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Es dämmerte schon, als Mingo ins Hotel kam, wo ihre Mutter am Kamin saß und in einem Buch blätterte.
»Wo warst du denn?« fragte sie mißbilligend, indem sie das Buch in den Schoß legte. »Ich habe mich deinetwegen beunruhigt.«
»Aber Mama«, sagte Mingo erstaunt, »das habe ich nicht vorausgesetzt. Wenn wir getrennt sind, hast du doch keine Ahnung, wann ich nach Hause komme, und sorgst dich nie um mich.«
»Das ist etwas anderes, Mingo«, antwortete die Baronin gereizt. »Ich wäre nicht mehr am Leben, wollte ich mir Gedanken um dich machen, wenn du anderswo bist. Hier mußt du dich nach mir und den herrschenden Sitten richten. Ein junges Mädchen aus guter Familie darf in der Dunkelheit nicht allein durch die Straßen laufen.«
»Daran dachte ich nicht«, entschuldigte sich Mingo kleinlaut, »weil ich es so gewöhnt bin. Ich bin so glücklich, Mama.«
»Glücklich? Warum?« fragte die Baronin. »Weil wir nach Paris reisen oder weil Peter Hase uns begleitet? Oder weil du studieren darfst?«
»Ach nein, Mama«, antwortete Mingo, »weil der schreckliche Prozeß nun bald zu Ende ist und weil er freigesprochen wird. Er wird doch freigesprochen?«
»Ich glaube bestimmt«, sagte die Baronin.
Mingo, die sich inzwischen auf ein Kissen zu Füßen ihrer Mama gekauert hatte, rief aus: »Aber seine Unschuld ist doch sonnenklar!«
»Nach den Buchstaben des Gesetzes ist er doch nicht unschuldig«, sagte die Baronin.
Mingos Gesicht drückte ängstliche Zweifel aus, allmählich verzog es sich, so daß es kläglich und hilflos wie das eines kleinen Kindes aussah, und in Tränen ausbrechend umklammerte sie mit beiden Armen die Knie ihrer Mutter. »O Mama, das ertrüg ich nicht, das ertrüg ich nicht«, schluchzte sie.
Die Baronin schob sie sacht mit den Händen zurück und fragte befremdet, fast tadelnd: »Was ist dir? Was hast du, Kind?« während sie sich eines stechenden Schmerzes zu erwehren suchte, der ihr Herz zusammenzog.
»Stoß mich doch nicht fort, Mama«, schluchzte Mingo, ihre Mutter fest umklammernd, »ich kann ja nichts dafür, daß es so ist! Hilf mir doch, ich habe ja nur dich! Ich kann nicht ohne ihn leben.«
Die Baronin beugte sich herab, zog die kleine Gestalt auf ihren Schoß und preßte das tränenüberströmte Gesicht an ihres. »Meine kleine Mingo«, sagte sie zärtlich, »so sehr liebst du ihn?«
Noch schluchzend drängte sich das Mädchen dicht an ihre Mutter. »Ich wollte gerne sterben, wenn ich ihn damit glücklich machen könnte«, sagte sie leise.
Die Baronin streichelte sie und drückte sie fest an sich. »Meine liebe Kleine«, sagt sie besänftigend, »es ist natürlich, daß er in dieser Lage einen starken Eindruck auf dein liebevolles, phantastisches Gemüt gemacht hat. Er übt einen großen Zauber aus, das ist wahr. Aber glaube mir, das ist nicht der Mann, der dich beglücken könnte, ganz abgesehen davon, daß sein Alter und seine Stellung im Leben den Gedanken an eine Heirat mit dir von vornherein ausschließen.«
»Seine Stellung im Leben«, rief Mingo, sich entrüstet aufrichtend. »O Mama, und wenn er Straßenkehrer wäre, er stände hoch, hoch über mir und allen Männern, die ich kenne. O Mama, ich kann es nicht ertragen, daß du so kleinlich denkst oder sprichst. Und was frage ich nach seinem Alter? Will ich denn etwas von ihm? Wenn meine Jugend sein Herz einen Augenblick erfeuen könnte, wie man sich an einer Blume erfreut, so wäre ich glücklich, sie ihm hingeben zu dürfen.« Plötzlich brach sie ab, da sie sah, daß die schönen grauen, schwarzumsäumten Augen ihrer Mutter feucht waren. Sie nahm das kleine, spitzenbesetzte Taschentuch, das die Baronin in der Hand hielt, trocknete damit behutsam ihr Gesicht und fragte nachdenklich: »Sind das meine Tränen?«
»Wessen wohl sonst?« fragte die Baronin lächelnd.
