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XIII

»Wir wurden mit Deruga dadurch bekannt«, erzählte Professor Vondermühl, »daß wir im gleichen Hause wohnten. Kurze Zeit nachdem sie eingezogen waren, bekam meine Frau in der Nacht einen Magenkrampf, und um ihr möglichst schnell Hilfe zu schaffen, ging ich hinauf und bat Deruga zu kommen. Er zeigte die liebenswürdigste Bereitwilligkeit, und auch seine Frau bot ihren Beistand an. Seit der Zeit sahen wir uns häufig und haben in enger Freundschaft verkehrt, bis Derugas ihr Kind verloren und sich bald hernach scheiden ließen.«

»Haben Sie jemals etwas von Mißhelligkeit zwischen den Ehegatten bemerkt?« fragte der Vorsitzende.

»Meine Frau hatte den Eindruck«, sagte der Professor, »daß sie sich zwar liebhatten, aber nicht zueinander paßten. Deruga hatte trotz seiner Verträglichkeit ein unstetes, unberechenbares Temperament und hätte straffer Leitung bedurft; seine Frau vermochte solche nicht auszuüben, sondern war zärtlich, anschmiegsam, gleichsam eine Pflanze, die im Schutze einer Mauer hätte wachsen sollen. Die Verschiedenheit trat wohl nach dem Tode des Kindes, das ein Band zwischen ihnen bildete, schärfer zutage.«

»Kam es zuweilen zwischen ihnen zu heftigen Ausbrüchen?« fragte der Vorsitzende.

»Eines Abends«, erzählte der Professor, »saßen meine Frau und ich nach dem Abendessen auf unserem kleinen Balkon, der vom Wohnzimmer nach dem Garten hinausging. In Derugas Wohnzimmer, das über dem unsrigen lag, mußte die Tür offenstehen, denn wir konnten ihre Stimmen hören und wie ihr Gespräch allmählich in einen Wortwechsel ausartete. Wir lachten darüber, und meine Frau sagte: ›Der schreckliche Mensch, sein Teufel ist wieder los‹ – was ein Ausdruck von ihr war, um gewisse Launen, denen Deruga unterworfen war, zu bezeichnen. Sie schlug vor, wir wollten hineingehen, um der Frau willen den Auftritt zu unterbrechen. Ich jedoch war dagegen, da mir eine Einmischung in solchem Augenblick zudringlich erschien, vielleicht auch aus Bequemlichkeit oder sonst einer egoistischen Regung. Wir waren noch in der Auseinandersetzung darüber begriffen, als wir Frau Deruga einen unterdrückten Schrei ausstoßen hörten, einen Schrei des Schreckens, des Schmerzes, der Angst, wie es schien. Da sprang meine Frau auf und lief, ohne meine Zustimmung abzuwarten, in das obere Stockwerk hinauf, so daß ich Mühe hatte, mit ihr Schritt zu halten. Als ich atemlos oben ankam, hatte Ursula, das Mädchen, meiner Frau schon die Tür geöffnet und begrüßte uns mit strahlenden Augen. Sie mochte froh sein, daß ihre Herrschaft in diesem Augenblick nicht allein blieb. Deruga empfing uns mit gewohnter Herzlichkeit, von Verlegenheit oder Mißstimmung war ihm nichts anzumerken, außer daß er ein paar Redensarten wiederholte: ›Ach, die Ehe!‹, ›Man sollte sich das Heiraten gründlicher überlegen als das Aufhängen!‹ und dergleichen. Meine Frau, die sehr temperamentvoll war und keine Menschenfurcht kannte, sagte scheltend, indem sie sich vor ihn hinstellte: ›Wir Frauen sollten allerdings vorsichtiger sein, und zumal die Ihrige hat unüberlegt gehandelt, als sie sich einem solchen Wüterich anvertraute. Weil Ihre Frau allzu gut ist, darum machen Sie Radau! Sie haben einen kleinen Teufel in sich, der Glück und Frieden nicht verträgt, sondern immer Schwefelgestank und Höllenspektakel um sich haben muß.‹ Deruga nahm solche Strafpredigten von meiner Frau gern an, weil er fühlte, daß sie wahrer Freundschaft entsprachen, und sie ihrerseits lieh auch seinen Rechtfertigungen Gehör, in welcher Form immer sie gegeben wurden. Diesmal schien er seine Heftigkeit zu bereuen und sagte in verhältnismäßig ruhigem Tone: ›Ich gebe zu, daß meine Frau lieb und sanft ist, aber ich verwünsche, verfluche und hasse dieses Sanftsein. Wenn sie mich liebte, wie sie sollte und könnte, würde sie mich einmal anzischen wie eine Schlange und mir sagen, daß ich ein Scheusal wäre, mich in Haß oder Liebe umschlingen und erwürgen. Wenn ich eine aussätzige alte Frau oder ein verendender Hund wäre, würde sie mich mit derselben Liebe und Sanftheit behandeln, die mich zur Wut reizt.‹ Die arme Frau sah ihn, wie ich mich gut erinnere, mit großen Augen an und sagte in ihrer Art zornig: ›Ich sagte dir doch eben, daß du ein Scheusal wärest‹, worüber wir alle lachen mußten. Er umarmte sie und behielt ihre Hand in der seinen, während er ihr erklärte, daß das doch nicht das Richtige gewesen sei.«

