Annie Hruschka
Das Haus des Sonderlings
Annie Hruschka

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[15.]

Für den 3. Juli war die Verhandlung gegen Torwesten und die Lyttons angesetzt.

Der Untersuchungsrichter hätte sie eigentlich lieber noch hinausgeschoben, denn Torwestens immer klarer und bestimmter werdende Angaben machten ihn in seiner ursprünglichen Ueberzeugung doch etwas wankend. Aber der Staatsanwalt drängte zur Uebergabe der Akten.

»Worauf wollen Sie noch warten?« sagte er. »Was sich ermitteln ließ, haben Sie ermittelt. Die Aussagen der Lyttons und Torwestens beschränken sich auf das, was sie gleich anfangs sagten. Was Sie in Torwestens Verhalten ›klarer und bestimmter‹ nennen, ist nichts anderes, als daß er jetzt, wo er die Folgen des Morphiumgenusses mehr und mehr überwunden hat, sein ›System‹ ausbaut.«

»Und wenn wir uns doch täuschen?«

»Wieso? Wer soll denn Chambers ermordet haben?«

»Nach den Angaben Fräulein Sieberts – der ältere Lytton!«

Der Staatsanwalt, ein älterer Herr, strich mehrmals heftig seinen graumelierten Schnurrbart.

»Bleiben Sie mir um Gotteswillen nur mit verliebten Frauenzimmern vom Hals! Erinnern Sie sich an die Mara Schefkat, die Geliebte des Verbrechers Beermann, die sogar einen Meineid darauf schwor, daß sie selbst den Einbruch bei den Wirtsleuten Mairegger beging, den ihr Geliebter büßen sollte? Und doch wurde nachher festgestellt, daß sie von der Existenz dieser Leute bis zu Beginn des Prozesses gar keine Ahnung gehabt hatte!«

»Das ist wahr . . .«

»Also! Und selbst wenn man dieser Siebert glauben wollte, könnte man nur annehmen, daß sie den Worten einen bestimmten Zusammenhang beilegte. Abgesehen davon, »daß die Lyttons keinen Grund haben konnten, ihren eigenen Genossen zu töten, würden sie – selbst wenn sie den Mord begangen hätten – den Chambers wohl erst in die entlegene Villa geschleppt haben?«

»Nein. Das ist ja eben der Punkt, der mich immer wieder zu dem Glauben zurückführt, nur Torwesten könne der Mörder sein. Es ist ja absolut unwahrscheinlich – ja fast unmöglich, daß eine andere Erklärung für gerade diesen Tatort gefunden werden könnte!«

»Besonders, wenn man sich daneben vergegenwärtigt, daß Torwesten selbst eingesteht, Chambers an jenem Abend in Wien gesucht zu haben. Nein, nein, mein Lieber. Sie können das Material ruhig für abgeschlossen erklären und mir übermitteln.«

Diese Unterredung fand abends am Biertisch statt, wo sich Dr. Wasmut wöchentlich zweimal im Kreise einiger Amtskollegen einfand.

Trotzdem zögerte er noch und beschloß, vorher seinen Freund Hempel aufzusuchen, der sich seit seiner Rückkehr aus Budapest und der darauf folgenden Auseinandersetzung nicht mehr bei ihm hatte blicken lassen. Aber auch er mußte, wie Heidy Siebert, wieder unverrichteter Dinge abziehen. Der Detektiv war noch immer verreist. Wohin, wußte die Wirtschafterin nicht.

Da entschloß er sich endlich doch, die Akten der Staatsanwaltschaft zu übersenden. Wenige Tage später wurde der 3. Juli als Verhandlungstermin bekannt gegeben.

Und nun begann ein wahrer Sturm um Einlaßkarten bei allen Personen, die solche irgendwie vermitteln konnten.

Es waren so viele vornehme Herren und Damen der Gesellschaft da, welche dem Saaldiener Empfehlungskarten vorwiesen, daß der gute Mann, der ein schlauer Kopf war, einen guten Einfall hatte: er wies die Plätze je nach der Höhe der Trinkgelder an, die man ihm dabei in die Hand drückte.

So kam es, daß der ziemlich enge Saal mit seinen unbequemen Bänken auf einmal in Plätze erster, zweiter und dritter Güte eingeteilt war, wie ein Theatersaal.

Einige Herzen aber schlugen angstvoll und beklommen.

Dazu gehörte vor allem das einer älteren, einfach gekleideten Dame, die sich bescheiden in die allerletzte Bank setzen mußte, weil sie in ihrer Aufregung ganz vergessen hatte, Herrn Jakob Bernstingl, dem Saaldiener, ein Trinkgeld zu geben.

Vielleicht wäre sie trotz ihrer von Dr. Herrlinger ausgestellten Karte gar nicht eingelassen worden, wenn nicht ein halb bäurisch gekleideter Junge Herrn Bernstingl einfach beiseite gedrängt, und sie mit Gewalt hineingeschoben hätte.

Es war Karl Lagler.

»So, Frau Siebert, da setzen wir uns her,« sagte er dann, zwei Damen mit ungeheuren Hüten und kostbaren Straußfedern einfach fortdrängend. »Dr. Herrlinger hat mir aufgetragen, Ihnen einen Platz zu verschaffen, also ist es meine Pflicht. Und machen Sie nur kein so jammervolles Gesicht! Es wird nicht so schlimm werden. Ich sah den Herrn Doktor vorhin einen Augenblick und der strahlte ordentlich!«

»Wirklich?« fragte Frau Siebert ungläubig. »Vorgestern abend, als er bei uns war, schien er mir gar nicht sehr zuversichtlich. Er wollte gestern noch einmal kommen, aber wir warteten vergebens. Meine Tochter meint auch, dies sei ein schlechtes Zeichen . . . er kam vielleicht nicht, um uns nicht noch mehr zu entmutigen.«

»Das glaube ich nicht. Als ich ihn vorhin im Flur unten sah, stand er neben Dr. Wasmuth, der die Voruntersuchung geführt hat. Da hörte ich ihn sagen: ›Nur abwarten, Herr Doktor! Es kommt vielleicht ganz anders, als man denkt. Manche Leute – auch Sie – dürften Ueberraschungen erleben!␡ Mehr konnte ich nicht hören, aber ich meine, das ist genug. Wenn Dr. Herrlinger so spricht, hat er sicher einen Grund dazu . . .«

Da schwieg plötzlich alles und Karl mußte seine Rede unterbrechen.

Die Saaltüren waren geöffnet worden, und der Gerichtshof trat ein.

Voran der Vorsitzende mit den beiden ihn begleitenden Richtern und dem Staatsanwalt. Etwas weiter rückwärts Dr. Herrlinger und die beiden Verteidiger der Lyttons.

Dann kamen die Geschworenen, die geräuschvoll auf ihren Bänken Platz nahmen.

