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VI

»Ursula Züger, achtunddreißig Jahre alt, seit neunzehn Jahren im Dienst der verstorbenen Frau Swieter«, begann der Präsident.

Ursula Züger blickte mit überlegenem Lächeln in die Runde. »Ihr dampft vor Gier nach den Tatsachen, die nur ich berichten kann«, schien ihre Miene zu sagen; »fallt nur her über die Beute und sättigt euch, ich denke, sie soll euch schmecken.«

»Sie müssen bei so langem Zusammenleben mit allen Verhältnissen der Frau Swieter sehr vertraut gewesen sein.«

»Das will ich meinen«, sagte Ursula, »was meine Gnädige angeht, das weiß ich von Anfang bis zu Ende, das gibt es nicht anders.«

»Hat die Verstorbene zuweilen von der Vergangenheit, ich meine, von der Zeit ihrer Ehe mit dem Angeklagten, mit Ihnen gesprochen?«

»Hui!« Ursula stieß einen pfeifenden Ton aus, welcher sagen zu wollen schien, daß dies unzählige Male der Fall gewesen sei. »Namentlich seit der Zeit, wo sie krank lag, das arme Wurm. Wenn ich dann abends bei ihr saß, ging das immer: ›Wissen Sie noch dies und das, Urschel? Wissen Sie noch die Geschichte mit dem Bettler?‹ Nämlich in der ersten Zeit, als unser Herr Doktor noch keine Patienten hatte, da kamen ausgerechnet alle Bettler, die es in der Stadt gab, und einmal ging der Herr Doktor selbst an die Tür und sagte: ›Sie, guter Freund, ich soll Ihnen was geben? Also, was haben Sie heute verdient? Na, sagen Sie die Wahrheit: mindestens eine Mark, mindestens! Sie gehen an der Krücke, haben nur ein Auge schön, sagen wir eine Mark. Ich dagegen nichts. In vier Wochen habe ich nicht zehn Mark verdient! Aber wenn Sie eine Zigarette wollen und mir ein bißchen Gesellschaft leisten‹ – und da hat er wahrhaftig einmal einem mit eigener Hand eine Zigarette gedreht, der sah aus, als ob er geradewegs aus dem Kehrichtkübel käme, aber sonst ein verschmitzter, lustiger Kerl, der kam dann alle paar Tage und sagte gleich, wenn ich die Tür aufmachte, er wolle nichts haben, wolle nur dem Herrn Doktor ein bißchen Gesellschaft leisten.«

»So«, sagte der Vorsitzende, »Sie tischten der Kranken also lustige Erinnerungen auf, um sie zu erheitern.«

»Versteht sich«, sagte Ursula. »Schmerzen und Kummer hatte sie ohnehin genug.«

»Wenn Frau Swieter dem Herrn Doktor nichts nachtrug«, fuhr der Vorsitzende fort, »sich seiner gern erinnerte, wechselte sie wohl Briefe mit ihm?«

»Das dachte ich doch, daß Sie wieder davon anfingen«, sagte Ursula triumphierend. »Damit ist es aber ein für allemal nichts. Wo wird sie denn mit ihrem geschiedenen Mann Briefe gewechselt haben? Da hätten sie ja ebensogut zusammenbleiben können.«

»Das ist doch ein Unterschied«, setzte der Präsident auseinander. »Es kann vorkommen, daß man sich entfernt sehr gut verträgt, während man sich unter einem Dach beständig in den Haaren liegt.«

»Dazu war meine Gnädige eine viel zu feine Dame«, sagte Ursula streng. »Von In-den-Haaren-Liegen war da gar keine Rede und auch nicht von heimlichen Tuscheleien, nachdem sie einmal auseinander waren. Wenn ich früher wohl einmal sagte, der Herr Doktor sei doch im Grunde gar kein schlechter Mensch gewesen und es sei doch eigentlich schade, wenn er nun auf eine schiefe Bahn geriete, und auch für uns, weil immer etwas ging, solange er da war, dann schüttelte meine Gnädige den Kopf und sagte: ›Wenn wir uns auch heute versöhnten, würden wir doch übers Jahr auseinandergehen.‹ Und recht hatte sie, so ein Mann wie der konnte einmal keine Ruhe geben.«

»Sie sind also der Meinung«, fragte der Vorsitzende, »daß Frau Swieter weder an den Angeklagten geschrieben noch von ihm Briefe empfangen hat?«

»Der Meinung!« wiederholte Ursula mit blitzenden Augen.

»Von Meinung brauchen Sie da gar nicht zu reden, Herr Präsident, denn das weiß ich. Deswegen bilde ich mir nicht zu viel ein, wenn ich sage, daß der liebe Gott es nicht besser wissen kann. Erstens kenne ich die Handschrift vom Herrn Doktor, und weil sie vor einem Jahr krank wurde, hat sie keinen Brief mehr bekommen, der nicht durch meine Hand ging, und geschrieben hat sie auch nicht mehr, außer was sie mir oder Fräulein Schwertfeger, aber meistens Fräulein Schwertfeger, diktierte. Wir haben auch ihre Briefe auf die Post gebracht.«

»Nun, mein liebes Kind«, sagte Dr. Zeunemann, »Ihre Gnädige war doch nicht lahm! Wenn sie durchaus wollte, konnte sie auch aufstehen und sich Schreibzeug holen und schreiben, ohne daß Sie es wußten, und sie konnte auch zum Beispiel Herrn Dr. Kirchner, ihren Arzt, um die Besorgung eines Briefes bitten.«

»Ja, das scheint Ihnen so, Herr Präsident«, sagte Ursula nachsichtig, »weil Sie es nicht besser wissen. Aber daß meine Gnädige hinter meinem Rücken Briefe schrieb und abschickte, das ist ausgeschlossen. Wenn Sie die Verhältnisse kennten, würde Ihnen so etwas gar nicht in den Sinn kommen. Nein, und wenn sie auch nicht lahm war, und das war sie allerdings nicht, so hätte sie doch solche Zeremonien nicht mit mir gemacht, wo gar keine Veranlassung dazu da war; denn sie hätte ja nur zu sagen brauchen: ›Ursula, von dem Brief soll niemand etwas wissen, und Sie sollen es auch nicht wissen.‹ Und dem Herrn Dr. Kirchner einen Brief mitgeben, darüber muß man wirklich lachen, wenn man die Verhältnisse kennt. Da hätte sie ja nicht gewußt, ob er ihn nicht ein halbes Jahr in der Tasche behielte oder auf der Treppe schon verloren hätte. Und warum hätte sie denn ihre Geheimnisse fremden Leuten anvertrauen sollen, wo sie doch Fräulein Schwertfeger und mich hatte, auf die sie sich verlassen konnte? Also das schlagen Sie sich nur aus dem Kopfe, Herr Präsident, mit den heimlichen Briefen! Was in unserem Hause vorgegangen ist, das weiß ich, und da konnte nichts vorgehen, was ich nicht wußte.«