»Sie erwähnten vorhin«, unterbrach der Vorsitzende, »daß Frau Deruga einen Schrei ausgestoßen habe. Erfuhren Sie, ob sie nur aus Angst geschrien oder ob ihr Mann sie tätlich angegriffen hatte?«

»Das kam nicht zur Sprache«, sagte der Professor. »Vermutlich hatte er sie unsanft angepackt. Sie sah bleich und verstört aus. Als wir nach einer Stunde aufbrechen wollten, fragte meine Frau sie, ob wir sie nun auch mit dem Unhold allein lassen könnten. Worauf sie lachend erwiderte: ›Für heute hat der Vulkan ausgespien.‹ Das sagte sie laut und unbefangen, und auch Deruga lachte. Meine Frau konnte lange nicht einschlafen, weil es ihr unheimlich war, doch gelang es mir, sie zu beruhigen, indem ich ihr sagte, sie nähme die Sache zu ernst. Derugas Liebe zu seiner Frau habe sich gerade eben deutlich gezeigt.«

»Haben Sie jemals«, fragte der Vorsitzende, »klaren Aufschluß erhalten über den Grund der Aufwallungen des Angeklagten gegen seine Frau? Oder lag derselbe nach Ihrer Meinung nur in seinem Temperament und in der Verschiedenheit der Gatten?«

»Deruga deutete gelegentlich an«, sagte der Professor, »daß er Ursache zur Eifersucht habe, und zwar bezog sich dieselbe auf einen Mann, zu dem seine Frau, bevor sie Deruga heiratete, eine Zuneigung gehabt hatte, den sie aber, weil er gebunden war, nicht hatte heiraten können. Der Umstand, daß die alte Frau dieses Mannes starb, scheint seine Eifersucht und seinen Argwohn so sehr gesteigert zu haben, daß ihr Leben an seiner Seite unbehaglich wurde. Man war vielfach der Ansicht, sie habe die Scheidung betrieben, um jenen anderen zu heiraten, was aber die folgenden Ereignisse nicht bestätigten, denn sie ist bekanntlich ledig geblieben.«

»Halten Sie für möglich«, fragte der Vorsitzende, »daß die Furcht vor dem Angeklagten dabei den Ausschlag gab? Er könnte Drohungen gegen sie und den Mann ausgestoßen haben, falls sie ihn heiratete?«

»Für möglich muß ich das halten«, sagte der Professor nach einigem Besinnen, »aber etwas Bestimmtes kann ich nicht darüber sagen. Meine Frau würde besser unterrichtet sein, da sie sehr mit Frau Deruga befreundet und gerade damals viel mit ihr zusammen war. Zwar pflegte sie mir alles genau zu erzählen; aber ich habe nicht alles genau genug behalten, um es unter solchen Umständen wiedererzählen zu können. Das weiß ich sicher, daß Frau Deruga, nachdem sie geschieden war, sich eine Zeitlang mit der Absicht trug, jenen Mann zu heiraten, daß sie aber davon abstand. Der Betreffende hat sich dann anderweitig verheiratet, soll aber unglücklich geworden sein und ist vor einigen Jahren gestorben.«

Dr. Zeunemann bemerkte, aus den Schilderungen des Professors scheine hervorzugehen, daß seine Frau diesen Verkehr mehr als er gepflegt habe; ob etwa zwischen ihm und Deruga keine Sympathie bestanden habe.