Während die Geschworenenauslosung stattfand, wurden die Angeklagten hereingeführt.

Die beiden Lyttons, Vater und Sohn – der jüngste lag hoffnungslos im Spital und konnte der Verhandlung nicht beiwohnen – blickten mit erzwungener Ruhe fast spöttisch auf die Reihen der Zuhörer.

Torwesten tat keinen Blick um sich. Sein Antlitz war sehr bleich und ernst, sein Blick stolz, aber seine Bewegungen voll vornehmer Sicherheit.

»Gott sei Dank, er sieht wieder fast so gesund aus wie früher!« flüsterte Frau Siebert erleichtert.

Im Publikum hatte sein Erscheinen eine gewisse Bewegung hervorgerufen. Da er wenig Verkehr gepflogen und zur Gesellschaft gar keine Beziehungen unterhalten hatte, kannte ihn fast niemand persönlich. Jetzt war man überrascht, einen so schönen, eleganten Mann zu sehen. Und der sollte ein gemeiner Mörder sein?

Die Zeugen erschienen in zwei geteilten Gruppen. Die erste, größere, war vom Staatsanwalt vorgeladen. Es gab da eine Menge Leute, die nur Unbedeutendes auszusagen hatten. Hotelbedienstete, der Kammerdiener Titus, der alte Lagler, Chauffeure, Polizisten usw. Dann aber auch Frau Torwesten, die man ja unter dem Namen »Belle Adisane« sehr gut kannte.

Sie erregte das größte Interesse. Man flüsterte sich alles zu, was man über sie teils durch die Zeitungen teils unter der Hand erfahren hatte. Frau Torwesten war äußerst elegant, aber mit gesuchter Einfachheit gekleidet. Man bemerkte, daß sie sehr bewegt war. Sie ignorierte Vater und Bruder, warf aber einen innigen Blick auf Torwesten, der indessen von ihm unerwidert blieb.

Dann kam die kleine Gruppe von Zeugen, die die Verteidigung vorgeladen hatte. Sie bestand nur aus Heidy Siebert, dem Detektiv Hempel und einem schmächtigen, kränklich aussehenden Menschen, der sich beim Namensaufruf als Valentin Maier meldete. Ihnen folgte stolz und patzig Herr Salo Goldstein.

Torwesten saß jetzt mit tief gesenktem Kopf da, während zwei rote Flecken auf seinen Wangen brannten. Als Heidy Sieberts Name verlesen wurde, zuckte er qualvoll zusammen, blickte aber nicht auf.

Während die Zeugen dann den Saal wieder verließen, erhob sich der Staatsanwalt um die Anklageschrift zu verlesen.

Sie war verhältnismäßig kurz, aber mit schärfster Logik aufgebaut. Klar und präzise wurden zuerst die Umstände dargelegt, die zur stillschweigenden Trennung der Torwestenschen Ehe geführt hatten. Danach war Torwesten ein rasch entflammter und ebenso rasch erkaltender Mensch, zu Eifersucht und plötzlichen Entschlüssen geneigt. Wie es um seine Wahrheitsliebe bestellt sei, beweise sein Verhalten zu der Zeugin Siebert, der er sich unter falschem Namen genähert, seine Ehe verschwiegen und sogar ein Heiratsversprechen gegeben habe, das er garnicht hätte halten können. Dann kam die »Belle Adisane« nach Wien. Aber nicht das war es, was den Angeklagten am stärksten in Erregung brachte und zu dem plötzlichen Entschluß trieb, in die Stadt zu fahren, sondern die jäh wieder aufflammende Eifersucht, das Bestreben, zu erfahren, ob der Mann, den er haßte, ebenfalls mitgekommen sei. Eifersucht und Rachedurst – das waren die Motive seines Handelns an jenem verhängnisvollen Abend des 29. Mai. Aus ihnen erwuchs die Tat.

Wo und wie er mit Chambers zusammengetroffen sei, könne allerdings nicht festgestellt werden, da Torwesten selbst keine Auskunft darüber gebe. Daß es ihm aber irgendwie gelungen sei, sein Opfer in seine Villa hinauszulocken und dort zu ermorden, darüber könne kein Zweifel bestehen. Sein eigener Schwager und späterer Mitschuldiger habe ihn an der Leiche des Opfers getroffen, das Mordinstrument noch in der Hand. Dann folgte die Beiseiteschaffung des Chauffeurs Wastler, der Mord an dem Chauffeur Maresch.

Daran schloß sich eine knappe Zusammenfassung aller Torwesten belastenden Umstände. Die Anklage bezeichnete ihn als Hauptschuldigen und dreifachen Mörder.

Die Lyttons wurden in bezug auf die beiden letzten Morde als Beihelfer und Mitwisser angeklagt, auch als Mithelfer bei Torwestens Flucht; der alte Lytton außerdem als Mörder des Agenten Kobler.

Alle drei hörten der Verlesung der Anklage zu, als ginge sie die Sache nichts an.

Nachdem der Staatsanwalt sich wieder gesetzt hatte, wandte sich der Vorsitzende mit der Frage an die Angeklagten, ob sie sich schuldig bekannten. Torwesten, an den die Frage zuerst gerichtet wurde, verneinte. Die Lyttons gaben nur zu, von dem Mord an Chambers gewußt zu haben. Torwesten habe sie angefleht ihn bei sich zu verbergen, und das hätten sie ihm als Verwandte doch nicht abschlagen können.

»Er war der Mann meiner Tochter, hoher Gerichtshof,« sagte der alte Lytton in fremdländischem Deutsch, »sollte ich hingehen und ihn ins Gefängnis liefern?« Auf Kobler wollte er nicht geschossen haben. Der Sohn drückte sich ähnlich aus. Von dem Mord an den Chauffeuren wüßten sie nichts. Man habe die Fahrzeuge benützt und dann entlassen. Dasjenige Torwestens sei er damals von seinem Schwager beauftragt worden nach der Reichsbrücke zu schicken, wo Wastler auf seinen Herrn warten sollte. Er und sein Bruder seien dann damit bis zum Praterstern gefahren und dort ausgestiegen. Seitdem hätten sie es nicht wiedergesehen.

Das Autotaxi 417 hätten sie bis Linz benützt und dort entlassen. Der Chauffeur sei dann in einem Wirtshaus eingekehrt, wie sie gesehen hätten. Mehr wisse er nicht. Vielleicht sei er in betrunkenem Zustand später selbst mit seinem Fahrzeug in die Donau geraten.

»Wer hat das Geld in Linz behoben?« fragte der Vorsitzende.