»Sie werden doch zuweilen Besorgungen gemacht haben, liebes Fräulein«, sagte der Präsident, der sich noch nicht für geschlagen erklären mochte. »Wissen Sie auch, was in der Wohnung vorfiel, wenn Sie nicht da waren?«

»Wenn Sie mich damit hereinzulegen denken, wie man so sagt, Herr Präsident«, antwortete Ursula unerschüttert, »dann sind Sie ausgerutscht, mit Erlaubnis zu sagen. Wenn ich fort war, konnte am allerwenigsten etwas vorfallen, weil ich dann nämlich die Wohnungstür hinter mir abschloß. Meine Gnädige hatte das selbst angeordnet und gesagt: ›Wissen Sie, Ursula, weil ich doch nicht aufstehen soll, nach dem, was der Herr Doktor sagt, so ist es am einfachsten, Sie schließen die Tür ab, damit ich sicher bin, daß niemand hineinkann. Kommt jemand, so mag er läuten und wiederkommen. Brennen wird es ja nicht gerade, während Sie fort sind.‹ Na, was das betrifft, darüber war ich ganz ruhig, denn wo sollte es brennen, wo ich immer nur in der Frühe oder nachmittags ausging, wenn kein Feuer im Hause war. Fräulein Schwertfeger hatte eigens den Wohnungsschlüssel, damit sie zu jeder Zeit hineinkonnte. Also, Herr Präsident, das müssen Sie nun doch einsehen, daß in meiner Abwesenheit nichts vorfallen konnte.«

»Nur ist in Ihrer Abwesenheit Ihre Herrschaft ermordet worden«, erhob sich die kreischende Stimme des Staatsanwalts.

Ursula verstummte; aber, wie es schien, mehr erstarrt über die Dreistigkeit, diese Tatsache anzuführen, als von ihrer Beweiskraft überwunden. »So weit sind wir noch nicht«, sagte sie endlich, sich aufraffend. »Ich glaube überhaupt nicht an den Mord, weil es unmöglich ist, daß etwas in der Wohnung vorfiel, solange ich fort war.«

»Außer wenn Frau Swieter selbst wollte«, warf der Vorsitzende ein.

»Ja, das werden Sie doch aber selbst nicht glauben, Herr Präsident«, sagte Ursula, wieder in den früheren Gedankengang einlenkend, »daß die todkranke Frau aufstand und womöglich drei Treppen herunter auf die Straße lief, nur um unserem Herrn Doktor einen Brief zu schicken, den ich ihr jeden Augenblick mit dem größten Vergnügen besorgt hätte.«

Dr. Zeunemann seufzte. »Verreist sind Sie niemals«, begann er von neuem, »seit Frau Swieter im vorigen Jahre krank wurde und zu Bette lag?«

»Nein«, sagte Ursula, »obwohl sie es mir oft angeboten hat und ich ja auch wußte, daß Fräulein Schwertfeger gerne solange bei ihr gewohnt hätte und daß sie ja auch eine Krankenschwester hätte nehmen können. Aber die hätte doch die Verhältnisse nicht so gekannt wie ich, und wenn es mir auch leid tat, meine Mutter so lange nicht zu sehen, so habe ich mir doch gesagt: Die Frau hat dich seit neunzehn Jahren nicht verlassen, so verlasse ich sie auch nicht. Ruhe hätte ich zu Hause auch nicht gehabt, und ich glaube, ich fände im Grabe keine Ruhe, wenn ich das arme, kranke Wurm allein gelassen hätte.«

Ursulas laute Stimme wurde unsicher, und sie fuhr sich mit dem Taschentuch über das Gesicht.

Der Vorsitzende wartete ein wenig und forderte sie dann auf, den Todestag der Frau Swieter, soweit sie sich erinnern könne, vom Anfang bis zum Ende zu schildern.

»Gerade an dem Tag«, begann Ursula, »hatte ich gar nichts Böses vermutet. Die Nacht war nämlich sehr schlecht gewesen, ich hörte sie stöhnen, lief wohl fünfmal hin und fragte, ob ich den Doktor holen sollte, aber sie sagte: ›Nein, der hilft mir doch nicht‹, und mich schickte sie auch fort, weil ich es ihr nur schwerer machte. Denn wenn ich da wäre, sagte sie, müßte sie sich beherrschen.

Gegen Morgen bin ich wirklich eingeschlafen, denn vier Uhr habe ich es schlagen hören, aber fünf nicht mehr, und um sieben weckte mich der Kaminkehrer, der anläutete. Ich war wütend, daß er so laut schellte, und lief an die Tür und sagte, das sei keine Art, so unversehens daherzukommen, er habe sich den Tag vorher anzumelden, und jetzt nähme ich ihn schon gar nicht an; ich mochte den unverschämten Kerl nämlich ohnehin nicht leiden. Ich dachte, meine Gnädige wäre vielleicht auch erst vor kurzem eingeschlafen und nun wieder geweckt, und da klingelte sie mir auch schon und fragte, wer draußen wäre. Ich sagte, der Kaminkehrer, und daß ich ihn geschimpft hätte, und sie sagte, es habe nichts zu sagen, sie würde schon wieder einschlafen, es sei ihr jetzt ganz wohl. Aussehen tat sie freilich, als wenn sie Fieber hätte, aber es blieb ganz ruhig bei ihr, und da ich um zehn Uhr wieder hereinschaute, lag sie ganz still da, und die Haare fielen ihr halb übers Gesicht. Ich ging leise heraus und beeilte mich, so gut ich konnte, und wie ich wieder da war, guckte ich wieder leise herein, und da lag sie mit offenen Augen und lächelte so friedlich und sagte: ›Sind Sie da, Urselchen, mir ist ganz wohl, ich habe gar keine Schmerzen mehr.‹ Sie sah auch wirklich ganz gut aus, obgleich sie tiefe Schatten wie breite, schwarze Bänder unter den Augen hatte, und wie ich sie so betrachtete, kam sie mir sonderbar vor, und ich sagte: ›Gnädige Frau sehen so geheimnisvoll aus.‹ Meine Seele dachte aber nicht daran, daß das Geheimnis der Tod war, denn sonst hätte ich es ja nicht gesagt.«

»Was antwortete sie darauf?« fragte der Vorsitzende.