»Nein, nein«, sagte der Professor, »das wäre kein zutreffender Ausdruck. Er teilte meine wissenschaftlichen Interessen nicht, und mir ist das Schweben und Gaukeln über den Tiefen, das Ausspielen von Hypothesen und Paradoxen, das Phantasieren im Unmöglichen nicht gegeben. Ich war zu schwerfällig für die oft grotesken Sprünge seines Geistes. Sie belustigten mich wohl, aber im Grunde wußte ich nichts damit anzufangen. So kam es, und auch weil ich sehr beschäftigt war, daß meine Frau die Beziehungen mehr pflegte, wozu sie schon durch ihre Jugend besser paßte. Sie war bedeutend jünger als ich und mußte doch vor mir sterben.«

Ob seine Frau nach dem Wegzug von Frau Deruga mit dieser im Briefwechsel gestanden habe, fragte der Vorsitzende.

Es wären allerdings Briefe der Frau Deruga vorhanden gewesen, sagte der Professor, er hätte sie aber nach dem Tode seiner Frau verbrannt, damit sie nicht später Unberufenen in die Hände fielen. Er habe darin geblättert, bevor er sie zerstört hätte, und erinnerte sich einer Stelle, wo sie geschrieben hätte, der Frieden und die Freudigkeit, die sie sich von der Auflösung ihrer Ehe erwartet hätte, ließe noch immer auf sich warten.

›Ich ertappe mich jetzt oft darauf‹, so etwa schrieb sie, ›daß ich anstatt wie sonst vorwärts, in die Zukunft zu blicken stehenbleibe und mich zurückwende. Sollte das die Besinnung des Alters sein? Ach nein, wie konnte ich auch erwarten, daß ich jemals anderswohin sollte blicken können als dahin, wo mein Kind war, in die Vergangenheit! Für mich gibt es keine Zukunft auf Erden mehr.‹ Diese Stelle ergriff mich, weil ich damals, nach dem Tode meiner Frau, selbst anfing, nach rückwärts statt nach vorwärts zu leben, und sie hat sich mir aus diesem Grunde eingeprägt.«

Diese Briefstelle, sagte der Vorsitzende, deute nicht darauf, daß die Verstorbene eine zweite Heirat ersehnt hätte und nur durch Furcht vor dem Angeklagten davon zurückgehalten wäre.

»Dazu möchte ich folgendes bemerken«, sagte der Professor. »Aus anderen mündlichen oder schriftlichen Äußerungen der Verstorbenen wäre vielleicht auf jenen Wunsch und jene Furcht zu schließen. Hätte man aber noch so viele Beweise von Derugas damaligem Geladensein, so scheint es mir doch fraglich, ob das mit einem so viele Jahre später begangenen Mord in Verbindung gebracht werden könne. Es ist wahr, daß die menschlichen Handlungen Ketten sind, deren Glieder ein Götterauge ins Unendliche muß verfolgen können; aber ob wir Menschen uns in den labyrinthischen Verzweigungen nicht verirren müssen?«

Der Vorsitzende blickte schweigend vor sich nieder, während der Staatsanwalt unter kritischen Grimassen den Kopf wiegte. Dann stellte Dr. Zeunemann die Schlußfrage an den Professor, ob ihm noch andere Gründe bekannt wären, mit denen die Scheidung der Derugas damals erklärt worden wäre oder erklärt werden könnte.

»Meine Frau wußte«, sagte der Professor, »daß Frau Deruga ihren Mann bis zu einem gewissen Grade für den Tod ihres Kindes verantwortlich machte und deshalb einen krankhaften Haß auf ihn warf. Es ist das so zu verstehen, daß Deruga für Abhärtung und Rücksichtslosigkeit in der körperlichen Erziehung des Kindes war, während seine Frau es eher verzärtelte. Dieser Gegensatz bildete öfter Anlaß zu Streitigkeiten. Auf die Dauer konnte die verständige Frau sich aber doch nicht dagegen verblenden, daß Deruga das Kind, auf seine Art, ebenso wie sie geliebt hatte und den Verlust ebenso wie sie betrauerte, und sie suchte die ungerechte Abneigung zu überwinden, worauf auch meine Frau mit der ganzen Lebhaftigkeit ihres Temperaments drang. Ich kann also nicht glauben, daß diese durch den übermäßigen Schmerz zu erklärende Gefühlsverkehrung den Entschluß zur Scheidung bewirkt habe, wenn auch vielleicht das Verhältnis dadurch gelockert wurde.«