»Mein Schwager Torwesten. Er wollte damit zuerst ins Ausland fliehen, meinte aber dann, es sei sicherer, wir versteckten ihn in unserer Gärtnerei. Wir teilten uns dann. Vater fuhr mit meinem Bruder Charles mit der Bahn, ich mit Torwesten auf dem Schiff zurück.«

»Das ist eine Lüge!« rief Torwesten, der diesen Ausführungen gespannt gefolgt war. »Ich wollte niemals fliehen und erinnere mich genau, daß man mich von Baden direkt nach Wien zurück und als Gefangenen in einen Keller der Gärtnerei brachte.«

»Warum schrieben Sie dann jenen Brief an Dr. Herrlinger und verlangten, daß Ihnen 20 000 Kronen nach Linz angewiesen würden?«

»Was ich schrieb, weiß ich nicht mehr. Der alte Lytton diktierte mir den Brief, kurz nachdem meine Frau mich zu ihm gebracht. Wir hatten vorher über die Abfindungssumme gesprochen, die ich ihr zahlen sollte, wenn sie mir bei der Scheidung kein Hindernis in den Weg legte. So viel ich mich erinnere, sollten die 20 000 Kronen eine Abzahlung sein.«

»Sie schrieben aber doch, daß Sie im Begriff ständen, zur Ausstellung nach Philadelphia zu reisen!«

»Davon weiß ich nichts. Wir hatten während der Verhandlungen beim alten Lytton getrunken und ich erinnere mich nur noch, daß ich darauf ein unwiderstehliches Schlafbedürfnis empfand. Die Augen fielen mir fast zu, ich konnte die Feder kaum mehr halten und schrieb völlig mechanisch nach, was man mir vorsagte. In diesem fast bewußtlosen Zustand blieb ich nachher lange.«

Die Geschworenen lächelten. Im Saal herrschte unterdrückte Heiterkeit. Nur der Vorsitzende blieb ernst.

»Sie sprechen da von Scheidung. Ihre Frau und auch die Lyttons behaupten aber im Gegenteil, daß Sie sich mit ihr völlig ausgesöhnt hätten und das gemeinsame Leben wieder aufnehmen wollten. Wie erklären Sie diesen Widerspruch?«

»Ich kann ihn gar nicht erklären. Ich weiß nur, daß ich mit keinem Gedanken daran dachte, mich . . . auszusöhnen! Dies geht doch schon daraus hervor, daß ich mich mit Fräulein Siebert verlobt hatte.«

»Unter falschem Namen – jawohl! Für den Ernst der Verlobung spricht das nicht sehr!«

»Es war und ist mir heiliger Ernst damit!«

»Warum nannten Sie sich dann Brand? Und gaben sich für einen einfachen Reisenden aus?«

»Aus Gründen persönlicher Natur, die hier wohl nicht zur Sache gehören.«

»Ich möchte Sie trotzdem bitten, sie zu nennen.«

»Nun denn: Ich war einmal schwer getäuscht worden, weil ich ein . . . reicher Mann war! Diesmal wollte ich um meiner selbst willen geliebt sein! Ist dies so schwer zu verstehen?«

Ein beifälliges Gemurmel ließ sich im Zuschauerraum hören. Zum ersten Male bemerkte man so etwas wie eine Stimmung zugunsten des Angeklagten.

Da ließ sich die scharfe kalte Stimme des Staatsanwaltes hören:

»Und trotz dieser romantischen Liebe beherrschte Sie, als Sie von der Ankunft Ihrer Frau hörten, nur der Gedanke, ob auch Ihr Nebenbuhler hier sei? Wollen Sie uns wenigstens diesen Widerspruch erklären, Angeklagter?«

Torwestens Augen hefteten sich kalt auf den Sprecher. Dann antwortete er ruhig:

»Es ist kein Widerspruch. Ich wollte nur wissen, ob Chambers mitgekommen sei, weil mir diese Tatsache für den einzuleitenden Scheidungsprozeß von Wichtigkeit schien. Das müssen Sie, Herr Staatsanwalt, als Jurist begreifen! Ich wollte ihn sehen – aber nicht sprechen. Eifersucht lag mir völlig fern. Ich hatte diese Leute alle viel zu genau kennen gelernt um noch etwas anderes als Verachtung für sie zu empfinden!«

»Das sagen Sie jetzt, weil es in das System Ihrer Verantwortung so paßt! Wir werden später andere Worte aus dem Munde Ihrer Frau hören. Für jetzt möchte ich nur wissen, wie Sie sich eine Wiederverheiratung überhaupt denken konnten.«

»Ich hoffte, in dem Scheidungsprozeß eine Ungültigkeitserklärung meiner Ehe zu erreichen, da meine Frau als Minderjährige sich ohne die gesetzlich vorgeschriebene Einwilligung ihres Vaters mit mir trauen ließ.«

»Ach, so! . . . Ich bitte den Herrn Vorsitzenden in der Verhandlung fortzufahren.«

Es wurden nun der Reihe nach verschiedene Belastungszeugen vernommen. Darauf wurden sowohl Torwesten als auch die Lyttons aufgefordert, den Hergang zu schildern. Torwesten blieb dabei, daß man ihn betäubt und mit Gewalt entführt habe um während der darauf folgenden Gefangenhaltung ein Testament zugunsten seiner Frau von ihm zu erpressen. Er wisse weder etwas von Morden, die er begangen haben sollte, noch von Flucht, zu der er ja gar keinen Grund gehabt habe. Frei sei er erst durch Fräulein Siebert geworden, ohne daß er bis heute wisse, wie sie sein Gefängnis entdeckt habe.

»Wenn Sie unschuldig waren, warum stellten Sie sich nicht selbst sofort der Behörde?« fragte der Vorsitzende.

»Weil ich nicht wußte, daß man mich suchte, noch welcher Verdacht auf mir ruhte. Außerdem war ich krank. Selbst die Umstände meiner Entführung waren mir damals noch ganz unklar.«

Die Lyttons bestritten dies alles und blieben bei ihrer ersten Aussage, die sich, was Torwesten anbetraf, mit der Anklage deckte.

»Wie kamen Sie damals hinter Chambers her nach der Villa Solitudo?« fragte der Staatsanwalt John Lytton. »Wußten Sie, daß und warum er dahin wollte?«

»Ich vermutete es. Er war schon den ganzen Tag sehr aufgeregt und gleich nach der Vorstellung erklärte er, zu Torwesten zu müssen. Aus seinen Worten konnte man schließen, daß er nach der Villa bestellt sei. Mein Bruder und ich folgten ihm sehr besorgt, weil wir den Haß der beiden gegeneinander kannten. Später schickte ich meinen jüngeren Bruder wieder zurück, weil er mir zu aufgeregt für ein Versöhnungswerk schien. Leider kam ich selbst zu spät.«

Es entspann sich nun eine Debatte zwischen Dr. Herrlinger und dem Staatsanwalt. Ersterer suchte an der Hand medizinischer Bücher die Wirkungen des Morphiums zu erklären, letzterer behauptete, Torwestens angebliche Verwirrtheit habe nur dazu gedient, um seine anfängliche Ratlosigkeit zu bemänteln. Später habe er eben sein Verteidigungssystem erst ausgebaut.«

Herrlinger bestand auf der Vernehmung Fräulein Sieberts als Zeugin für den Zustand, in dem sie seinen Klienten auffand, ferner für die Unterredung des jüngeren Lytton mit seiner Schwester am Glashaus.

