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XXIV

Es ging nun schlimmer und schlimmer in allen Dingen. Die Arbeit an den Wasserwerken geriet wirklich ins Stocken, da weder der Senat noch Privatleute sich mit den nötigen Geldmitteln beteiligen wollten. Wenn man ein gründliches Vertrauen in das ganze System gehabt hätte, so würde es schwerlich dazu gekommen sein. Nun aber hatten sich allerlei Gerüchte erhoben, daß etwas Schwindelhaftes dabei sei, welche einen gewissen Grund darin hatten, daß die Anlage nicht buchstäblich nach dem Programm verlief, welches Karlsen aufgestellt hatte, indem sich im Praktischen Schwierigkeiten auftaten, die er nicht vorausgesehen hatte, die er aber überwinden zu können fest behauptete. Durch alles dies wurden Onkel Harre und Ezard, welche das Unternehmen befürwortet und eingeleitet hatten, gleichfalls in ein zweifelhaftes Licht gestellt. Der Norweger, welcher nicht durch vaterländische Anhänglichkeit an unsere Stadt gebunden war, ließ seinem Groll in mehreren Druckschriften, die er veröffentlichte, freien Lauf. Darin sagte er dem Senate sehr scharfe und unliebsame Dinge über seine Saumseligkeit und Gleichgültigkeit gegen das allgemeine Wohl, sprach davon, wie er das Geld aufhäufe, wie ein jeder von ihnen täglich nicht nur sein Huhn, sondern seinen Aal in der Suppe habe, wie sie durch ihr eigenes Wohlleben dem Staate einen Anstrich von Behäbigkeit zu geben wüßten, was aber alles nur äußerliche Ausstaffierung und Überladung mit unechtem Golde sei; denn inzwischen mangle es am Notwendigsten, und der arme Mann müsse in seinen engen, schmutzigen Häusern nicht nur unreine Luft atmen, sondern sogar faules Wasser trinken.

Solche Angriffe erbitterten die Behörde nur umsomehr, und sie glaubten, einem Fremden, der ihnen so unwirsch seine Meinung sage, müsse man zeigen, daß man sich nicht einschüchtern lasse. Ähnliche Auslassungen gegen den Senat erhoben sich auch von einer anderen Seite, diese aber richteten sich zugleich gegen meinen Onkel und meinen Vetter, während Karlsen im Gegenteil mit ihnen verbündet erschien. Jener Rheinländer nämlich, namens Philipp Wittich, den ich früher als einen Anbeter Galeidens erwähnt habe, hatte aus praktischen Gründen, oder vielleicht weil die Modernen sich damals überhaupt mit Vorliebe mit der Analyse des Körperlichen abgaben, das Studium der Medizin ergriffen, glücklich zu Ende geführt und sich zunächst als freiwilliger Assistenzarzt am Spitale unserer Stadt niedergelassen. Seine sozialistischen Ideale hatten unter der medizinischen Wissenschaft keineswegs gelitten; er war, wie dies sein Beruf mit sich bringen mochte, bedeutend schneidiger, rücksichtsloser und ich möchte sagen noch beschränkter geworden, indem es nun mit seelischer Eigenart behaftete Menschen gar nicht mehr für ihn gab, sondern nur noch nach dem Zweck variierende Organismen, denen man, wenn man sie zum Beispiel in der Längsrichtung auszudehnen wünschte, dazu nur den Brotkorb immer höher und höher hängen müßte. Die wichtige und vielbesprochene Angelegenheit der Wasserwerke veranlaßte ihn, in voller Rüstung auf den Kampfplatz zu springen. Gegen den Senat brachte er etwa dasselbe vor wie der Norweger, nur für den Volksgeschmack mit großen Übertreibungen dargestellt, zugleich aber wandte er sich an die Unternehmer, die eine gemeinnützige Anlage für sich hätten ausbeuten wollen, weswegen es nicht schade um sie sei, wenn sie nun jämmerlich darin stecken blieben, was sie aber leider wohl nicht in Wirklichkeit tun würden, denn sie hätten ihr Schäfchen wohl schon ins Trockene gebracht. Es unterlag für uns keinem Zweifel, daß der Rheinländer Galeidens wegen einen persönlichen Groll gegen Ezard hatte, dem er bei dieser Gelegenheit Genüge tat; immerhin möchte ich nicht behaupten, daß er seine Überzeugungen danach zugestutzt hätte, es gereichte ihm aber jedenfalls zur Freude, daß sie sich so trefflich mit seiner Rachlust zu einem gemeinsamen Zweck vereinigen ließen.