Es entspann sich nun zwischen den Juristen ein Wortwechsel über den vom Staatsanwalt gestellten Antrag, Fräulein Schwertfeger noch einmal zu vernehmen, ob sie etwas Aufklärendes über Frau Swieters geplante und nicht vollzogene Ehe aussagen könne. Justizrat Fein verwarf es als zeitraubend und überflüssig, welcher Meinung sich Dr. Zeunemann anschloß, der sagte, noch mehr Einzelheiten, wie sie auch ausfielen, würden den Prozeß nicht weiterbringen. Für die Eigenart Derugas, die darin bestehe, daß er sich im labilen Gleichgewicht befinde, ließen sich vermutlich noch zahlreiche Beispiele aufbringen. Es handle sich hier aber nicht darum, die Geschichte seiner Seele zu erforschen, sondern die Geschichte seines Lebens vom 1. bis zum 3. Oktober festzustellen. Darauf bezüglich habe Fräulein Schwertfeger nichts mehr zu sagen.

»Ich bitte die Herren dringend«, sagte der Justizrat, »sich auf Tatsachen zu beschränken, damit wir den Knoten nicht noch mehr verwirren, anstatt ihn aufzulösen.«

»Was für Tatsachen?« fragte der Staatsanwalt, so plötzlich von seinem Sitz aufschnellend, daß der Justizrat die Antwort nicht gleich bereit hatte.

»Tatsachen, die sich auf den angeblichen Mord beziehen«, entgegnete er nach einer Pause. »Aus Mangel an Tatsachen werden Alltäglichkeiten hervorgezerrt und aufgebauscht. Verliebte pflegen den Gegenstand ihrer Liebe im Falle der Untreue mit dem Tode zu bedrohen, ohne daß ihr Gegenstand selbst oder jemand anders darauf Wert legt. Dergleichen hat nicht mehr Bedeutung als die Schwüre der Liebe.«

»Es kommt darauf an, was nachfolgt«, sagte der Staatsanwalt. »Übrigens wären uns alle Tatsachen auf der Handfläche lieber; da der Angeklagte, der es könnte, sie uns aber nicht liefert, so bleibt uns nichts übrig, als den Grund zu untersuchen, aus dem die Handlungen wachsen, nämlich das menschliche Gemüt.«

»Der Angeklagte liefert sie uns nicht?« begann der Justizrat.

Allein Dr. Zeunemann bat, den fruchtlosen Streit zu beenden, und forderte Fräulein Schwertfeger auf, dem erhobenen Wunsche genugzutun und noch einige wenige Fragen zu beantworten.

Fräulein Schwertfeger, die blasser und elender aussah als am ersten Tage, ließ das unsichtbare Visier über ihr Gesicht herab und fragte, indem sie zögernd vortrat, ob sie dazu verpflichtet sei, durchaus private Angelegenheiten hier an die Öffentlichkeit zu bringen. Sie könne sich das nicht denken.

»Im Staate ist das Private durchgehend mit dem Öffentlichen verknüpft«, sagte Dr. Zeunemann sanft belehrend. »Nur soweit die Öffentlichkeit Interesse daran hat, bitte ich Sie um einige Aufschlüsse über die Verhältnisse Ihrer verstorbenen Freundin. Frau Swieter hatte vor ihrer Heirat mit dem Angeklagten freundschaftliche Beziehungen zu einem Manne, die sie abbrach, da sie zu einer Ehe nicht führen konnten, und die vermutlich, solange die Ehe mit dem Angeklagten bestand, nicht wieder angeknüpft wurden.«

»Natürlich nicht«, sagte Fräulein Schwertfeger hochmütig. »Sie sahen sich erst wieder, als Frau Swieter hierher übersiedelte.«

»Dabei lebte die beiderseitige Neigung auf, und die Wiedervereinten beschlossen, sich zu heiraten. Ist es nicht so?« fragte Dr. Zeunemann.

»Ja«, antwortete das Fräulein trocken.

»Was war die Ursache, daß dieser Beschluß nicht ausgeführt wurde?« fragte Dr. Zeunemann weiter. »Es ist unmöglich, daß Sie, als nächste Freundin der Verstorbenen, nicht davon unterrichtet sein sollten.«

»Es lag nicht in der Natur meiner Freundin, sich bis aufs letzte auszusprechen«, sagte Fräulein Schwertfeger, »und es liegt nicht in meiner, Verschwiegenes zu erpressen. Meine Freundin war damals sehr aufgeregt und äußerte sich ungleich. Einmal sagte sie mir unter Tränen, ihre alte Liebe sei so stark wie je, wolle sie sich aber an die Brust des Geliebten werfen, so stehe ihr Mann, das Kind an der Hand, dazwischen, und dieser Schatten ihrer Einbildung sei undurchdringlicher als eine Mauer.«