Heidy wurde gerufen. Sie war sehr schüchtern und etwas verwirrt durch die auf sie gerichteten Blicke so vieler Menschen. Als sie aber dann Torwesten ansah, der in sich zusammengesunken dasaß, faßte sie sich gewaltsam und berichtete in schlichten Worten alles, was sich von ihrem Verlassen der »Drei Linden« an bis zur Auffindung Torwestens in der Gärtnerei ereignet hatte.

Im Saal herrschte lautlose Stille. Alle folgten ihren Worten mit gespanntester Aufmerksamkeit. In den meisten Gesichtern las man Teilnahme und Bewunderung, aber auch . . . Unglauben.

Dann blickte man neugierig auf den Angeklagten, der sich aufgerichtet hatte und in großer Bewegtheit leuchtenden Auges auf die Sprecherin starrte.

Torwesten hatte ganz vergessen, wo er sich befand. Für ihn waren in diesem Augenblick nur zwei Menschen auf der Welt: Heidy und er selbst. Zum ersten Male hörte er, was sie für ihn getan, begriff er, wie sehr sie ihn liebte.

Sein Verteidiger flüsterte ihm etwas zu – er hörte es gar nicht. Als sie geendet, rief er erschüttert:

»O, Heidy, wie konntest du so viel für mich wagen!«

Sie sah ihn stumm mit einem so lieben, innigen Blick an, daß alle, die ihn beobachteten, sich gerührt abwandten.

Dann folgte sie der Aufforderung des Vorsitzenden und nahm ihren Platz auf der Zeugenbank ein. Die Stimmung war jetzt im Publikum ganz offen für den Angeklagten.

Da sagte der Vorsitzende in seiner kühlen, objektiven Weise:

»Der Aussage dieser Zeugin steht die Aussage des Chauffeurs Merkl entgegen, der in der Dame, welche er von Baden an die Gärtnerei fuhr, Frau Torwesten nicht wieder erkannte. Ich kann seine Aussage nur verlesen, da er selbst krankheitshalber nicht erscheinen konnte.«

Er verlas die Aussage.

Merkl gab darin unter Eid an, daß am 18. Juni abends gegen 10 Uhr, eine Dame seinen Wagen gemietet habe, um nach der Gärtnerei Brenner in Erdberg zu fahren, wo sie eine Bestellung zu machen habe. Während er den Motor ankurbelte, sei plötzlich dicht neben ihm ein Mensch in gebückter Stellung aufgetaucht, der ihm das Erkennungszeichen der Geheimpolizei vorgehalten habe und dann lautlos vorne unter seinen Lenkersitz gekrochen sei, woran ihn zu hindern er sich nicht für berechtigt gehalten habe. Die Dame im Wagen konnte davon nichts bemerken. Der Detektiv, den man ihm später als den erschossenen Agenten Kobler gezeigt habe, sei vor der Dame ausgestiegen, als das Auto dann hielt. Er sei ihr verstohlen bis an das Gärtnerhaus gefolgt und hinter diesem verschwunden. Sehr bald aber sei er im Laufschritt wiedergekommen und mit ihm zur Wachstube gefahren, um Polizeimannschaft zu holen, weil sich, wie er sagte, in dem Gärtnerhaus Verbrecher befänden. Später habe ihn der Untersuchungsrichter einmal einer Dame gegenübergestellt, in der er aber seinen Fahrgast nicht wieder erkannt habe. Letztere habe schwarzes Haar und brünetten Teint gehabt. Die Dame aber sei blond und rosig gewesen.

»Man darf nicht vergessen, daß Frau Torwesten früher beim Theater war!« sagte er laut. »Die Kunst, ihr Aeußeres zu verändern, wird ihr daher wohl geläufig sein!«

»Wir haben noch andere Zeugen dafür, daß Frau Torwesten nicht gut die Frau gewesen sein kann, der Fräulein Siebert gefolgt ist. Es ist nahezu erwiesen, daß sie in jener Nacht ihr Haus nicht verlassen haben kann,« bemerkte der Vorsitzende. »Soll ich diese Zeugen rufen lassen?«

»Ich verzichte auf sie. Im Grunde ist diese Frage ja nicht so sehr wichtig, wenn sie nicht, wie eben geschehen, dazu benützt werden soll, die Glaubwürdigkeit Fräulein Sieberts in Zweifel zu ziehen. Viel wichtiger scheint mir, das Verhältnis meines Klienten zu seiner Frau endlich völlig klar zu stellen.«

»Scheint Ihnen dies wirklich wichtiger als die Feststellung von Tatsachen, welche mit dem begangenen Mord in Verbindung stehen?« warf der Staatsanwalt spöttisch ein.

Dr. Herrlingers Augen funkelten kampfbereit.

»Ja! Denn ich bin überzeugt, daß es der springende Punkt in der ganzen Angelegenheit ist. Man beschuldigt meinen Klienten dieses Mordes hauptsächlich darum, weil man behauptet, daß niemand als er ein Interesse an dem Tod des Artisten Chambers haben konnte. Ich aber hoffe darzutun, daß andere Leute ein viel größeres Interesse daran besaßen, ihn verschwinden zu lassen.«

Bei diesen Worten fuhren beide Lyttons mit einem Ruck in die Höhe und starrten den Anwalt bestürzt an. Auch Torwesten wandte den Kopf und blickte erstaunt auf seinen Verteidiger. Die beiden Verteidiger der Lyttons steckten die Köpfe zusammen und flüsterten. Das Publikum wurde unruhig. Herrlinger aber ließ sich ruhig lächelnd auf seinem Platz nieder, während der Vorsitzende Frau Torwesten aus dem Zeugenzimmer holen ließ.

Frau Torwestens Erscheinen war natürlich die lang erwartete Sensation der ganzen Verhandlung. Kein Wunder darum, daß die Unruhe im Saale sich nicht legen wollte und es erst der Drohung des Vorsitzenden, den Saal räumen zu lassen, gelang, die Ruhe wieder herzustellen.

Dann machte er sie auf ihr Recht aufmerksam, als Gattin des Angeklagten die Aussage zu verweigern.

Aber Frau Torwesten erklärte, auf die Begünstigung verzichten zu wollen.

»Dann muß ich Sie unter Eid vernehmen, gnädige Frau.«

»Ich bin bereit dazu.«

Frau Torwesten öffnete schon die Knöpfe ihres langen seidenen Handschuhes, um die rechte Hand zum Schwur zu entblößen, da erhob sich Dr. Herrlinger.