»Aber du hast ja auch Tränen in den Augen«, fuhr Mingo fort. »Ach, Mama, was für ein böses Kind bin ich, dir solchen Kummer zu machen! Aber ich kann ja nichts dafür, es ist ganz gewiß stärker als ich! Alles, alles, was ich habe, wollte ich geben, wenn er mich nur ein bißchen liebhaben könnte! Wenn er mich wenigstens um sich leiden möchte! Ich weiß nicht, was aus mir werden soll ohne ihn.«
»Meine süße kleine Mingo«, begann die Baronin.
»Sage: mein süßer kleiner Mingo«, bat Mingo.
»Mein süßer kleiner Mingo«, wiederholt die Baronin, »kühle vor allen Dingen dein Gesicht, denn du möchtest gewiß nicht gern, daß dein Vater, der jeden Augenblick kommen kann, dich so überraschte. Ich fürchte, er würde wenig Verständnis für deine Gefühle haben. Und dann laß uns zunächst ruhig das Urteil erwarten! Sollte er nicht freigesprochen werden, so kann er weitergehen; wir brauchen also selbst im schlimmsten Falle die Hoffnung nicht aufgeben. Was dann wird, hängt nicht von uns ab. Dich zu lieben, können wir ihn nicht zwingen, aber ich glaube, daß er schon um seiner verstorbenen Tochter willen Sympathie für dich hat.«
»Glaubst du?« fragte Mingo, während sie sich das erhitzte Gesicht mit einem nassen Tuche betupfen ließ. Die ungewohnte mütterliche Zärtlichkeit hatte etwas lieblich Einwiegendes, und sie hielt unwillkürlich die Mutter fest umarmt, als wolle sie wohltätige Anwandlung verhindern, einem Traume gleich zu verschwinden.
»Du scheinst plötzlich wieder ein kleines Kind geworden zu sein«, sagte die Baronin, »und zu denken wie kleine Kinder: Mama wird mir Sonne und Mond geben, wenn ich will.«
Mingo sah die Baronin mit großen, wundergläubigen Augen an und nickte. »Das kommt, weil du so gut zu mir bist«, sagte sie.
Erst gegen Morgen schlief die Baronin ein und erwachte mit müdem, unfrohem Herzen. Mingos zärtliche Begrüßung, kleine Aufmerksamkeiten und verstohlene Blicke ermunterten sie doch allmählich.
»Nun, Mingo«, sagte sie, »ich nehme dich heute nur mit in die Sitzung, wenn du brav sein willst. Auftritte sind mir verhaßt, besonders in der Öffentlichkeit.«
Mingo versprach es und wurde auf keine zu schwere Probe gestellt. Denn die Reden waren kurz, und die Geschworenen lehnten nach kaum halbstündiger Beratung die Schuldfrage ab.
In der allgemeinen Bewegung, die entstand, erschien nur Deruga gleichgültig; einzig als er, nachdem die Baronin ihn beglückwünscht hatte, Mingos Augen voll Sorge und Liebe auf sich gerichtet sah, wurden seine Mienen weich. »Kleiner Mingo«, sagte er, indem er ihr zunickte, »sind Sie nun zufrieden? Sehen Sie, die Menschen sind gar nicht so böse!«
Im ersten Augenblick überwältigte sie das Glück dieser Anrede; aber als sie neben ihrer Mutter im Wagen saß und alles Erlebte wieder durchträumte, schien es, als habe der bewunderte Mann sie doch recht karg abgespeist. Mit wem mochte er seinen Triumph jetzt so recht ausgiebig feiern? War er überhaupt froh? Es hatte soviel Widerwillen und Verachtung in dem Gesicht gelegen, das doch so innig lächeln konnte. Ob er glücklicher sein würde, wenn er wüßte, wie ganz und gar sie ihm ergeben war?