»Sie lächelte noch glücklicher als vorher und sagte: ›Das Geheimnis ist, daß unser Mingo mich besucht hat.‹ Mingo hieß unser Kind, das gestorben ist, und wir nannten es der Mingo, weil wir eigentlich bestimmt auf einen Buben gerechnet hatten.«

»Sie hatte also von ihrem verstorbenen Kinde geträumt«, sagte der Vorsitzende. »Erzählte sie Ihnen davon?«

»Natürlich«, sagte Ursula, »wenn sie von unserem Mingo geträumt hatte, sprach sie den ganzen Tag davon. Es war in einem offenen Wagen mit schönen schwarzen Pferden gekommen und hatte auf dem Rücksitz gesessen, so wie es sonst zwischen seinen Eltern saß. Ganz gerade und stolz hatte es dagesessen und ihr mit der kleinen Hand gewinkt, daß sie sich zu ihm setzen sollte, und plötzlich war es dann kein Wagen mehr gewesen, sondern eine Art Karussell oder Schaukel, und war nach einer wunderschönen Musik immer höher und höher geflogen. Es kam ihr so vor, als ob die Schaukel abgerissen wäre, und wie ihr bange wurde, sagte unser Mingo ganz ernsthaft: ›Halte dich nur an mir!‹ Darüber mußte sie lachen, daß das winzige Geschöpf seiner Mutter eine Stütze sein wollte, und wachte auf.

Zwischen dem Kochen ging ich immer wieder herein und schwatzte mit ihr von unserem Mingo, und dann brachte ich ihr das Mittagessen und setzte mich zu ihr und redete ihr zu, ordentlich zu essen, weil sie nämlich immer nur an allem nippte. ›Ach, Urselchen, lassen Sie mich nur, ich habe heute keinen Hunger‹, sagte sie, ›gewiß kommt unser Bettler, der wird froh sein, wenn er so viel bekommt.‹ Es war nämlich Donnerstag, und am Donnerstag kam meistens ein alter Mann, der sagte, in der ganzen Straße gäbe es keine so gute Köchin, wie ich wäre, und so hatten wir immer allerlei Spaß miteinander. Indem sie das sagte, läutete es auch schon an der Tür, es war aber nicht unser Bettler, sondern ein anderer, so wie ein Slowak sah er aus, die Mausefallen verkaufen. Ich hatte ihm kaum aufgemacht, da klingelte meine Gnädige so stark, daß es mir ordentlich durch die Knochen fuhr, und wie ich hinlief, sagte sie, ob es der Doktor sei. ›Bewahre‹, sagte ich, ›um die Zeit kommt der Doktor nicht, es ist ein Bettler.‹ – ›Dann ist es gut‹, sagte sie, ›ich wollte Ihnen nur sagen, daß Sie den Doktor heute nicht zu mir hereinlassen. Ich bin zu müde, um mich quälen zu lassen. Sie können ihm sagen, ich hätte eine schlechte Nacht gehabt und schliefe.‹«

»Ist Ihnen das nicht aufgefallen?« fragte der Vorsitzende.

»Nein«, sagte Ursula erstaunt, »es ist auch gar nichts Auffallendes daran. Ich mußte manchmal den Doktor unter irgendeinem Vorwand fortschicken, zum Beispiel, wenn ich ihr gerade etwas Spannendes vorlas.«

»Haben Sie ihr auch an diesem Tage vorgelesen?« fragte der Vorsitzende.

Ursula schüttelte traurig den Kopf. »Dazu ist es nicht mehr gekommen«, sagte sie. »Nachdem ich meine Küche gemacht hatte wie alle Tage, fragte ich sie, ob ich ihr vorlesen sollte oder ob sie möchte, daß Fräulein Schwertfeger käme. ›Nein‹, sagte sie, ›Gundel kommt gewiß von selbst, wenn sie Zeit hat, und ich glaube auch, daß ich wieder einschlafen werde. Da können Sie zur Bank gehen und die Miete bezahlen, weil Sie gestern nicht dazu gekommen sind‹ – es war ja der 2. Oktober –, ›und auf dem Rückweg könnten Sie mir eine Flasche griechischen Wein mitbringen, ich habe solche Lust darauf, und der Doktor hat mir Wein erlaubt.‹ Dann trug sie mir noch auf, dem Hausmeister zu sagen, daß er auf den Abend heizte, damit ich nicht im Kalten säße, weil der Wind so stark auf meinem Fenster stand. Er hätte nämlich eigentlich schon am Ersten heizen müssen, aber der Mensch war ja so faul, daß er kaum die trockenen Blätter im Vorgarten zusammenfegte, und in den Keller gehen und heizen, das paßte ihm erst recht nicht. Wenn man ihn mahnte, hatte er immer einen Vorwand, weswegen er nicht dazu gekommen wäre. Er möchte lieber Heizer in der Hölle sein als ein Hausmeister mit drei Häusern und achtzehn Parteien, von denen jede verschieden warm haben wollte; das war eine beliebte Redensart von ihm. Ich sagte also zu meiner Gnädigen, lieber wolle ich frieren, als daß ich mich mit dem Mehlwurm von Hausmeister einließe. Da lachte sie und sagte, nein, ich solle es ihm nur recht gefährlich ausmalen, wie kalt ich es hätte und wie böse sie auf ihn wäre. Und das waren die letzten Worte, die ich von ihr gehört habe.«

»Als Sie nach Hause kamen«, sagte der Vorsitzende, »war sie tot. Sie hatten die Tür abgeschlossen und fanden sie geschlossen wieder vor?«

»Abgeschlossen war die Tür nicht, und das kam daher, weil, kurz bevor ich kam, Fräulein Schwertfeger dagewesen war, und die dachte gewöhnlich nicht ans Abschließen.«

Fräulein Schwertfeger wurde gefragt, ob sie die Tür verschlossen gefunden habe, und erklärte, daß sie nicht darauf geachtet habe und deshalb nichts darüber sagen könne. Sie sei auf dem Wege in die Abendschule und in Eile gewesen, habe eben nur fragen wollen, wie es ginge. Da es totenstill in der Wohnung gewesen sei, habe sie angenommen, daß ihre Freundin schliefe, habe leise in das Schlafzimmer hineingeguckt und sei dann wieder gegangen. Die Tür, die vom Schlafzimmer ihrer Freundin ins Wohnzimmer geführt habe, sei wie immer weit offen gewesen. Sie habe beim Fortgehen die Wohnungstür keinesfalls abgeschlossen, denn sie habe das nie getan. Es sei etwa fünf Minuten vor sechs Uhr gewesen.