»Haben Sie das so aufgefaßt«, fragte Dr. Zeunemann, »als fürchte sie sich vor ihres Mannes Rache oder als dränge sich die Erinnerung zwischen sie und ein neues Glück?«

»Ich habe es damals so aufgefaßt«, lautete die Antwort, »als sei Dr. Deruga schuld daran, daß meine Freundin den Mann nicht heiratete, den sie liebte. Es tat mir sehr, sehr leid, daß diese Heirat nicht zustande kam. Ich kannte diesen Mann viel besser als Dr. Deruga und hatte viel mehr Sympathie für ihn, schon deshalb, weil ich glaubte, meine Freundin würde es gut bei ihm haben.«

»Wenn Sie jenen Herrn gut kannten«, sagte Dr. Zeunemann, »so haben Sie vielleicht mit ihm darüber gesprochen und wissen, wie er es auffaßte?«

»Er faßte es so auf«, sagte Fräulein Schwertfeger mit sehr bösem Gesicht, »als fürchte Frau Swieter, Deruga würde ihn töten, wenn er sie heiratete. Es kann auch sein, daß er das glauben wollte, weil es seinen Stolz am wenigsten verletzte. Er war stolz und herrschsüchtig.«

»Wenn Ihre Freundin ihn so sehr liebte«, sagte Dr. Zeunemann, »so mußte ein starkes Motiv sie abgehalten haben, ihn zu heiraten.«

»Natürlich«, sagte Fräulein Schwertfeger. »Sie hat damals auch sehr gelitten. Sie überwand es aber bald und sagte später, sie glaube, richtig gehandelt zu haben.«

 

Es war Abend, als Dr. Bernburger müde in seine Wohnung kam. Er warf sich auf den schäbigen Diwan, den er alt gekauft hatte, und sah sich fröstelnd nach irgend etwas um, womit er sich zudecken könnte. Drinnen war es kälter als draußen, aber abgesehen davon, daß er aus Sparsamkeit am Abend wo möglich nicht mehr einheizte, fühlte er sich auch zu erschöpft und unlustig dazu. Mißvergnügt sah er sich in dem kahlen, an ein Zimmer in einem Hotel zweiten Ranges erinnernden Raum um und dachte darüber nach, woher und wozu er diesen Hang nach einer schönen, behaglichen Umgebung habe, den er vielleicht nie würde befriedigen können. Um seiner Verstimmung zu entrinnen und sich zu wärmen, beschloß er, in ein Café zu gehen. Da fand er vor der Glastüre, die seine Wohnung abschloß, eine kleine, verhutzelte Frau stehen, die schon eine Weile nach der Klingel gesucht hatte und ihn fragte, ob hier ein Herr Rechtsanwalt wohne. Der sei er, sagte Dr. Bernburger; aber jetzt werde nicht mehr gearbeitet, sie solle am folgenden Tage in seine Sprechstunde kommen. Die kleine Frau setzte auseinander, daß sie das nicht könne, weil sie tagsüber bei den Herrschaften sei, um zu waschen; ihr Mann habe sie ja verlassen, und sie müsse die Kinder allein durchbringen. Sie komme auch jetzt von der Arbeit, und zwar komme sie, weil der Herr Tönepöhl vom Vorderen Anger sie geschickt habe.

Bei der Nennung dieses Namens durchfuhr den Anwalt ein Gedanke, der ihm das Blut ins Gesicht trieb und ihn bewog, mit der kleinen Frau in sein Zimmer zurückzukehren. Während er Licht machte, bat er sie, sich zu setzen und zu erzählen, was sie herführe, und da sie, als er damit fertig war, noch immer bescheiden an der Tür stand, nötigte er sie selbst auf einen Stuhl und nahm ihr den großen Deckelkorb ab, den sie in der Hand trug. Sie lächelte verlegen und dankbar und begann ihre Erzählung:

Vorgestern sei sie zu Herrn Tönepöhl, dem Tändler im Vorderen Anger, gekommen, um ein Paar Schuhe für ihren Ältesten zu kaufen, und da habe ihr ein Paar besonders gut gefallen, weil es ungefähr die rechte Größe gehabt hätte; aber es sei zu teuer gewesen. Da habe sie zu Herrn Tönepöhl gesagt, sie habe einen Arbeitskittel von ihrem seligen Mann – sie sage nämlich immer »ihr seliger Mann«, seit er auf und davon gegangen sei –, der sähe wie neu aus, ob er den nicht dagegen annehmen wolle. Herr Tönepöhl habe barsch gesagt, wie er überhaupt sehr hochfahrend gegen die armen Leute sei, für solches Lumpenzeug habe er keine Kunden. Da habe seine Frau, die in einem alten Koffer gekramt habe, dazwischen geschrien, er solle nicht ein solcher Tölpel sein, der Herr Rechtsanwalt habe ihm doch viel Geld für einen alten Kittel versprochen, und er, der Mann, habe dem Herrn Rechtsanwalt fest zugesagt, sich danach umzusehen, und nun sähe man, was für ein Windbeutel er sei. Darauf habe Herr Tönepöhl seinerseits geschimpft, sie sei dümmer als ein Hering. Der Herr Rechtsanwalt würde ihm den Kittel an den Kopf werfen, denn er wolle einen, der auf der Straße gefunden sei. Nun sei nämlich der alte Anzug, den sie gemeint habe, gar nicht von ihrem seligen Manne gewesen, sondern sie habe ihn gefunden, aber wegen der Grobheit des Herrn Tönepöhl habe sie sich nicht getraut, das zu sagen, damit er nicht eine große Angelegenheit daraus mache und behaupte, sie habe ihn gestohlen.

Sie sei also fortgegangen, habe aber an der Tür noch mit Frau Tönepöhl geschwatzt und sie gefragt, was für ein Herr Rechtsanwalt das sei, und sie habe ihr alles erzählt und auch, daß es sich um einen großen Prozeß handle und daß man ein gutes Stück Geld verdienen könnte, wenn man den rechten Anzug brächte. Darauf habe sie gedacht, sie wolle den Kittel in Gottes Namen dem Herrn Rechtsanwalt bringen, er werde ihr ja nichts Böses antun und sie ins Unglück stürzen, wo sie ja nur komme, weil ihm so viel daran gelegen sei.

Nun freilich, sagte Dr. Bernburger, er sei ihr sehr dankbar, und ob er den Anzug brauchen könne oder nicht, er wolle sie für die Mühe entschädigen. Sie sei eine brave kleine Frau und solle recht gründlich erzählen, wie sie zu diesem Kittel gekommen sei.

Es sei der 3. Oktober gewesen, erzählte die Frau. Sie erinnere sich deswegen so gut daran, weil sie an dem Tage schon vor fünf aus dem Hause gegangen sei. Die Frau Kommerzienrat Steinhäger habe sie nämlich ersucht, eine Stunde früher zu kommen und eine oder zwei Stunden länger zu bleiben, damit sie womöglich an einem Tage mit der Wäsche fertig würde; es habe sich ein auswärtiger Besuch auf den folgenden Tag bei ihr angemeldet, und das passe so schlecht, wenn Wäsche sei. Weil nun die Frau Kommerzienrat sonst eine gute Frau wäre, habe sie es ihr zugesagt, und so sei sie denn schon vor fünf Uhr durch die Bahnhofsanlagen gekommen, als noch kein Mensch unterwegs gewesen sei. Ein starker Wind habe geweht, so daß die hohen Bäume sich gebogen hätten, und die dürren Blätter wären wie Fledermäuse um den Kopf geflogen. Auf der Brücke habe sie einen Augenblick stillstehen müssen, so habe der Wind gegen sie angeblasen, und da habe sie etwa hundert Schritte weiter am Ufer etwas Schwarzes gesehen. Zuerst habe sie gemeint, es sei ein Kind oder ein Hund, weil es scheinbar Arme oder Beine ausgestreckt hätte, und sie sei schnell hingelaufen; anstatt dessen sei es ein mit Bindfaden umschnürter Anzug gewesen. Offenbar sei er in Papier gewickelt gewesen, das habe aber das Wasser größtenteils aufgelöst und weggerissen. Sie habe den Anzug losgemacht und ausgewrungen und beschlossen, ihn mitzunehmen. Denn der, dem er gehört habe, müsse ihn doch weggeworfen haben, also sei es kein Unrecht, und vielleicht könne ihr seliger Mann ihn gebrauchen, wenn er etwa einmal wiederkäme, oder sonst ihr Ältester, wenn er erwachsen sei. Ob der Herr Rechtsanwalt meine, daß sie unrecht getan hätte?

Sie betrachtete ihn ängstlich gespannt aus ihren braunen Augen, die wie zwei kleine, fleißige Nachtlämpchen aus dem verschrumpften Gesicht herausleuchteten.