»Mingo«, sagte die Baronin am Nachmittag, als sie allein miteinander waren, »ich werde jetzt Deruga aufsuchen, um zu erfahren, welches seine Absichten für die nächste Zukunft sind, und ihn bitten, daß er mich als seine Verwandte betrachtet. Dich nehme ich nicht mit, weil du sehr wenig imstande bist, deine Empfindungen zu beherrschen, und es nicht schicklich ist, wie du auch finden wirst, wenn ein Mädchen sich einem Manne anträgt.«
Mingo war nicht der Meinung. Sich diesem einzigen Manne gegenüber hinter Schicklichkeitsregeln zu verschanzen schien ihr unwürdig, das einzige Natürliche und Richtige vielmehr, ihm zu sagen: Ich bin dein, nimm mich hin. Da sie aber wußte, daß sie ihre Mutter für diese Auffassung nicht würde gewinnen können, und da sie sich außerdem vor einer Begegnung mit Deruga ebensosehr fürchtete, wie sie sie herbeisehnte, erklärte sie sich dankbar einverstanden.
»Aber ich darf ihn doch grüßen lassen«, fragte sie. Die Baronin lächelte und küßte sie. »Geh inzwischen mit deinem Vater spazieren«, sagte sie, »daß dir die Zeit nicht lang wird.«
Als die Baronin bei Deruga eingetreten war, der an einem Tische saß und schrieb, blieb sie einen Augenblick stehen und sagte dann: »Sie sehen nicht aus wie ein Sieger. Mir entfällt der Mut, Ihnen Glück zu wünschen.«
»Sie irren sich«, antwortete Deruga, »ich habe soeben einen Entschluß gefaßt, um dessentwillen ich zu beglückwünschen bin: Ich will den Schauplatz, der mir nicht gefällt, verlassen.«
»Das habe ich vorausgesetzt«, sagte die Baronin. »Hätten Sie nicht Lust, uns nach Paris zu begleiten?«
»Nein, ich will weiter, viel weiter fort«, sagte Deruga.
»Nun, das ist auch gut«, meinte die Baronin. »In der Ferne werden Sie die häßlichen Eindrücke, die Sie hier gehabt haben, vergessen, und wenn Sie wissen, daß Sie in dem trüben Wulst einen kostbaren Schatz gewonnen haben, nämlich ein reines, warmes, treues Herz, so wird Sie das allmählich zurückziehen.«
»Ich bin nicht so verwegen, mir einzubilden, ich hätte Ihr Herz gewonnen, Frau Baronin«, sagte Deruga, gutmütig, spottend, »auf das Ihre Schilderung auch wohl nicht paßt.«
»Nein, nicht so ganz«, sagte die Baronin, indem sie mit wehmütiger Koketterie den Kopf wiegte, »immerhin dachte ich an eines, das dem meinigen nah, sehr nahe verwandt ist.«
»Kleiner Mingo«, sagte Deruga träumerisch, und dann rascher, zu seinem Gast gewendet: »Ach, glauben Sie denn, Baronin, ich könnte es ertragen, ein Wesen an meiner Seite zu haben, das mich immer an meinen kleinen Mingo erinnerte, den ich verloren habe? Wenn Sie das für möglich halten, so wissen Sie nicht, was Elternliebe ist.«
»O doch, ich habe es erfahren«, sagte die Baronin, indem sie langsam den verschleierten Blick auf ihn richtete.