»Wieviel Uhr war es, als Sie nach Hause kamen?« wendete der Vorsitzende sich wieder an Ursula.

»Als ich um die Ecke von unserer Straße bog«, sagte Ursula, »hörte ich es von der Schloßkirche sechs Uhr schlagen, und von da sind es keine fünf Minuten mehr, besonders weil ich schnell ging. Ich hatte mich nämlich mit dem Warten auf der Bank, und weil ich nach dem Wein hatte laufen müssen, verspätet. Ich ging zuerst in die Küche und legte meine Pakete ab – ich hatte sonst noch einiges für den Haushalt eingekauft – und meinen Mantel. Dann ging ich leise ins Schlafzimmer; denn daß meine Gnädigste schliefe, nahm ich an, weil sie mich sonst sofort rief, sowie ich die Tür aufmachte. ›Sind Sie's, Urselchen?‹ rief sie mit ihrer weichen Stimme. Sie hatte so eine helle, unschuldige Stimme wie ein Kind. Durch die offene Tür sah ich, wie sie ganz still dalag, den Kopf auf der Seite und die Arme über der Decke, und kehrte gleich wieder um, froh, daß sie so gut schlief. Aber als ich im Wohnzimmer war, fiel mir auf einmal ein, daß sie sonst ganz anders lag, wenn sie schlief, nämlich nie flach auf dem Rücken, sondern etwas zur Seite geneigt, und die eine Hand hatte sie unter dem Gesicht. Wie mir das plötzlich einfiel, wurde mir so sonderbar zumute, daß mir wahrhaftig die Knie zitterten, und ich mußte mir ordentlich Mut machen, eh ich wieder hineinging. Und wie ich ihr leise, leise die Haare vom Gesicht nahm, sah ich, daß sie tot war, denn so still liegt ja kein lebendiger Mensch.«

»Trug sie die Haare immer offen?« erkundigte sich Dr. Zeunemann.

»O nein«, antwortete Ursula mit einem kurzen, geringschätzigen Lächeln. »Ich frisierte sie jeden Morgen sehr schön und ordentlich, da fehlte gar nichts, aber in der letzten Nacht hatte es sich aufgelöst bei dem Herumwälzen wegen der Schmerzen, und weil sie so müde war, hatte ich sie nicht damit plagen wollen.«

»Wir wissen durch den Arzt, den das Mädchen sofort rufen ließ«, sagte der Vorsitzende, »daß der Tod eine bis zwei Stunden vorher eingetreten war, und zwar, wie der Arzt damals annahm, durch Herzlähmung. Der Zustand der Kranken hatte durchaus mit einer solchen rechnen lassen, weshalb von keiner Seite irgendein Argwohn geschöpft wurde.«

»Zählen Sie, Fräulein Züger, noch einmal im Zusammenhang auf, was für Personen im Laufe des Tages in der Wohnung gewesen waren!«

»In der Wohnung war überhaupt niemand«, sagte Ursula mit nachdrücklicher Mißbilligung. »Angeläutet hatte zuerst in der Frühe der Kaminfeger, den ich wieder fortschickte. Er kam dann noch einmal wieder, der zudringliche Mensch, und da sagte ich ihm, in einem ordentlichen Haushalt ließe man um zehn Uhr keinen Herd mehr putzen, er solle sich das merken. Nachher war der Postbote da; der warf gewöhnlich die Briefe nur herein, aber diesmal läutete er an, weil er einen ungenügend frankierten Brief hatte.«

»Was für ein Brief war das?« fragte der Vorsitzende hastig.

»Der Brief war für mich«, antwortete Ursula schnippisch triumphierend, »von meiner Freundin, die eine Stelle in Frankreich angenommen hatte.«

»Und weiter?« fragte Dr. Zeunemann.

»Danach läutete noch einmal die Gemüsefrau, der ich aber nichts abnahm, weil der Spinat letztes Mal bitter gewesen war, und am Mittag der Slowak. Sonst war niemand da, und in der Wohnung ist überhaupt niemand gewesen.«

Der Staatsanwalt bat ums Wort.

»Ich möchte bemerken, daß die Wohnung doch nicht so festungsmäßig verwahrt war, wie das gute Mädchen es darstellen möchte. Sie hat selbst erzählt, die sie, als sie dem sogenannten Slowaken die Tür aufgemacht hatte, von Frau Swieter durch die Klingel abgerufen wurde. Er hätte also die Gelegenheit benutzen und eindringen können.«

Ursula drehte sich ganz nach dem großen, mageren Angreifer und stemmte den Arm in die Seite, während sie ihn mit sprühenden Augen von oben bis unten maß.