Aber nein, sagte Dr. Bernburger, da könne mancher reiche und angesehene Mann froh sein, wenn er nicht mehr als das auf dem Gewissen hätte. Das sei ja herrenloses Gut gewesen. Sie habe recht getan, sie sei ein wackeres Frauchen. Gewiß habe sie den Kittel in ihrem Henkelkorbe?

Ja, sagte die kleine Frau erleichtert; sie habe ihn gleich mitgebracht, um nicht noch einmal kommen zu müssen. Denn es sei ein großer Umweg für sie, und ihre Kinder pflegten sie abends ungeduldig zu erwarten.

Sie nahm das Paket aus dem Korb, und Dr. Bernburger faltete den Anzug auseinander.

»Wissen Sie«, sagte er, »ich kaufe Ihnen den Anzug ab, ob es nun der rechte ist oder nicht. Sind Sie zufrieden, wenn ich Ihnen vorderhand zehn Mark gebe? Sie sollen aber noch mehr bekommen, wenn sich herausstellt, daß es der ist, den ich suche.«

Die kleine Frau wurde rot vor schreckhafter Freude. Nun könne sie ihrem Ältesten die schönen Schuhe kaufen, sagte sie.

Aber sie solle Herrn Tönepöhl nichts von dem Geschäft sagen, das sie miteinander gemacht hätten, rief Dr. Bernburger ihr die Treppe herunter nach. Der brauche nichts davon zu wissen.

Heiß, fast blind vor Triumph trat Dr. Bernburger in das Zimmer zurück, dessen Kälte und Leere er nicht mehr fühlte! Sein Gedankengang war also richtig gewesen! Einmal kreuzte doch der Weg des Glückes den seines Verstandes. Wie würden sie staunen, wenn er ihnen das Rätsel löste und zugleich das Beweisstück vorlegte! Würde man angesichts dessen noch zweifeln können? Vielleicht war irgendein Abzeichen an dem Anzuge, welches die Ermittlung des Geschäftes, wo er gekauft war, erlaubte. Eine genaue Untersuchung des Anzuges ergab nichts Derartiges, dagegen war deutlich zu erkennen, daß ein neues, gutes Stück vorlag, dem durch absichtlich eingesetzte Flicken der Schein eines dürftigen, oft getragenen Arbeitergewandes zu geben versucht worden war.

Indem Dr. Bernburger den Rock hin und her wendete, entdeckte er eine zugeknöpfte Seitentasche, öffnete sie, griff hinein und zog einen Briefumschlag heraus, der eine von der Nässe verwischte, aber lesbare Aufschrift trug. Er las: »Herrn Dr. S. E. Deruga«, dann die Stadt und die Straße.

Trotzdem dieser Brief ihm nur bestätigte, was er erwartet hatte, war er nicht nur überrascht, sondern fast erschrocken. Versteinert starrte er auf den Brief, der da lag wie die Gaukelei erregter Einbildungskraft und doch Wirklichkeit war, der Zauberschlüssel, der ihm die Pforte zu Ansehen und Reichtum öffnen würde. Daß der Umschlag einen Brief enthielt, hatte er gefühlt, aber noch zögerte er, ihn herauszunehmen und zu lesen. Ihm selbst zum Ärger klopfte ihm das Herz. Wozu die Aufregung? Er zwang sich, die peinliche Spannung zu beendigen, indem er las. Der Brief lautete:

 

»Dodo, lieber Dodo, ich bin todkrank und muß sterben, aber vorher muß ich schrecklich leiden und habe niemand, der mir hilft. Du bist der einzige, der mich lieb genug hat, um mich zu töten. Komm und befreie Deine arme Marmotte, von der Du weißt, wie sie sich vor Schmerzen fürchtet. Dies ist das erste Wort, das ich nach siebzehn Jahren an Dich richte, und es ist eine Bitte. Ach, Dodo, an kein anderes Herz als an Deines würde ich eine solche Bitte zu richten wagen. Komme bald, Du wirst wissen, wie es geschehen kann. Daß ich Dir geschrieben habe, wird kein Mensch erfahren.

Deine Marmotte«

 

Dr. Bernburger las und las wieder. Es war ihm ernüchtert und ermüdet zumute. War dieser Brief vielleicht eine List, ein nachträglich angefertigtes Machwerk, das Deruga oder seine Freunde ihm in die Hände gespielt hatten? Nachdem er ihn sorgfältig untersucht und eingesehen hatte, daß ein Betrug ausgeschlossen war, schob er ihn in den Umschlag und steckte ihn in seine Brieftasche. Dann nahm er Hut und Mantel, um ins Café zu gehen. Als er nur wenige Schritte von dem Restaurant entfernt war, wo er zu Abend zu essen pflegte, kehrte er um und suchte ein anderes Lokal auf, um nicht von Bekannten angesprochen zu werden; er hatte das Bewußtsein, zerstreut zu sein, und wollte nicht auffallen.