»Ich protestiere gegen die Vereidigung dieser Zeugin!« klang es messerscharf durch den Raum.

Aller Augen richteten sich verwundert auf ihn.

»Darf ich um eine Erklärung dieses Protestes bitten?« sagte der Vorsitzende kühl. »Meines Wissens hat die Voruntersuchung nichts Belastendes gegen diese Zeugin ergeben.«

»Weil die Voruntersuchung sich nur mit dem hiesigen Aufenthalt der Zeugin befaßte. Ich aber bin in der Lage, Ihnen auch einiges aus ihrer Vergangenheit mitteilen zu können. Wir haben vorhin, als die üblichen Vorfragen an die Angeklagten gerichtet wurden, in bezug auf John Lytton nur die kurzen Worte gehört: ›Vorbestraft mit zwei Jahren wegen Diebstahls.‹ Gestatten Sie, daß ich Ihnen über diesen von John Lytton begangenen Diebstahl Näheres berichte.«

»Würde das den Gang der Verhandlung nicht unnötig verzögern?« wandte der Vorsitzende ein. »Es gehört nicht zur Sache.«

»Nein, denn es gehört durchaus zur Sache. Die Herren Geschworenen müssen sich ein richtiges Bild von der Familie Lytton machen können, um meine weiteren Darlegungen zu verstehen.«

»Gut. Aber ich bitte um möglichste Kürze.«

»Diese liegt auch in meinem Interesse. Jener Diebstahl wurde bei einem Londoner Juwelier begangen, und zwar in der Weise, daß ein junger Mensch – John Lytton – die Unerfahrenheit und Verliebtheit der dortigen Buchhalterin ausnützte. Das Mädchen war eine Nichte des Chefs und genoß dessen volles Vertrauen. Lytton, der sich ihr unter falschem Namen mit Heiratsversprechungen genähert hatte, betäubte sie mit Chloroform und raubte dann Wertgegenstände in der Höhe von tausend Pfund. Zwei Fingerabdrücke haben dann endlich zu seiner Entdeckung geführt.«

»Diese Fingerabdrücke liegen den Akten bei,« unterbrach ihn der Vorsitzende, »man sandte sie dem Untersuchungsrichter, als er in London Erkundigungen über die Lyttons einzog. Da sich dieselben Fingerabdrücke in der Kammer vorfanden, wo Chambers ermordet wurde, ersah man erst daraus, daß sich Lytton am Tatort befunden haben mußte, was er übrigens in seiner Aussage auch sofort zugab.«

Herrlinger lächelte.

»Warum? Weil er, dem seine Fingerabdrücke schon einmal zum Verräter wurden, sich der Unanfechtbarkeit dieses Beweises sofort klar war. Er sagt, er habe den Mörder dort überrascht. Ich aber bitte die Herren Geschworenen nur im Gedächtnis zu behalten, daß durch diese Abdrücke die Anwesenheit Lyttons am Tatort bewiesen ist.«

»Dies alles hat aber doch nichts mit der Zeugin zu tun, gegen deren Vereidigung Sie protestieren!«

»Doch. Sie werden es gleich begreifen. Von den geraubten Wertgegenständen fand sich damals keine Spur. Aber später wurde festgestellt, daß ein Teil davon sogleich in Paris, der andere in Neuyork verkauft worden war. Nach Neuyork war der alte Lytton unmittelbar nach dem Diebstahl abgereist. Man hat ihn kurz danach drüben wegen Taschendiebstahls festgenommen und bestraft – ich bemerke dies besonders, weil er sich vorhin für ›Nicht vorbestraft‹ erklärt hat – aber den Verkauf der Schmuckstücke konnte man ihm leider nicht mehr nachweisen. Ebensowenig der ›Belle Adisane‹, die sich in Paris damit befaßte. Auch sie wurde in Untersuchung genommen, hatte aber die Sache so schlau erledigt, daß man ihr nichts beweisen konnte. Immerhin wurde sie nur wegen mangelnder Beweise freigesprochen, aber die Behörden blieben doch von ihrer Schuld überzeugt. Der geistige Urheber jener Sache war – genau wie bei dem Streich hier in Wien – der alte Lytton, der, wie ich beweisen kann, einer Verbrecherfamilie entstammt. Seine Eltern und Brüder starben im Zuchthaus. Und genau wie hier hat die ›Belle Adisane‹ in Paris scheinbar nicht in Verbindung mit ihren Angehörigen gestanden, sondern sich bemüht, ein tadelloses, zurückgezogenes Leben zu führen. Sie unterhielt weder Liebschaften, noch verkehrte sie mit ihresgleichen. Immer aber war zur selben Zeit und in derselben Stadt wie sie der Artist Chambers – während Johns Gefängnishaft allein mit Charles Lytton, später wieder mit den beiden Brüdern zusammen engagiert. Ich bitte, diese Tatsache ebenfalls festzuhalten. Ich werde sie später beweisen. Seit der Verurteilung John Lyttons traten sie unter dem Namen ›Brothers Copley‹ auf.«

Der Staatsanwalt trommelte ungeduldig auf einem Aktenstück herum.

»Ich dachte, der Herr Verteidiger wollte uns sagen, warum er gegen die Vereidigung einer Zeugin protestierte.«

»Gewiß. Ich wollte durch diese Einleitung nur dartun, daß die Zeugin schon einmal eine zweifelhafte Rolle spielte und darum nicht als glaubwürdig zu betrachten ist. Dies wird den Herren Geschworenen sofort noch einleuchtender werden, wenn ich hinzufüge, daß sie es wagte, hier vor dem hohen Gerichtshof unter falscher Maske zu erscheinen . . .«

»Ich?« fuhr Frau Torwesten entrüstet auf. »Was fällt Ihnen ein? Unter welcher falschen Maske soll ich denn erschienen sein?«

»Haben Sie nicht uns und alle Welt glauben machen wollen, daß Sie die Frau meines Klienten sind?«

Einen Augenblick war es, als zucke blitzartig etwas wie Schreck über Frau Torwestens Gesicht. Die Augen der beiden Lyttons ruhten starr auf ihr. Im Saal herrschte atemlose Stille.

Dann richtete sie sich stolz auf und blickte den Vorsitzenden lächelnd an.

»Es scheint, daß der Herr Verteidiger plötzlich den Verstand verloren hat. Ich bitte, ihm meinen Trauschein zu zeigen, der bei den Akten liegt, und ihm begreiflich zu machen, daß meine Ehe trotz seines leidenschaftlichen Wunsches noch nicht geschieden ist!«

Dr. Herrlinger blieb völlig ruhig. Während der Vorsitzende in den Akten blätterte, fixierte der Anwalt Frau Torwesten scharf.