»Hätte er das?« fragte sie höhnend. »Ja, wenn ich ihm nicht die Tür vor der Nase zugeworfen hätte. Ich schlug die Tür fest zu, ehe ich zu meiner Gnädigen hineinlief, und sie war auch zu, als ich wiederkam. Den Slowaken hörte ich noch auf der untersten Treppe. Ich hatte ihm nämlich einen Teller Suppe gegeben und wollte den leeren Teller wieder hereinnehmen, aber er hatte sie nicht angerührt. Um Suppe ist es diesen Vagabunden ja gewöhnlich gar nicht zu tun. Übrigens war es ein ganz harmloser Mensch und sah auch gar nicht so zerrissen und schmutzig aus wie die richtigen Strolche.«

»Glauben Sie bestimmt«, fragte der Vorsitzende, »daß Sie den Angeklagten in irgendeiner Verkleidung erkannt hätten?«

»Unseren Herrn Doktor?« fragte sie endlich mit immer größer werdenden Augen. »Meinen Sie, ob unser Herr Doktor der Slowak gewesen sein könnte? Ja, wissen Sie, Herr Präsident, da könnten Sie mich ebensogut fragen, ob Sie unser Herr Doktor sein könnten! Unser Herr Doktor! Und der hätte nicht mit den Augen gezwinkert und gesagt: ›Ursula, kennen Sie mich nicht, dumme Person?‹ Überhaupt! Ja, so etwas meinen Sie, Herr Präsident, weil sie die Verhältnisse nicht kennen!«

Dr. Zeunemann schnitt die immer schneller strömende Rede durch eine verzweifelte Handbewegung und einen Seufzer ab. »Bleiben wir bei der Sache«, sagte er. »Sie halten es für unmöglich, daß jemand in die Wohnung eindringen konnte?«

»Ausgeschlossen, einfach ausgeschlossen«, antwortete Ursula.

»Außer, wenn Frau Swieter selbst wollte«, sagte Dr. Zeunemann.

»Ja, die wird gerade Räuber und Mörder eingelassen haben«, sagte Ursula mit zorniger Verachtung.

»Offensichtliche Räuber und Mörder nicht«, rief der Staatsanwalt dazwischen, »vielleicht aber ihren einstigen Gatten, für den sie leider noch immer, wie das Testament beweist, ein liebevolles Interesse hatte.«

»Und sie wird gerade nach siebzehn Jahren«, sagte Ursula fast schreiend, »am Läuten erkannt haben, daß er es war.«

»Wenn sie ihn erwartete, mein gutes Kind, war das nicht nötig«, sagte der Staatsanwalt mit dem beißenden Tone eines schadenfrohen Teufels.

Dr. Zeunemann machte eine warnende Handbewegung gegen Ursula, die aussah, als ob sie ihrem Gegner an die Kehle springen wollte. »Ich glaube«, sagte er, die Stimme erhebend, »wir fangen an, uns im Kreise zu drehen. Der Herr Staatsanwalt geht davon aus, daß eine Verständigung irgendwelcher Art zwischen den geschiedenen Eheleuten bestanden haben könnte, was aber noch ganz unbewiesen ist, ja wovon eher die Unmöglichkeit nachgewiesen ist. Nach meiner Meinung hat die Zeugin nichts Sachdienliches mehr vorzubringen, und wir könnten zur Vernehmung des Hausmeisters übergehen, wenn die Herren Geschworenen einverstanden sind.«

Den Kopf steif im Nacken und ein verächtliches Lächeln auf den Lippen, das dem angekündigten Hausmeister galt, begab sich Ursula auf ihren Platz neben Fräulein Schwertfeger.

Der Erwartete glich insofern einem Mehlwurm durchaus nicht, als er rot im Gesicht war mit einem bläulichen Anflug über der Nase. Er schlenderte in der bequemen Haltung eines Menschen herein, der dem Leben zu sehr als Liebhaber gegenübersteht, um jemals Eile zu haben, sah sich gemächlich um und unterzog zuletzt den langen grünen Tisch, vor dem er zu stehen hatte, samt allen darauf befindlichen Gegenständen einer beiläufigen Untersuchung. Der Vorsitzende vereidigte ihn und forderte ihn auf, die an ihn gerichteten Fragen nicht nur der Wahrheit gemäß, sondern auch ohne Zweideutigkeit und Weitschweifigkeit zu beantworten.

»I warum nicht«, sagte der Hausmeister, »da liegt ja gar nichts daran.«

»Wo pflegen Sie sich tagsüber aufzuhalten?« lautete die erste Frage.

»Ja«, sagte der Hausmeister lachend, »da läßt sich freilich nicht so eins, zwei, drei darauf antworten. Das ist nämlich je nachdem, was ich gerade zu tun habe. Aber wenn ich sage, daß ich entweder in einem von meinen drei Häusern bin, weil in einer Wohnung etwas zu richten ist oder weil eine Partei mit mir dies oder das reden möchte, oder dann im Keller bei der Heizung oder im Garten, wo ich so auf und ab spaziere, so wird das schon ungefähr stimmen. In meiner eigenen Wohnung bin ich am wenigsten und habe da ja auch nichts zu tun, denn für die Familie interessiere ich mich nicht so wie für den Beruf.«

»Sind die Häuser untertags abgeschlossen?« fragte der Vorsitzende.

»Gott bewahre«, sagte der Hausmeister, »da kann jedermann aus und ein gehen, wie er will. Nichts Unrechtes kommt ja bei uns sowieso nicht vor, und für alle Fälle ist vor jeder Wohnung eine besondere Wohnungstür. Nein, vom Abschließen ist bei uns keine Rede. Des Morgens um sechs schließe ich alle Türen auf, vielmehr meine Frau tut das, und abends um neun Uhr schließe ich zu, und bei der Methode haben wir uns immer gut verstanden.«

»Aber die Keller sind doch abgeschlossen?« fragte Dr. Zeunemann.

»Ja, sehen Sie, Herr Präsident«, antwortete der Hausmeister, »das läßt sich wieder nicht so eins, zwei, drei beantworten. Bei Nacht sollen sie wohl eigentlich geschlossen sein, denn am Tage ginge das ja gar nicht an, schon wegen dem Heizen und wo die Fräuleins so oft Kohlen und Kartoffeln und dergleichen heraufholen. Das würde ja ein ewiges Auf- und Zuschließen. Es geht sowieso den ganzen Tag: ›Herr Hausmeister, ach, helfen Sie mir doch!‹ Ich sollte immer an hundert Orten zugleich sein. Nein, es ist für alle Teile am besten, wenn die Keller ein für allemal offen sind, und daran hat auch noch niemand etwas auszusetzen gehabt.«

»Sie sollen aber selbst einmal«, erwiderte der Vorsitzende, »einen Mann ertappt haben, der sich im Keller eingeschlichen hatte.«