Während sich Onkel Harre trotz unserer Abmahnungen zu hitzigen Entgegnungen herbeiließ, verhielt sich Ezard ganz ruhig, ausgenommen, daß er den Senat durch eindringliche Vorstellungen und vernünftiges Zureden dazu zu bewegen suchte, er möchte eine an sich ausgezeichnete, der Stadt höchst notwendige Anlage nicht zu Grunde gehen lassen, sondern in seine Hand nehmen, da sie private Kräfte übersteige und ohnehin ihrer Natur nach in das Bereich des Staatlichen gehöre. Hierin gab er also Philipp Wittich recht, welcher diesen Fall als ein erwünschtes Beispiel aufgegriffen hatte, wohin es führe, wenn der einzelne an sich risse, was dem Staate gebühre. Alle diese Verwicklungen und Beziehungen schädigten Onkel Harre und Ezard mehr und mehr, und man zögerte nicht länger, das Amt, das Ezard ehemals bekleidet hatte, demjenigen, der es provisorisch übernommen hatte, als Ezard anfing sich mit dem Wasserleitungswesen abzugeben, nun endgültig zu übertragen. Um sich eine Erwerbsquelle zu eröffnen, entschloß sich Ezard nun dazu, Advokat zu werden, wozu ihn seine juristischen Kenntnisse freilich befähigten, wobei ihm aber das Mißtrauen seiner Kollegen sowohl wie des Publikums die peinlichsten Schwierigkeiten in den Weg legte. Viele der ehemaligen Bekannten zogen sich von ihm zurück, andere glaubten ihm mehr Mitleiden als Achtung zeigen zu dürfen, was er aber durch seine stolze Haltung erfolgreich abzulehnen wußte. In seinem Innern sah es allerdings noch viel elender aus, als die Mitleidigen glaubten; denn wie völlig alle seine Lebensverhältnisse zerrüttet waren, wußte man in der ganzen Tragweite doch nicht. Keiner aber von uns allen war so sehr zu beklagen wie die unglückliche Lucile. Denn die Art ihres Unglücks und hauptsächlich die Art, wie sie es ihrer Natur nach auffassen und tragen mußte, entfremdete ihr mehr und mehr unsere Herzen, die wir ohnehin nur allzugeneigt waren, Fremde, die mit unserer Familie in Zusammenhang getreten waren, als unbefugte Eindringlinge zu betrachten. Hätte man durch ihre schönen, trauernden Augen, die zwei beseelte Wesen zu sein und ihre Stummheit und ihr einsames Unverstandensein zu beklagen schienen, geradewegs in ihr Herz sehen können, so würde man ohne Zweifel all das warme Mitleiden empfunden haben, das ihr gebührte und dessen sie bedurfte. Nun aber veranlaßte sie ihre bäuerliche Herbheit und Abneigung, vielleicht mehr noch Unfähigkeit, ihre Gefühle zu äußern, daß sie durchaus nicht als das gequälte und unablässig ringende, fast erliegende Geschöpf erscheinen wollte, das sie in Wirklichkeit war. Hätte sie sich nach irgend einer Richtung hin wild leidenschaftlich geäußert, sich die Haare gerauft oder Ezard irgend etwas angetan, so würden wir sie vielleicht begriffen und mit ihr gelitten haben. Aber daß sie mit zäher Liebe an Ezard festhielt, sich dieser Liebe aber doch schämte und sie zu verstecken suchte, ließ sie oft launisch und kraftlos erscheinen; und wer hätte es uns verargen können, daß ihr Haß gegen Galeiden, so natürlich er auch an ihr war, und so berechtigt wir ihn auch fanden, uns verletzte! Sie wollte nicht bedauernswert erscheinen, konnte aber doch die Spuren der Anstrengung, die sie das kostete, Schärfe und Bitterkeit, nicht auslöschen; dadurch fühlte man sich unbehaglich in ihrer Gegenwart und mied sie. Anstößig und befremdend war es auch für uns, daß sie auf Ezards schlimme Vermögenslage keine Rücksicht nahm, vielmehr in derselben Art weiterlebte, einmal, weil er ja alles verschuldet habe, hauptsächlich aber, weil sie ihren Kindern schuldig sei, sie auf anständigem Fuße zu erziehen und sie von früh auf in einer Atmosphäre von Schönheit und Bildung atmen zu lassen. Derartige Anschauungen lagen ihrem ursprünglichen Lebenskreise ganz fern, und sie waren deswegen umso mißfälliger an ihr, weil sie nicht aus ihrer Natur hervorzugehen schienen. Daß Ezard sich Galeidens wegen eines Unrechts gegen Lucile bewußt war, gab ihr eine gewisse Macht über ihn, die sie unter andern dazu benutzte, um ihn, wo sie nur konnte, zur Teilnahme an Gesellschaften zu veranlassen, während der Unselige nichts als Bilder von Elend und Untergang vor Augen hatte. Sie tat das weniger, weil sie selbst Vergnügen dabei gefunden hätte, als weil sie glaubte, ihn dadurch zu zerstreuen, teils auch, um den Leuten zu zeigen, daß sie keineswegs die bedauernswürdige, vernachlässigte Frau sei, als welche sie selbst sich fühlte.