»Sie bleiben also dabei, Frau Torwesten zu sein?«

»Selbstverständlich!«

»Und würden sogar bereit sein, unter diesem Namen den Eid zu leisten?«

»Jawohl.« Sie lächelte wieder. »Wer soll ich denn sonst sein, wenn nicht Torwestens Frau?«

Herrlinger verbeugte sich kühl.

»Ich danke Ihnen.« Dann fuhr er mit erhobener Stimme fort:

»Sie alle haben die Worte der Zeugin gehört, meine Herren. Ich habe denselben nur folgendes hinzuzufügen: Die Dame, welche sich hier als Gattin meines Klienten ausgibt, ist dies in Wahrheit niemals gewesen! Sie heiratete vor fünf Jahren in ihrer Heimat, dem kleinen irischen Dorf Bilburney, den Artisten Fred Chambers, war also niemals berechtigt, eine zweite Ehe zu schließen, da ihr Mann noch lebte!«

In dem Tumult, der sich jetzt erhob, verklang der Schrei, den Georg Torwesten ausstieß. Die »Belle Adisane« stand marmorblaß, aber unbeweglich da. Kein Zug ihres schönen Gesichtes verriet Schrecken oder Angst.

War ihre Ruhe nur eine Art Lähmung, oder fühlte sie sich auch jetzt noch sicher?

Es gelang dem Vorsitzenden nur schwer, sich Gehör zu verschaffen. Als wieder Stille eintrat, war seine erste Frage:

»Was haben Sie darauf zu erwidern, Frau Zeugin?«

»Daß es eine Lüge ist! Er mag für seine wahnsinnige Behauptung Beweise bringen.«

Wieder erschien das fatale Lächeln um Dr. Herrlingers Mund.

»Die Zeugin verläßt sich darauf, daß es keine Dokumente dafür gibt. Man hat dem ermordeten Chambers den Trauschein abgenommen, und in Bilburney zerstörte vor Jahresfrist eine Feuersbrunst das halbe Dorf samt der Kirche und dem Gemeindeamt. In den Zeitungen stand damals allerdings, daß auch die Kirchenbücher ein Raub der Flammen wurden, und dies macht die Zeugin offenbar so sicher. Glücklicherweise beruhte diese Nachricht auf einem Irrtum. Der Ortspfarrer hatte die Bücher in seiner Wohnung aufbewahrt. Sie sind unversehrt. Ich bitte, den Zeugen Hempel rufen zu lassen, damit er Ihnen eine unter allen gesetzlichen Vorschriften ausgestellte Abschrift der betreffenden Eheeintragung vorlegt.«

Wieder erhob sich Lärm im Zuhörerraum.

Während man den Detektiv holte, sank die »Belle Adisane« langsam auf einen Stuhl nieder, als überkomme sie eine Ohnmacht.

Hempel erschien, und die Abschrift wurde erst dem Gerichtshof, dann den Geschworenen vorgelegt. Während dies geschah, ergriff Dr. Herrlinger abermals das Wort.

»Sie sehen, daß mein Protest berechtig war, meine Herren! Und ich hoffe, daß an der Hand dieses Dokumentes Ihnen auch der übrige Zusammenhang klar wird. Torwesten war für die Familie Lytton überhaupt von Anfang an nur ein Ausbeutungsobjekt gewesen. Als er seine Frau, deren Verkehr mit Chambers er entdeckte und für Untreue halten mußte, verließ, hatte er sich mit einer ansehnlichen Summe losgekauft. Aber dem alten Lytton, der erst später von der ganzen Sache erfuhr, wollte es nicht aus dem Kopf, daß sie von den Millionen des Schwiegersohnes nicht noch mehr profitieren sollten. Darum entwarf er seinen Plan. Mein Klient sollte sich entweder mit seiner Frau wieder aussöhnen oder – man wollte ihm mit Gewalt abnehmen, was er freiwillig nicht gab, um ihn dann verschwinden zu lassen. Wenn es gelang, Torwestens geistigen Widerstand derart zu schwächen, daß er ein Testament zugunsten seiner Frau niederschrieb, so kam man durch sie in den Besitz des ganzen Vermögens. Dem stand nur ein einziger Umstand entgegen: die leidenschaftliche und eifersüchtige Liebe des wirklichen Gatten dieser Frau! Die Heirat in London war hinter seinem Rücken geschlossen worden. Man beschwichtigte ihn damals offenbar nur schwer und mußte ihm gestatten, wenigstens bei seiner Frau als ständiger Besucher zu erscheinen. Die Trennung war ganz nach seinem Wunsch. Einer Aussöhnung widersetzte er sich gewiß sehr lebhaft. Wir haben zahlreiche Aussagen von Berufskollegen des Artisten gesammelt, welche von häufigem Streit zwischen Chambers und dem älteren Lytton, sowie von seiner wahnsinnigen Liebe zu dessen Schwester berichten. Höchstwahrscheinlich teilte man ihm am Abend des 29. Mai mit, daß Torwesten von seiner Frau am nächsten Tage erwartet und eine Aussöhnung auch von ihr selbst lebhaft gewünscht werde. Dies mußte den leidenschaftlichen Menschen außer Rand und Band bringen. In dieser Stimmung drohte er offenbar, alles dadurch zu vereiteln, daß er Torwesten selbst die Wahrheit sagte. Man ließ ihn nach Baden fahren, folgte ihm aber sicher schon in der Absicht, sich seiner nun endlich ganz zu entledigen, da er für die Pläne der Lyttons eine beständige Gefahr bildete. Man fand das Haus leer. Den Hund kannte John Lytton von früher her gut genug, um ihn durch ein Wort zu beschwichtigen.

Dann tötete er Chambers und vergrub dessen Leiche im Garten. Der Verdacht mußte, so rechnete man, unbedingt auf Torwesten fallen. Dies hatte zwei Vorteile. Einmal wurde Torwestens Verschwinden als ›Flucht‹ aufgefaßt, und dann wurde durch diesen auf ihm ruhenden Verdacht seine Glaubwürdigkeit von vornherein erschüttert. Wie richtig die Lyttons kalkuliert hatten, beweist ja die Verhandlung, wo das Opfer – auf der Anklagebank sitzt!«

Die meisten der Geschworenen nickten zustimmend. Einer aber richtete die Frage an den Verteidiger:

»Wie konnten die Lyttons bereits in jener Nacht wissen, daß sie Torwesten mit Gewalt festhalten würden? Die Zusammenkunft der angeblichen Gatten hatte noch nicht stattgefunden – sie konnte doch auch zur Versöhnung führen?«

»Keinesfalls. John Lytton und seine Schwester, die Torwesten kannten, zogen diesen Fall nie ernstlich in Betracht. Er war jedenfalls nur vom alten Lytton, dem sein Schwiegersohn ja noch fremd war, für möglich gehalten worden. Außerdem sollte er benützt werden, um sich Chambers zu entledigen. Daß man im Ernste mit ganz anderen Dingen rechnete, beweist ja schon der Ankauf der Gärtnerei, der bereits stattfand, ehe die ›Belle Adisane‹ in Wien angekommen war.«

»Der Angeklagte Lytton hat in der Voruntersuchung zugegeben,« schaltete der Vorsitzende ein, »daß er die Gärtnerei erwarb, um sich darauf zur Ruhe zu setzen. Er hat in seiner Jugend die Gärtnerei erlernt. Uebrigens wurde das ziemlich wertlose Grundstück auf ratenweise Abzahlung erworben.«

Dr. Herrlinger nickte.