»So«, sagte der Hausmeister nachdenkend. »Ach so, das hat wohl die Urschel erzählt?« rief er nach einer Pause belustigt aus. »Ja, vor dem brauchte niemand Angst zu haben, der sah grün im Gesicht aus, als ob er die ganze Nacht unreife Äpfel gegessen hätte. Das war so ein Obdachloser, oder es kann ihn auch eins von den Mädels versteckt haben, denn die Jungfern haben doch alle ihren Liebhaber, wenn sie sich auch noch so zimperlich anstellen.«

Dr. Zeunemann machte ein ernstes Gesicht und fragte streng:

»Entsinnen Sie sich, wer am 2. Oktober des vergangenen Jahres aus und ein gegangen ist?«

»Du lieber Himmel«, seufzte der Hausmeister, »wie soll ich das behalten, was bei uns täglich ein und aus geht! Stellen Sie sich vor, Herr Präsident, drei Häuser mit achtzehn Parteien, wobei ich mich noch gar nicht mal gerechnet habe; in dem einen sind vier Partien, in den beiden anderen je sieben. Und wie geht es vollends Anfang Oktober zu, wo die eine Partei auszieht und die andere einzieht, und die Handwerker, die das mit sich bringt!«

»Gerade weil es besondere Tage sind«, beharrte der Präsident, »haben Sie sie doch vielleicht im Gedächtnis behalten. Auch der plötzliche Tod der Frau Swieter, die das am meisten zurückliegende Haus bewohnte, hat den Tag unter den anderen hervorgehoben. Als später der Ihnen bekannte Verdacht entstand, haben Sie doch sicher in Ihrem Gedächtnis nachgeforscht, wen Sie an jenem Tag aus und ein gehen gesehen haben.«

»Ich will tun, was ich kann, um Ihnen gefällig zu sein, Herr Präsident«, sagte der Hausmeister. »Der Kaminkehrer, der in der Frühe da war, wird Sie ja wohl nicht interessieren, und der Postbote ebensowenig, und die Handwerker ging das Haus von der Frau Swieter nichts an, weil nämlich in dem Hause kein Umzug stattgefunden hatte. An Bettlern hat es auch nicht gefehlt, und was das betrifft, so war die Frau Swieter selbst schuld daran. Die anderen Parteien beklagten sich über sie, daß sie die Bettler herzöge, weil sie ihnen immer etwas gäbe. Übrigens, mir hat sie auch immer jede Kleinigkeit ordentlich bezahlt, sie gehörte nicht zu denen, die meinen, unsereiner wäre dazu da, allen alles umsonst zu machen. Also konnte sie es mit den Bettlern schließlich auch halten, wie sie wollte. Sie sind ja auch einmal da und müssen in Gottes Namen zu ihrer Sache kommen.«

»Denken Sie gut nach«, sagte der Vorsitzende, »ob Sie zwischen vier und sechs Uhr nachmittags einen Bettler gesehen haben, der Ihnen unbekannt war, der Ihnen auffiel!«

»Zwischen vier und sechs Uhr?« sagte der Hausmeister tiefsinnig. »Da schickte ich gerade meinen Jungen um eine Maß Bier in die Wirtschaft an der Ecke und wartete an der Gartentür, bis er wiederkam, und dann stellte ich die Maß auf die Treppe, um ab und zu einen Schluck zu nehmen. Indem kam gerade die Frau Hofrat im Parterre vom zweiten Hause und schimpfte, was sie wußte, daß ich nicht geheizt hatte, und ich sagte: ›Aber Frau Hofrat, bei dem schönen Wetter! Solches Wetter haben wir den ganzen Sommer über nicht gehabt, und das bißchen Wind wird Ihnen doch nichts machen, es ist ja Südwind‹, und so weiter, bis sie es denn wahrscheinlich einsah und wieder fortging. Ja, und dann kam einer, der hatte wohl etwas gebracht, einen Hut oder Mantille oder dergleichen, denn er hatte eine Schachtel, wahrscheinlich für die Pension, da war damals so eine Modesüchtige; und dann kam der Ulkige. Der hatte mich erst gar nicht gesehen und wollte an mir vorbeilaufen, als ob ich ein Laternenpfahl wäre, und ich wich ihm absichtlich nicht aus, weil ich dachte, ich wollte doch sehen, ob er gegen mich anrennte. Da blieb er plötzlich dicht vor mir stehen und sagte: ›Haben Sie Feuer, Euer Gnaden?‹ und hielt mir eine Zigarette hin. Ich mußte lachen und zog meine Schwedischen heraus und machte ihm Feuer, und zum Dank nickte er ein bißchen und faßte an die Mütze. Ein Bettler war das nicht, er hatte allerlei zu verkaufen, Löffel und Quirle, die trug er an einem Strick an der Hand. Wie er eben aus der Türe gegangen war, warf er die Zigarette in das Fliedergebüsch an der Pforte, ob sie nun nicht brannte oder sonst nicht schmeckte, das weiß ich ja nicht, und ich wollte sie erst auflesen, aber dann dachte ich: Ach, laß sie liegen, eine feine wird es doch nicht sein.«

»Können Sie eine genaue, zuverlässige Beschreibung dieses Mannes geben?« fragte der Vorsitzende.

»Nein, Herr Präsident«, sagte der Hausmeister, indem er lächelnd den Kopf schüttelte, als wollte er sagen, um in die Falle zu gehen, dazu wäre er doch zu schlau. »So gern ich Ihnen den Gefallen täte, damit will ich nichts zu tun haben. Ich glaube, daß er ziemlich lange, schwarze Haare hatte und daß er sozusagen träumerisch dahergeschlendert kam. Und wenn Sie ihn da vor mich hinstellen würden, würde ich ihn ja auch wohl wiedererkennen. Aber ob nun sein Kittel grau oder grün oder braun war und was er für Stiefel anhatte und ob er Löcher in den Strümpfen hatte und was dergleichen mehr ist, das könnte ich wahrhaftig nicht sagen.«

»Haben Sie gar nicht darüber nachgedacht, was für ein Mann das sein könnte?« fragte der Vorsitzende.