Während er aß, mußte er denken, daß ihn nichts abhielte, den Brief in den kleinen eisernen Ofen zu werfen, der ein paar Schritte von ihm brannte. In einem Nu würden die hastigen Flammen das verhängnisvolle Zeugnis vernichtet haben. Er hatte nicht die Absicht, es zu tun, aber die Vorstellung war so lebhaft in ihm, daß ihm angst wurde, er müsse es dennoch, wie man unter dem Eindruck des Schwindels wohl fürchtet, man würde sich wider Willen von einer Höhe in den Abgrund werfen.

Wie dumm, dachte er, daß er der alten Frau, durch die er in eine so peinliche Lage versetzt war, zehn Mark gegeben hatte! Würde er es über sich bringen, von dem Mantel Gebrauch zu machen und den Brief zu verschweigen? Wenn er es tat, so war er der Bewunderung und Dankbarkeit der Baronin sicher. Welche Genugtuung würde es ihm geben, sie von seinem Scharfsinn, von der Richtigkeit seiner Auffassung, die er von Anfang an gehabt hatte, zu überzeugen! Was würde sie dagegen sagen, wenn er ihr den Brief zeigte: »Sie versprachen mir, Deruga als Verbrecher zu entlarven, und Sie verschaffen ihm einen Heiligenschein! Sie verstehen es, Wort zu halten!« Wahrscheinlich würde sie ihm verbieten, von dem Brief Gebrauch zu machen; und das war schließlich für ihn die glücklichste Lösung, indem sie ihm zur Pflicht machte, was er aus eigener Verantwortung ungern getan hätte. Und wie würde Deruga sich verhalten? Dr. Bernburger begriff nicht, warum er den wahren Hergang verschwiegen hatte. Sollte er auch seinem Anwalt nichts davon gesagt haben?

Plötzlich überkam ihn der Wunsch, in die Anlagen zu gehen und die Stelle aufzusuchen, wo die Waschfrau den Anzug gefunden haben wollte; in der Restauration mochte er ohnehin nicht bleiben, und schlafen hätte er ebensowenig können. Er hatte fast eine Stunde zu gehen, bis er an die Brücke kam, die über den Kanal führte. Der Schnee, der in der letzten Nacht gefallen war, hatte sich aufgelöst und in Schmutz verwandelt, und er hörte in der Dunkelheit die Nässe unter seinen Füßen klatschen. Die hölzerne Brücke war schlüpfrig, und das Wasser stand sehr hoch; schwarz und heimlich-hastig flog es unter ihm fort. Nach einer Weile unterschied er etwas weiter unten die wild sich aufbäumenden Wurzeln einer alten Ulme, die das Ufer umklammerte; dort mochte das Bündel Kleider, das der Fluß trieb, sich festgehängt haben.

Lange starrte der späte Wanderer auf die Stelle und ging dann weiter, bis er nach einigen Schritten vor einer halbkreisförmigen Steinbank stand, von der aus man in der schönen Jahreszeit einen angenehmen Blick auf die Wiesen hatte, die sich weithin zwischen den dunklen Gebüschen erstreckten. Vielleicht, dachte er, hatte in der stürmischen Oktobernacht Deruga dort gesessen und, nachdem er sich umgekleidet, die Stunde erwartet, wo der Zug abging, mit dem er heimfahren wollte. Vielleicht war er sehr bewegt und zugleich sehr erschöpft gewesen und hatte hier ausgeruht, wo niemand ihn beobachtete. Unwillkürlich durchwatete auch Dr. Bernburger die aufgeweichte Erde und setzte sich auf die steinerne Bank, ohne zu beachten, wie naß sie war. Was mochte Deruga gefühlt oder gedacht haben, nachdem er die Frau, die er einst geliebt und gehaßt hatte, wiedergesehen und für immer verlassen hatte? Was für Erinnerungen mochten ihn zusammen mit den raschelnden Blättern umschwirrt haben?

Indes er so sann, troff es kalt auf ihn herunter, und plötzlich überlief ihn ein Schauer, und er stand auf und ging schnell, ohne sich umzusehen, der Stadt zu.


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