»Natürlich. Man brauchte es ja nicht lange. Sobald man mit Torwesten fertig geworden, hatte es seinen Zweck erfüllt. Was sagen Sie dazu, Lytton, habe ich nicht recht?«

Der Alte schüttelte den Kopf und machte eine bekümmerte, einfältige Miene.

»Ich verstehe von dem Ganzen gar nichts. Was Sie da über meine Kinder vorbringen, klingt schrecklich, aber ich kann es nicht glauben.«

»Ach so – Sie haben wohl von alledem garnichts gewußt?« bemerkte Dr. Herrlinger ironisch.

»Nein. Bei Gott nicht! Ich bin ein alter Mann und hatte Mitleid mit meinem Schwiegersohn, das war alles!«

»Mit welchem? Mit Chambers oder mit Torwesten?«

»Mit Torwesten natürlich. Der andere ging mich nichts an. Man hatte mir gesagt, daß seine Ehe mit meiner Tochter längst getrennt sei.«

»Wer hat dies gesagt?«

»Mein Sohn John. Ihn müssen Sie fragen, nicht mich.«

»So. Nun, John Lytton, dann fordere ich Sie auf, nunmehr endlich die Wahrheit zu sagen. Ich glaube zwar an den harmlosen Altersschwachsinn, den Ihr Vater jetzt heuchelt, nicht, aber da er mich selbst an Sie weist, sollen Sie jetzt auch das Wort haben. Wie war das mit Chambers? Bleiben Sie noch dabei, Herrn Torwesten an dessen Leiche in jener Nacht getroffen zu haben?

»Ja! Und tausendmal ja!« rief John Lytton, indem er aufsprang und eine unbezähmbare Wut aus seinen Augen funkelte. »Man mag mich auf der Stelle hängen, wenn es anders war!«

»Lästern Sie nicht!«

»Ich sage die Wahrheit, zu der Sie mich ja aufgefordert haben!« schrie Lytton, dessen Aufregung wuchs. Drohend starrte er um sich. »Man soll mir das Gegenteil beweisen! Torwesten mag doch angeben, wo er sich in jener Nacht befand!«

»Das hat er bereits getan.«

»Keinen Menschen hat er damit überzeugt!«

»Gut,« sagte Herrlinger, immer ruhig bleibend, »wir werden auch dafür den Beweis liefern. Man rufe den Zeugen Valentin Maier.«

Während ein Saaldiener sich entfernte, um diesen Befehl auszuführen, wurde dem Vorsitzenden ein amtlich versiegeltes Schreiben überbracht. Er erbrach es sofort und vertiefte sich so sehr in seinen Inhalt, daß einer der Beisitzer ihn leise mahnend anstoßen mußte, weil der Zeuge Maier bereits erschienen war.

Inzwischen wandte sich der Staatsanwalt betroffen an Dr. Herrlinger.

»Ich möchte mir die Frage erlauben, warum wir sozusagen erst in letzter Stunde mit so wichtigen Tatsachen und Zeugenaussagen bekannt gemacht werden. Wenn es der Verteidigung gelang, sie aufzufinden, wäre es ihre Pflicht gewesen, schon die Voruntersuchung darauf aufmerksam zu machen!«

Herrlinger antwortete achselzuckend: »Dies war leider nicht möglich. Auch ich erfuhr davon erst gestern in später Abendstunde. Der Mann, dem wir sie verdanken, traf mit dem Zeugen Maier erst gestern aus Marseille ein. Maier war schwer krank und nicht früher reisefähig. Ich bitte, mir darum zu verzeihen, daß ich dieses Entlastungsmaterial erst heute vorbringen kann.«

Er wies auf Maier, der sichtlich nur schwer eine aufrechte Haltung bewahrte.

»Sie sehen, daß der Herr Zeuge noch jetzt sehr leidend ist, und ich bitte mit Rücksicht auf seinen Zustand zu gestatten, daß er seine Aussage sitzend abgibt.«

Man beeilte sich, dem Zeugen einen Stuhl hinzuschieben.

Torwesten, der zu Beginn der Verhandlung beim Namensaufruf der Zeugen so sehr mit dem Gedanken an Heidy beschäftigt gewesen war, daß er garnicht aufgeblickt hatte, richtete sich jetzt wie elektrisiert auf.

Mit Mühe nur konnte er einen Ausruf der Ueberraschung unterdrücken. Dann suchte sein leuchtender Blick Heidy, die den Zeugen neugierig erwartungsvoll betrachtete.

»Ich danke dir, mein Gott!« murmelte Torwesten halblaut und atmete tief auf.

Der Vorsitzende stellte die üblichen Fragen, aus denen sich ergab, daß Maier bis vor kurzem die Stellung eines Kammerdieners bei Herrn Max Schönfeld bekleidet hatte und dessen Forschungsreise mitmachen sollte.

Doch war er in Marseille, wo sich die Gesellschaft einschiffen wollte, schwer erkrankt und mußte im dortigen Spital zurückgelassen werden. Er war 35 Jahre alt, aus Graz in Steiermark gebürtig und gänzlich unbescholten. Dann wurde er vereidigt und sagte aus, daß Herr Torwesten, den er schon von früher her kannte, am Abend des 29. Mai etwa um 11 Uhr mit seinem Herrn in dessen Wohnung gekommen und die Nacht über dort geblieben sei. Die beiden Herren trennten sich erst früh um 7 Uhr am Bahnhof, wohin Herr Torwesten ihnen noch das Geleite gegeben hatte.«

»Wunderbar, wie es Ihnen gelungen ist, diesen Zeugen, den alle Welt in Afrika glaubte, aufzufinden!« sagte der Staatsanwalt kopfschüttelnd zu Dr. Herrlinger. Worauf dieser auf Silas Hempel weisend, antwortete:

»Nicht mir, sondern dem Herrn Zeugen hier gebührt das Verdienst. Er hat damit wieder einmal bewiesen, daß, was er in die Hand nimmt, auch gründlich erledigt wird.«

Der Detektiv lächelte:

»Bah, dabei war gar keine Kunst. Ich begnügte mich eben nicht mit der Annahme der Abreise, sondern verschaffte mir eine unmittelbar vor Aufbruch der Expedition zusammengestellte Liste sämtlicher Teilnehmer. Es konnte ja immerhin möglich sein, daß Herr Schönfeld im letzten Augenblick zurückgetreten war. Aus dieser Liste sah ich, daß nicht sein langjähriger Kammerdiener Maier, sondern ein in Marseille gemieteter Diener sein Begleiter war. Das andere ergab sich dann fast von selbst.«

In diesem Augenblick erhob sich der Vorsitzende, nachdem er das ihm überbrachte Schreiben zu Ende gelesen hatte.