»Na, das sah ich ja, Herr Präsident, daß er Löffel verkaufte«, sagte der Hausmeister, »dabei war nichts nachzudenken. Das nähme meine Zeit doch viel zu sehr in Anspruch, wenn ich mir über jeden Hausierer Gedanken machen wollte. Sie müssen sich vorstellen, was für Leute bei uns aus und ein gehen! Da ist zum Beispiel im dritten Haus im zweiten Stock der Herr Rübsamen, Komponist und Musikschriftsteller, ein schrecklich nervöser Mensch, und wenn ich nicht so viel Geduld mit ihm hätte, wäre er längst ausgezogen. Sie müssen nur sehen, was für Leute zu dem kommen, da stößt man sich nachher an nichts mehr. Herren und Damen kommen, die ihm was vorsingen oder vorspielen, die reine Zigeunerbande, und nachher sind es Künstler und feine Leute gewesen. An dem Tag ist übrigens auch der Klavierstimmer bei ihm gewesen, den hat er weggeschickt, weil er von der Ursula, dem Mädel, gewußt hat, daß ihre Gnädige eine schlechte Nacht gehabt hatte und schlafen sollte. Gutmütig ist er ja, der Herr Rübsamen. Der Klavierstimmer ist aber der mit der Zigarette nicht gewesen. Denn der hat ein rotes Gesicht und blonde Haare, den kenne ich, weil er alle Vierteljahre zum Herrn Rübsamen kommt.«

»Der Mann ist also aus dem dritten Hause gekommen?« fragte der Präsident.

»Aus dem zweiten könnte er auch gekommen sein, wo die Pension drin ist«, sagte der Hausmeister, »ich sah ihn erst, als er an das vordere herankam, wo ich stand.«

»Ich bitte den Hausmeister zu fragen, ob der Angeklagte dem Mann mit der Zigarette ähnlich sieht«, sagte der Staatsanwalt, indem er mit imperatorischer Gebärde den Arm ausstreckte.

»Wollen Sie den Angeklagten daraufhin ansehen!« forderte Dr. Zeunemann den Hausmeister auf.

Der Hausmeister drehte sich langsam um und betrachtete Deruga, den die Untersuchung zu belustigen schien, aufmerksam und erstaunt.

»Da bin ich überfragt, Herr Präsident«, sagte er endlich. »Ich möchte schwören, daß ich den Herrn da noch nie gesehen habe.«

»Sie müssen sich ihn mit schwarzer Perücke und mit falschem Bart vorstellen«, sagte der Vorsitzende.

»Ausgeschlossen«, rief der Hausmeister mit ungewöhnlicher Entschiedenheit. »Wenn ich mit solchen Vorstellungen anfange, kenn ich schließlich keinen mehr vom anderen, und hernach soll ich für das aufkommen, was ich mir vorgestellt habe und habe unversehens einen Meineid auf dem Halse. Denn sehen Sie, Herr Präsident, wenn man anfängt nachzudenken, wie einer ausgesehen hat, und ihn mit dem und jenem vergleicht, so hält man zuletzt alles für möglich, und am Ende ist es doch nur die pure Einbildung gewesen.«

»Sie haben also«, sagte der Vorsitzende, »kein genaues Erinnerungsbild von dem Manne, der Sie um Feuer bat. Besinnen Sie sich noch auf andere Personen, die am 2. Oktober zwischen vier und sechs Uhr in Ihren Häusern verkehrten?«

»Ja«, antwortete der Hausmeister. »Ich hatte eben meinem Buben aufgetragen, den Maßkrug wieder in die Wirtschaft zu tragen, und sah ihm nach, wie er über die Straße ging, da rief mich einer von rückwärts an und fragte nach der nächsten Haltestelle für Autodroschken. Der war so in Eile, daß er kaum abwartete, bis ich ihm ordentlich Bescheid gegeben hatte, und gab mir einen Puff in die Seite, als er an mir vorbeilief. Gleich darauf rief mich meine Frau, weil das Leitungsrohr in der Pension im zweiten Hause wieder einmal verstopft war – da stecken sie nämlich ihre Knochen und ausgekämmten Haare hinein, als ob der Ausguß die Drecktonne wäre – na, und als ich da nachgesehen hatte und wieder in den Garten kam, sah ich gerade den Doktor ins dritte Haus hineingehen wegen der Frau Swieter, die unterdessen gestorben war.«

»Was für einen Eindruck machte der Herr auf Sie«, fragte der Vorsitzende, »der in so großer Eile war?«

»Das weiß ich noch«, sagte der Hausmeister, »daß er einen langen, breiten Mantel trug. Denn ich dachte bei mir, in der jetzigen Mode tragen die Weiber Männerröcke und die Männer Weiberzeug. Von hinten hat er wie ein eingemummtes Frauenzimmer ausgesehen. Sonst ist es aber ein feiner Herr gewesen.«

Der Staatsanwalt bat, noch einmal auf den Mann mit der Zigarette zurückkommen zu dürfen. Er wünschte zu wissen, ob er reines Deutsch oder wie ein Ausländer gesprochen habe.

»Ja, wissen Sie«, sagte der Hausmeister, »geradeso wie unsereiner reden ja die wenigsten. Ich habe schon oft gedacht, was redet der für ein Kauderwelsch daher? Und nachher war es doch ein Deutscher und nichts weiter. ›Haben Sie Feuer, Euer Gnaden?‹« Er wiederholte sich den Satz, wie um durch die Worte an Klang und Tonfall erinnert zu werden. »Eigen hat es ja geklungen, aber ganz lieb, ganz spaßig, und gutes Deutsch ist es doch auch gewesen. Der mit dem Auto dagegen, der hat so geschnauft, daß ich ihn kaum verstehen konnte, und mich hat er, glaub ich, auch nicht gut verstanden, wenigstens lief er zuerst nach der falschen Seite, obwohl ich es ihm klar auseinandergesetzt hatte. Es kann aber natürlich auch wegen der großen Eile gewesen sein.«

»Dieser Herr«, sagte der Vorsitzende, »ist wahrscheinlich derselbe, der in der Pension nach Zimmern fragte und abschlägig beschieden werden mußte. Es ist keine Spur von ihm aufzutreiben gewesen, und wir nehmen an, daß er sich nur vorübergehend hier aufgehalten hat.«

 

Beim Schluß der Sitzung waren alle Beteiligten mit Ausnahme von Deruga abgespannt, gereizt und aufgeregt. Herrn von Wydenbrucks Gedanken weilten bei dem Traume der verstorbenen Frau, den Ursula geschildert hatte, und er sprach sich darüber gegen Dr. Bernburger aus, als er neben ihm durch die breiten Gänge des Justizgebäudes ging.