»Ich glaube Ihnen«, sagte Deruga, »aber vielleicht können Sie sich nicht in meine Lage denken.«
»Es ist natürlich«, sagte die Baronin, »daß ich zunächst die meine und die meines Kindes empfinde. Daß eine Mutter ihre Tochter nicht gern einem um so viel älteren Manne gibt, das versteht sich doch wohl von selbst. Wenn ich trotzdem mich entschlossen habe, Ihnen von dieser Neigung zu sprechen, so geschah es, weil Ihre Stärke und unschuldige Zuversicht mich rührten und mir den Glauben erweckten, es könne doch vielleicht – wie man so sagt – Gottes Wille sein. Dazu kommt freilich, daß ich mich davor fürchte, das Kind leiden zu sehen.«
»Wirkliches Leiden«, sagte Deruga, »würde ihr die Erfüllung ihres Wunsches bringen. Sie kennt mich nicht. Und auch Sie, Baronin, kennen mich offenbar nicht genügend.«
»Die Natur will nicht, daß wir Frauen die Männer ganz kennen«, sagte die Baronin leicht errötend. »Hat sie uns nicht blind gemacht, so müssen wir uns wohl oder übel die Augen verbinden. Aber von Ihnen, gerade von Ihnen glaubte ich, daß es nur von Ihrem Willen abhinge, wenn nicht ein großer, so doch ein sehr guter Mensch zu sein.«
»Wenn das wahr wäre«, sagte Deruga, »so wäre ich es ja. Mein Wille hängt ja nicht von mir ab, sondern von meinem Blut, von meinen Nerven, von den Eindrücken, die ich empfange, von tausenderlei Strömungen und Stockungen, über die ich nicht Herr bin. Ich habe Augenblicke gehabt, wo es mir selbst ekelte, und ich will verhindern, daß sie wiederkommen, nachdem ich einmal hoch über allen irdischen Niedrigkeiten war.«
»Und können Sie das nicht am besten dadurch verhindern«, sagte die Baronin, liebevoll dringend, »daß Sie Ihr Leben mit einem jungen, reinen, vertrauenden verbänden?«
»Wenn ich stark wäre, ja«, sagte Deruga. »Aber da ich schwach bin, bleibt mir doch nur der andere Weg, daß ich fortgehe.«
Etwas in seinen Mienen oder im Ton seiner Worte machte, daß die Baronin ihn plötzlich verstand. Ihre Hand, die auf der Lehne seines Stuhles lag, zitterte, und sie wurde bleich. Eine schreckliche Angst, er könne jetzt gleich, ihr gegenüber Hand an sich legen, befiel sie, und zugleich durchzitterte sie der Gedanke, daß dies die beste Lösung für sie wäre.
»Es ist entsetzlich, mir das zu sagen«, stöhnt sie, die Augen schließend und den Kopf zurücklehnend.
»Nicht so sehr«, sagte Deruga, »ich hätte es nicht gesagt, wenn ich nicht wüßte, wie verständig Sie sind. Ich will Ihnen gestehen, als mich Ihre Augen zum ersten Male mit einem Blick trafen, der aus Abneigung und plötzlich erregter Zuneigung gemischt war, wurde eine starke Begierde zu leben in mir wach, wie ich sie jahrelang nicht empfunden habe. Denn eigentlich lebte ich nur so hin, weil ich einmal da war, ohne daß etwas mich sonderlich reizte. Der Trieb, den Sie in mir entzündeten, war nichts Hohes oder Schönes, es war ein Durcheinander von Genußsucht, Eitelkeit und Selbstliebe, was eben bei uns Männern der Leidenschaft hauptsächlich zugrunde liegt. Der Reichtum, der mir in den Schoß gefallen war, bekam plötzlich doppelten Wert für mich. Von ihm getragen wollte ich leben um jeden Preis, was für Opfer es auch kosten möchte, leben, um unbeschränkt zu genießen. Wer weiß, wie es gekommen wäre, wenn der gute Dr. Bernburger nicht den Brief von meiner armen Marmotte gefunden hätte!«
»Da verblaßte die neue vor der alten Liebe«, sagte die Baronin leise.
