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Einen Tag nach der Abreise Gabussis besuchte der Justizrat seinen Klienten, der allein im kalten Zimmer saß. Er hatte das Fenster geöffnet, weil der kleine eiserne Ofen zu stark heizte, und hatte vergessen, es wieder zu schließen, nachdem er längst kalt geworden war. Zuweilen trieb der Wind einen Regenguß hinein, ohne daß der Einsame, der verdrossen vor sich hin starrte, es bemerkte.
»Ihr Freund ist also abgereist«, sagte der Justizrat. »Das ist schade, da werden Sie sehr niedergeschlagen sein!«
»Ich bin froh, daß er fort ist«, entgegnete Deruga. »Gabussi ist mir der liebste Mensch auf Erden, aber es gibt Zeiten, wo er mir im Wege ist. Er kann sein Leben lang nüchtern sein, aber ich muß mich zuweilen betrinken.«
»So«, sagte der Justizrat, der inzwischen das Fenster geschlossen und sich gesetzt hatte, »und jetzt ist der Zeitpunkt für Ihre Saturnalien passend gewählt?«
Deruga zuckte die Achseln. »Ich richte mich dabei nach dem Kalender, dessen System jeder in seinem Körper trägt.«
»Wie Sie wollen«, sagte der Justizrat. »Mich hat etwas ganz anderes hergeführt. Kennen Sie eine Frau Valeska Durich aus Prag?«
»Ja«, sagte dieser, »ein aus Dummheit und Verliebtheit zusammengesetztes Wesen. Formel D2V.«
»Sie müssen es wissen«, sagte der Justizrat, »denn sie scheint eben in Sie verliebt zu sein.«
»Ich kann wirklich nichts dafür«, sagte Deruga. »Wenn Sie eine halbe Stunde mit ihr zusammen wären und sie womöglich etwas grob behandelten, würde sie sich auch in Sie verlieben.«
»Nun, wir werden sehen«, sagte der Justizrat. »Sie will nämlich herkommen.«
Deruga lachte und zeigte sich dann geärgert. Was die dumme Person wolle? Der Justizrat solle ihr schreiben, daß er, Deruga, in Untersuchungshaft sei und nichts mit ihr zu tun haben könne und wolle.
»Das käme wohl zu spät«, sagte der Justizrat. »Sie will durchaus bezeugen, daß Sie vom Abend des 1. Oktober bis zum Nachmittag des dritten bei ihr gewesen seien. Da hätten wir denn ein Alibi.«
»Im Ernst?« sagte Deruga aufhorchend. »Das will die dumme Person? Nun, das ist ja eigentlich sehr angenehm. Besser könnte der Knoten gar nicht gelöst werden.«
»Das will ich denn doch nicht gerade sagen«, meinte der Justizrat bedächtig. »Es ist doch keine Kleinigkeit, wenn einer einen Meineid auf sich nimmt.«
»Das ist ihre Sache«, sagte Deruga heftig. »Herrgott, dieser kleinliche Wortkram! Es gibt Lügen, die einen anständigeren Ursprung haben als manche Wahrheit. Überhaupt ist das ihre Sache. Ich habe so viele Belästigungen von ihr ertragen, warum sollte ich nicht auch den Vorteil annehmen?«
»Natürlich«, sagte der Justizrat, »wenn es ohne ernstlichen Schaden ihrerseits geschehen kann.«
»Es ist merkwürdig, daß Sie auf einmal so bedenklich geworden sind«, sagte Deruga scharf. »Durch Sie bin ich in diese Lage gekommen. Wäre ich meiner Regung gefolgt, so wäre es längst so oder so zu Ende. Nun sich ein Mittel findet, mir den Prozeß in Ihrem Sinne vom Halse zu schaffen, machen Sie moralische Ausflüchte.« Er war vor Erregung rot geworden und warf einen wütenden Blick auf den Justizrat, der ihn nachdenklich betrachtete.
»Ich mußte mir doch erst Klarheit verschaffen«, sagte dieser, »und wissen, wie Sie zu der neuen Wendung stehen. Schließlich, wenn Sie einverstanden sind! Hatten Sie denn wirklich etwas mit der Dame?«
»Ich mit ihr?« sagte Deruga. »Sie hatte etwas mit mir. Sie quälte mich mit ihrer Verliebtheit. Übrigens irren Sie sich, wenn Sie sie als opfermütige Heldin auffassen. Sie ist zu dumm, um die Folgen ihrer Handlungen zu übersehen, und so verliebt, daß ihr jedes Mittel recht ist, um mich zu gewinnen.«
»Worin sie sich aber verrechnet?« setzte der Justizrat hinzu.
»Natürlich«, sagte Deruga scharf, »dachten Sie, ich solle sie aus Dankbarkeit heiraten?«
»O nein«, entgegnete der Justizrat, »Sie wollen jetzt viel höher hinaus.«
»Jetzt?« wiederholte Deruga auffallend, »was meinen Sie damit? Was erlauben Sie sich? Meinen Sie, Sie können mich als dummen Jungen behandeln, weil ich angeklagt und vogelfrei bin? Ich halte mich allerdings für zu gut, mich an eine solche dumme und ungebildete Person wegzuwerfen. Die Weiber sind mir überhaupt widerlich.«
»Mit Ausnahmen«, sagte der Justizrat kühl.
»Das stimmt«, fuhr Deruga in hitzigem Tone fort. »Zum Beispiel mit Ausnahme der Baronin Truschkowitz. Sie ist habgierig, eitel, selbstsüchtig; aber dafür klug, elegant und ganz und gar unmoralisch. So müssen Frauenzimmer sein, damit man sich gut mit ihnen unterhalten kann.«
»Geschmackssache«, sagte der Justizrat. »Einen Meineid würde sie jedenfalls nicht für Sie schwören.«
»Nein, sie ist weder einfältig noch hündisch«, sagte Deruga, »und ich mag die Hunde nicht. Was kümmert Sie die Valeska? Lassen Sie sie zugrunde gehen, wenn sie will! Sie haben für mich zu sorgen.«
»Das tue ich«, sagte der Justizrat, »und ich zweifle eben, ob es ehrenhaft von Ihnen wäre, wenn Sie ein solches Opfer annähmen.«
Deruga lachte höhnisch. »Eins von diesen pompösen Worten«, sagte er, »die in eurer Gesellschaft üblich sind. Ehre, Moral, Ideal, Gott, Unsterblichkeit, lauter gemalte Säulen auf Sackleinwand. Man braucht euch keine dreißig Silberlinge zu bieten, damit ihr Gott verratet. Übrigens, wer sagt denn, daß Valeska einen Meineid schwört? Woher wissen Sie, daß ich nicht vom 1. bis 3. Oktober bei ihr war?«
Der Justizrat stand auf, um zu gehen. »Genug für heute«, sagte er; »aber ich nehme an, daß das nicht Ihr letztes Wort ist.«
»Und ich bitte Sie«, sagte Deruga, »fangen Sie nicht wieder davon an, wenn Sie wollen, daß wir gute Freunde bleiben! Weder Sie noch ich sind Valeskas Hüter. Sie tun am besten, sich an die Tatsache zu gewöhnen, daß sie leichtsinnig genug war, mich vom 1. bis 3. Oktober vorigen Jahres bei sich zu beherbergen.«