»Das Kind«, sagte er, »das sie besuchte, war natürlich ein Bild für den Vater, das Schaukeln deutet auf sinnliche Regungen. Es ist zweifellos, daß sie ihn erwartete.«

Dr. Bernburger, der sehr blaß aussah, hatte sich eben eine Zigarre angezündet und begann sich etwas zu erholen.

»Das ist wahr«, sagte er hastig. »Die Schlüsse von zwei entgegengesetzten Richtungen treffen sich wie die Bohrer in einem Tunnel. Der hatte sie um Geld gebeten, das hatte ihre Erinnerungen belebt. Sie erwartete ihn in einer verliebten oder sentimentalen Stimmung. Er kam in der Verkleidung eines Hausierers, der hölzerne Löffel verkauft. Entweder ließ ihn die ins Geheimnis gezogene Ursula ein, er wußte ihre Aufmerksamkeit zu hintergehen, oder Frau Swieter selbst öffnete ihm. Wäre mir das Ergebnis der Voruntersuchung bekannt und hätte ich Fragen stellen können, so hätte ich den Tatbestand auf der Stelle herausgebracht. Ich lag auf der Folter, während dieser schwerfällige Apparat arbeitete.« Dr. Bernburger trocknete seine Hand mit dem Taschentuch ab, wobei seine dünnen Finger zitterten.

»Sie glauben also«, fragte Dr. von Wydenbruck, »daß der Wunsch des Wiedersehens von Deruga ausging und seinen Grund in der Geldsorge hatte?«

»Das halte ich für wahrscheinlich«, sagte Dr. Bernburger. »Jedenfalls hat der Slowak sie getötet, und der Slowak war Deruga.«

»Meiner Ansicht nach«, sagte Dr. von Wydenbruck, »lag die magnetische Anziehung zugrunde, die Hysterische verhängnisvoll zueinander zieht. Wie sich auch der Wunsch eingekleidet haben mag, dies muß der Kern gewesen sein.«

»Ob es möglich wäre, daß die weggeworfene Zigarette noch in dem Gebüsch läge?« sagte Dr. Bernburger, seine Gedanken verfolgend. »Aber wieviel Schnee und Regen ist schon darauf gefallen.«

»Warum könnte es nicht auch der mit dem Auto gewesen sein?« wandte Dr. von Wydenbruck ein.

»Er zeigte unbefangen, daß er es eilig hatte. Der andere verlangte Feuer, um unbefangen zu erscheinen, und warf die Zigarette gleich darauf fort, weil er gar nicht rauchen wollte. Übrigens haben Raucher meistens auch Zündhölzer bei sich. Außerdem fühlte ich es, sowie das Mädchen den Slowaken anführte. Ich sah es wie mit dem Zweiten Gesicht.«

Herr von Wydenbruck betrachtete seinen Freund mit einem neuen Interesse von der Seite. »Das wäre allerdings ausschlaggebend«, sagte er und erkundigte sich, ob sein Freund schon öfter solche Erscheinungen an sich beobachtet hätte.

In demselben Gang, den die beiden eben durchschritten, stand Deruga mit dem Justizrat Fein in einer Fensternische im Gespräch, beiläufig die Vorübergehenden beobachtend.

»Wenn ich der Präsident wäre«, sagte Deruga, »würde ich einen geladenen Revolver mit in die Sitzung nehmen und den Zeugen vors Gesicht halten, und wenn sie sich dann noch nicht entschlössen, vernünftig zu antworten, schösse ich sie nieder. Der Mann hat eine unbegreifliche Geduld.«

In diesem Augenblick sah er Dr. Bernburger mit seinem Begleiter herankommen, nahm rasch eine Zigarette aus seinem Etui, trat ein paar Schritte vor und sagte zu Dr. Bernburger: »Haben Sie Feuer, Euer Gnaden?« Dann, nachdem er seine Zigarette angezündet hatte, stellte er sich wieder neben den Justizrat, indem er ihm aus ernstem Gesicht zublinzelte.

Dr. Bernburger war vor Erregung bleich geworden, während er Deruga schweigend die brennende Zigarette hinhielt. Es ist klar, dachte er, daß er sich über mich lustig macht. Über wieviel Scharfblick, Geistesgegenwart, Frechheit und Kaltblütigkeit verfügt dieser Mensch; es ist ihm alles zuzutrauen. Allerdings, wenn er nicht schuldig wäre, zeugte sein Benehmen nur von der Sicherheit des Unbeteiligten. Aber die seine war die Sicherheit des gewiegten zynischen Täters; es war die Herausforderung eines geistvollen Verbrechers, der sich für unüberführbar hält.

Dr. Bernburger war zu erregt und zu vertieft, um seine Gedanken laut zu äußern, er ging hastig seinem Freund um einige Schritte voraus.

»Er hat Ihre Gedanken erraten«, sagte dieser. »Das ist wieder ein Symptom von Hysterie, ebenso wie die Kaltblütigkeit. Man wird doch zuletzt einsehen müssen, daß es sich um etwas Krankhaftes, um eine Art Lustmord handelt.«

»Aber die Frau, die er tötete, war zweiundfünfzig Jahre alt«, sagte Dr. Bernburger ärgerlich.

»Das ist eben die Perversität«, sagte Dr. von Wydenbruck. »Vielleicht verschmolz sie ihm auch dadurch mit dem Erinnerungsbild seiner Mutter, wodurch der aus Leidenschaft und Vernichtungslust zusammengesetzte Hang verhängnisvoll verstärkt wurde.«

Unterdessen machte der Justizrat seinem Klienten Vorwürfe. »Sie sind wirklich ein Topf voller Mäuse«, sagte er. »Ich müßte Ihnen ein Schloß vor den Mund hängen. Was war nun das wieder für eine Eruption?«

»Ach«, sagte Deruga, »warum sollte ich den beiden jungen Haifischen nicht einen Knochen zwischen die schiefen Zähne werfen? Sahen Sie nicht, wie ihm die Augen aus dem Kopfe quollen vor Gier? Es tut mir leid, daß ich nicht zusehen kann, wie sie ihn abnagen.«

»Mit Haifischen ist nicht zu spaßen«, sagte der Justizrat, »und obwohl Sie ein nichtsnutziger Italiener sind, möchte ich doch nicht gerade, daß er Sie zwischen die Zähne bekäme.«


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