Züge und Stimme waren bewegt.

»Meine Herren,« begann er, »ich habe Ihnen eine Mitteilung zu machen, die vielleicht noch wunderbarer ist als das unerwartete Erscheinen des Alibizeugen Maier in diesem entscheidenden Augenblick. Man teilt mir von der Leitung des Spitals soeben mit, daß Charles Lytton gestorben ist. Sein Zustand hatte sich bereits im Laufe der Nacht verschlimmert. Am Morgen bekam er einen Blutsturz und fühlte selbst, daß es mit ihm zu Ende gehe! Da entschloß er sich aus freien Stücken, sein Gewissen zu erleichtern, und ein volles Geständnis abzulegen. Es wurde in Gegenwart von zwei Zeugen abgegeben und von Charles Lytton eigenhändig unterschrieben. Man übersandte es mir zugleich mit der Todesnachricht. Es stimmt in allen Punkten mit den uns von Dr. Herrlinger als wahrscheinlichem Hergang gegebenen Ausführungen überein. –

Insbesondere bestätigt es, daß John Lytton den Mord an Chambers beging. Chambers wollte tatsächlich durch eine offene Erklärung jede Aussöhnung Torwestens mit der Traumtänzerin verhindern. Lytton folgte ihm, traf aber erst in Solitudo wieder mit ihm zusammen, wo Chambers eben in wilder Hast die Zimmer nach seinem Nebenbuhler durchsuchte, nachdem er mit Gewalt durch ein schlecht verschlossenes Küchenfenster ins Haus gedrungen war. Den Koffer mit Kleidern hat Lytton dann gepackt und mitgenommen, einerseits, weil man dadurch auf eine Flucht Torwestens schließen mußte, andererseits, weil man für Torwestens Gefangenhaltung sich versehen wollte.

Auch die Ermordung der beiden Chauffeure kommt auf sein Konto. Wastler wurde, wie wir bereits wissen, erwürgt, Maresch in betrunkenem Zustand in die Donau gestürzt.

Den ganzen Plan soll der alte Lytton erdacht haben. In wieweit dies richtig ist, wird die nun neu einzuleitende Untersuchung ergeben. Ich danke also den Herren Geschworenen einstweilen für ihr heutiges Erscheinen. Ihr Urteil abzugeben werden sie in einem späteren Zeitpunkt gebeten werden.

Herr Torwesten, Sie sind selbstverständlich aus der Haft entlassen. Ich gestatte mir zum Schluß, Ihnen meine besondere Genugtuung über die glückliche Wendung der Verhandlung auszusprechen. Es ist auch für den Richter stets ein erhebendes Gefühl, wenn derjenige, der diesen Saal als Angeklagter betreten hat, ihn als freier, unbescholtener Mann verlassen kann.«

Der Staatsanwalt hatte während dieser Rede in dem Geständnis Charles Lyttons geblättert.

Jetzt, als der Vorsitzende schwieg, erhob er sich rasch.

»Auch ich habe hier noch eine Pflicht der Gerechtigkeit zu erfüllen,« sagte er in merklich wärmerem Ton als bisher. »Es wurde nicht nur in der Voruntersuchung sondern auch heute hier in diesem Saal die Glaubwürdigkeit der Aussage Fräulein Sieberts angezweifelt. Aus dem mir vorliegenden Geständnis jedoch wird sie vollinhaltlich bestätigt, insbesondere auch jenes von ihr erlauschte Gespräch des jungen Lytton mit seiner Schwester am Glashaus. Das wollte ich allen Anwesenden zur Kenntnis bringen.«

Sein Blick richtete sich auf die »Belle Adisane«, welche immer noch anscheinend gebrochen und völlig teilnahmslos dasaß, den Blick stier zu Boden gerichtet.

»Da somit erwiesen ist, daß die angebliche Frau Torwesten nicht nur Mitwisserin des geplanten Verbrechens, sondern zum Teil auch Mitschuldige ist, beantrage ich ihre sofortige Festnahme.«

Er gab einem der an der Barre stehenden Gerichtsdiener einen Wink.

»Frau Mary Anna Chambers, geb. Lytton, ich erkläre Sie hiermit für verhaftet!«

»Mich?« schrie die Traumtänzerin schrill auf und sprang mit wild und entsetzt um sich starrenden Blicken auf, als suche sie nach einer Lücke in dem Menschenring, der sich plötzlich eng um sie geschlossen hatte.

Aber sie fand keinen Ausweg. Da brach sie in ein gellendes hysterisches Geschrei aus und schüttelte die Fäuste drohend gegen den alten Lytton, der sich stumpfsinnig abführen ließ, gefolgt von seinem Sohn, dessen Blicke finster zu Boden gerichtet waren.

»Da habt Ihr sie nun, die Millionen!« schrie die Witwe des ermordeten Artisten. »Eingesperrt . . . eingesperrt . . . verloren! Und das verdanke ich dir. Vater!«

Zwei Menschen hörten und sahen nichts mehr von der widerlichen Szene. Sie standen eng aneinander geschmiegt im Zeugenzimmer, umringt von Dr. Herrlinger, Silas Hempel, der weinenden Frau Siebert und Karl Lagler, um zu warten, bis sich die Menschenmenge draußen etwas verlaufen hatte.

Heidy und Georg war es, als seien sie beide allein auf der Welt, zwei Glückliche, die nach schwerer stürmischer Fahrt die Insel der Seligen erreicht hatten.

Dr. Herrlinger rieb sich vergnügt die Hände und stieß Karl Lagler an, indem er heimlich nach den beiden wies:

»Du kannst es getrost schon heute draußen erzählen, mein Junge, daß das ›Haus des Sonderlings‹ von heute an nicht mehr existiert. Es wird sehr bald das ›Haus der Glückseligkeit‹ heißen, wenn erst die liebe junge Frau Heidy draußen eingezogen ist. Nun Herr Torwesten nicht nur von jedem Verdacht, sondern vor allem auch von dem Druck der Erinnerung an eine übereilte Ehe, die ihm nur Leid brachte, frei ist, fällt es ihm gar nicht mehr ein, ein Sonderling zu sein!«


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