
Plötzlich hörte Wasmuth hinter sich eine weibliche Stimme halblaut sagen:
»Ja – sie ist viel, viel gefährlicher, als ich ahnte! Fast wird mir bange . . .«
Er fuhr herum und starrte in ein schönes, rosiges Mädchengesicht, von schwarzem Haar umrahmt mit seelenvollen blauen Augen, die jetzt den Ausdruck schwerer Bekümmernis trugen.
Neben ihr stand ein alter Herr mit weißem Schnurrbart und ebenso schneeweißem Haar, der dem Untersuchungsrichter irgendwie bekannt vorkam, obwohl er sich nicht besinnen konnte, ihn je zuvor gesehen zu haben.
Was sollten die seltsamen Worte bedeuten? Sie konnten sich doch nur auf die Tänzerin beziehen. Aber dann mußte die junge Dame, die sie gesprochen hatte, in ihr etwas ganz anderes gesehen haben als nur die Künstlerin.
Bezog sich das »gefährlich sein« auf die Schönheit der Adisane? Handelte es sich um weibliche Eifersucht?
Wasmuth empfand plötzlich einen brennenden Drang, die beiden, die hinter ihm eingekeilt standen, nicht mehr aus den Augen zu verlieren, sondern womöglich zu erfahren, wer sie waren. Vielleicht wußten sie Dinge aus dem Privatleben der Tänzerin, die auch ihm wichtig werden konnten.
Er richtete es also so ein, daß er beim Verlassen des Gebäudes hinter ihnen gehen konnte. Aber da wandte sich eine der Damen seiner Gesellschaft mit einer Frage an ihn, und während er Antwort gab, entstand in ihrer nächsten Nähe ein Gedränge. Ein Taschendieb hatte versucht einer Dame die Börse zu stehlen und wurde von einem der Geheimagenten des Sicherheitsdienstes verhaftet.
Als Dr. Wasmut wieder freien Ausblick hatte, war das junge Mädchen mit dem alten Herrn verschwunden und er konnte sie trotz allen Suchens nicht mehr finden.
Beide mußten den Kaisergarten unmittelbar nach dem Auftreten der Traumtänzerin verlassen haben.