»Sie mögen es immerhin so ausdrücken«, sagte Deruga. »Vom Finger der Erinnerung berührt, stieg die göttliche Zeit vor mir auf, die mir einmal geschenkt war. Ich sah, wie flach, zerbrechlich, alltäglich und ekelhaft alles das war, was mich glänzend und genußreich umgaukelt hatte, verglichen mit der Seligkeit, die ich empfand, als ich meiner armen, kranken Marmotte den Tod gab. Ja, ich würde reicher und angesehener sein, es würden mir feinere, höhergestellte Frauen zur Verfügung stehen als früher, aber ich würde mit jedem Schritt tiefer in den Schlamm der Alltäglichkeit versinken und mich weiter von jenem Götterglück entfernen, bis ich meine Fähigkeit dazu endlich vergessen und verloren hätte.«
»Man kann nicht immer auf den Höhen verweilen«, wandte die Baronin zaghaft ein.
»Ich wenigstens kann es nicht«, sagte Deruga. »Aber ich war doch einmal begnadet, in ähnlicher Luft zu atmen. Mir schmeckt eure Zeit nicht mehr nach jenen ewigen Augenblicken.«
»Vielleicht«, sagt die Baronin zögernd, »könnte Mingo Sie umstimmen, wenn Sie zu Ihnen käme.«
»Das wäre zum Unglück für uns beide«, sagte Deruga. »Lassen Sie dem Kinde eine schöne, heilige Erinnerung, die vielleicht einmal dunkle Stellen des Lebens verklären kann. Mich beglückt der Gedanke, daß sie ein unbeflecktes Bild von mir in liebevollem Herzen festhält. Versprechen Sie mir, es nicht zu zerstören, Baronin!«
»Es ist ja mir so teuer wie ihr«, sagte sie mit erstickter Stimme. Sie drückte das Taschentuch an die Augen und saß ihm lange stumm gegenüber. Plötzlich kam ihr inmitten verworrener Gefühle und Gedanken ein Einfall, dem nachgebend sie sich schnell aufrichtete und fragte: »Und die verhängnisvolle Erbschaft? Was wird aus der, wenn Sie – fortgehen?«
Deruga lachte. »Wahrhaftig, Baronin«, sagte er, »wenn Gundel Schwertfeger nicht wäre, würde ich sie Ihnen von Herzen gönnen. Aber, sehen Sie, Gundel Schwertfeger kommt das Geld eigentlich zu, weil die Marmotte es ihr zugedacht hatte und weil sie es in ihrem Sinne anwenden wird. Und um mich hat sie es verdient, das treue, tapfere Herz, obwohl ich ihr einmal böse war, weil sie mich zu hart beurteilte. Im Grunde galt mein Zorn nur ihrer Unbestechlichkeit.«
»Ach«, sagte die Baronin schmollend, »Sie und das Fräulein Schwertfeger gehören zu den Leuten, die nur ein Herz für die Leiden der Armen haben. Glauben Sie mir, verhältnismäßig bin ich ärmer als die ärmste Taglöhnersfrau.«
»Ja, aber nur verhältnismäßig«, lachte Deruga.
»Nun, lassen wird das«, sagte die Baronin, »nur um eines bitte ich Sie: Lassen Sie die Nadel, den Mohrenkopf, den Sie in der Krawatte tragen, nicht in fremde Hände fallen!«
»Sie sollen ihn als Andenken erhalten«, sagt Deruga, »wenn ich meine Reise antrete. Machen Sie sich aber niemals Gedanken, Baronin, als hätten Sie den Aufbruch verschuldet! Schon oft, lange vor diesem Prozeß, habe ich die Absicht gehabt, diese öde Station zu verlassen, wo ich mich ebenso langweile wie Sie in Ihrer Ehe. Vielleicht erinnern Sie sich, daß ich einmal im Anfang der Verhandlungen erzählte, wie ich fortgereist und aufs Geratewohl querfeldein gegangen sei, um irgendwo draußen in der Einsamkeit wie ein Tier zu sterben. Das war keine Erfindung, wenn es auch nicht gerade an dem Tag vorgefallen war.«
Die Baronin war aufgestanden und hielt ihm zögernd die Hand hin. »Lieber Doktor«, sagte sie, »alles, was Sie mir eben sagten, war der Ausdruck einer Stimmung, die nach den vorausgegangenen Eindrükken erklärlich ist, die aber vorübergehen wird. Ihre zahlreichen Freunde werden darauf hinzuwirken suchen, und ich bin überzeugt, schon morgen werden Sie irdischer, menschlicher empfinden. Ich wäre nicht imstande, Ihnen Lebewohl zu sagen, wenn ich nicht fest darauf rechnete.«
»Küß die Hand, Baronin, und grüßen Sie Mingo!«
Auf der Treppe zog die Baronin einen Spitzenschleier aus der kleinen Handtasche, die sie in der Hand trug, und band ihn vor das Gesicht, über das unaufhaltsam Tränen flössen. Erst nachdem sie eine Zeitlang in den entlegenen, einsamen Straßen dieser Gegend auf und ab gegangen war, versiegten sie und vermochte sie sich zu fassen. Nach Hause zu gehen, fühlte sie sich immerhin noch nicht fähig und beschloß, auf Umwegen in die innere Stadt, wo die eleganten Geschäfte waren, zurückzukehren und einige für die Abreise notwendige Einkäufe zu machen.
Der Gedanke an Paris hatte etwas Befreiendes für sie. Auf der neuen Szene, dachte sie, würden neue Auftritte mit neuen Eindrücken kommen und sie heilen; denn sie bedürfte es doch mehr als Mingo. Ja, für Mingo war es gut so, das fühlte sie mit jedem Augenblick deutlicher. Eine kurze Zeit leidenschaftlicher Wonne hätte sie vermutlich, wenn sie Deruga geheiratet hätte, mit einem Leben voll Enttäuschungen und mannigfacher Bitterkeit erkauft; denn was für Schätze sein Herz auch bergen mochte, ihr gegenüber wäre er bald der alternde, launenhafte, überdrüssige, erloschene Mann geworden. Der Schmerz hingegen, den sie jetzt erfuhr, würde sich bald, wie Deruga vorausgesagt hatte, in eine heilig behütete Erinnerung verwandeln, bei der man gern in Träumen verweilt. Vielleicht war sie infolge der Erregungen, die sie durchgemacht hatte, gerade in der rechten Verfassung, um für Peter Hases Werbung empfänglich zu sein, der sie begleitete, oder es würde einem anderen gelingen, sie zu interessieren. Dies Erlebnis hatte den Boden ihrer Seele erst lockern müssen, der sich bisher vor der Liebe verschlosssen hatte. Es lag jetzt nur an ihr, sich eine reiche Ernte zu sichern.
Sie dagegen, so dachte die Baronin, hatte einen dürren Herbst und einen öden Winter zu erwarten. Es schauderte sie, und sie zog das Pelzgehänge, das sie an den kühlen Frühlingstagen noch trug, dicht um sich zusammen. Gab es denn irgendwo auf Erden die göttliche Zeit, das himmlische Klima, wovon Deruga gefabelt hatte? Ach, mit was für fremdartigen Gedanken hatte er sie gestört! Nein, das Verstiegene und Überschwengliche, das ihrem guten Geschmack widerstrebte, hatte sie sich immer ferngehalten und wollte es auch ferner tun. Das Leben war reich an heiteren, reizenden Augenblicken; die Kunst, diese Schmetterlinge einzufangen, sich an ihrem Schmelz zu erfreuen, ohne sie zu betasten, wollte sie sich immer mehr zu eigen machen. Konnte sie dazu eine bessere Gelegenheit finden als in Paris, in Gesellschaft ihrer Tochter und Peter Hases? War nicht endlich auch ihr Mann ein schätzbarer Begleiter? Ansehnlich, elegant, zuvorkommend, eben durch seine langweilige Farblosigkeit bequem? Ihr Schritt wurde immer elastischer und ihre Miene heiterer. Als sie im Hotel ankam, strömte ihr Wesen einen so frischen Reisemut aus, daß ein wenig davon auf Mingo überging.
Ein paar Tage später erhielt sie in Paris ein Päckchen, in dem Derugas Nadel mit dem Mohrenkopf war. Ihre Augen wurden feucht, aber sie verbarg das Kleinod schnell in einer Schatulle, wo sie ihre Kostbarkeiten zu verschließen pflegte, um es erst dann wieder hervorzunehmen, wenn ihr Herz ganz still und sicher geworden wäre.