Ich erinnere mich einer Gesellschaft, die ich mitmachte, wo ich bei Tische meinem Vetter gegenübersaß. Aus seinem blassen Gesicht sahen mich ein Paar heiße Augen an, die mir zu erzählen schienen, wie Nacht für Nacht der wohltätige Samen des Schlafes in ihrer Glut verbrennen müßte. Dabei war trotz des sichtbaren inneren Leidens seine Haltung so starr aufrecht, daß man den Eindruck haben konnte, als trüge er eine ritterliche Rüstung unter dem modischen Frack.

Es war an diesem Abend auch von Galeiden die Rede, die sich bei Gelegenheit eines musikalischen Examens so sehr ausgezeichnet hatte, daß öffentliche Blätter es erwähnt hatten. Vielleicht wurde dieser Umstand nicht ohne Absicht in das Gespräch gebracht, indem man nämlich Ezard und Lucile, oder einen von beiden, damit zu verletzen oder sie in Verlegenheit zu bringen gedachte. Es entstand eine Pause, bis Lucile kalt bemerkte, Galeide sei ein reich beanlagtes, sehr bedeutendes Mädchen; sie habe aber trotzdem niemals gebilligt, daß Galeide nach Genf gegangen sei, denn die Pflichten eines Mädchens lägen zunächst im elterlichen Hause; es sei zwar die Pflege eines betagten Urgroßvaters weniger erheiternd und für einen rastlosen Ehrgeiz weniger ergiebig als das Studium der Musik an einem Konservatorium; aber der Ruhm, nach dem die Frau ringen dürfe, habe eben das an sich, daß er nicht nach außen prange. Den habe Galeide verschmäht; so möge sie zwar bei überspannten Menschen Bewunderung erregen, nie aber werde sie wahre Herzensliebe gewinnen.

Während ich mir überlegte, wie ich meine Schwester in der geeignetsten Weise verteidigen könnte, nämlich ohne Lucile zu verletzen, und ohne die Peinlichkeit des Gegenstandes für uns der Gesellschaft allzu deutlich werden zu lassen, ergriff Ezard das Wort und sagte, nicht ohne durch eine leichte Unsicherheit in der Stimme seine Erregung zu verraten: »Du scheinst mir in der Beurteilung dieses Falles auf einem ganz falschen Standpunkt zu stehen, Lucile. Wenn eine Frau den Lorbeer, nach dem Männer streben, zu erwerben fähig ist durch ihre Anlagen, so schmückt er sie so gut wie diese; was uns abstößt, ist nur die Ohnmacht, die sich mit vergeblichen Anstrengungen nach Höhen reckt, für die sie zu klein gewachsen ist. Galeide aber in ihrem Falle tat vollends, was sie mußte und sollte, wenn sie sich zum Gelderwerb tüchtig zu machen suchte, da es ihrem Vater nicht vergönnt war, sie in einer so sorgenfreien Stellung zurückzulassen, wie das sein heißester Wunsch und sein beständiges Trachten gewesen ist.«

In der Art, wie Ezard in diesen Worten seiner Gesinnung Ausdruck gab, lag eine Rücksichtslosigkeit gegen Lucile, die an Unmenschlichkeit grenzte, wenn man bedachte, daß sie mit unveränderter, ja gesteigerter Liebe an ihm hing, und daß ihr Haß gegen Galeiden sowie ihre zeitweilige Gereiztheit gegen Ezard nur einer berechtigten Eifersucht entsprang. Ich hebe das jetzt um der Gerechtigkeit willen hervor; damals stimmte ich in voller Sympathie Ezard zu, und erst meine Überlegung sagte mir: Wenn nun Lucile herb und unleidlich geworden ist, durch wessen Schuld ist sie so geworden, wenn nicht durch Ezards und Galeidens? Wenn ihre Entwicklung nicht gehalten hat, was ihre Anlagen Schönes, ja, ungewöhnlich Reizendes versprachen, hat das Leben ihr gehalten, was es versprach? Und wer wiederum gab ihm die Wendung, die sie aus ihrem Geleise riß?

Im Hause Ezards und Luciles herrschte ein kleinliches, stechendes, unwürdiges Elend, und dazu unabsehbar. Es erstreckte sich auch auf die Kinder, insofern als Lucile den wackeren Harreke stets weniger liebte, je mehr er Galeiden fest in ehrlicher Erinnerung trug, dagegen das kleine Mädchen recht absichtlich vorzog, welches sich denn auch immer zu ihr hielt, an sie wandte und auf sie stützte, während der Knabe ganz in seinem Vater lebte und webte.

Zu meinem Leidwesen hatte der kleine Harre einen Zug im Gesichte, der mir nicht von uns zu kommen schien. »Junge,« sagte ich einmal zu ihm, »du bist kein echter Ursleu! Woher hast du diese trotzige, vorquellende Lippe und diese breiten Fäustchen?« Es kam mir, indem ich es sagte, in den Sinn, daß ich diese selben Eigentümlichkeiten vor Jahren an Luciles Bruder Gaspard gesehen hatte, den ich, um der Abneigung Ausdruck zu geben, die er mir einflößte, Kasper genannt hatte. Ich äußerte meine Beobachtung gegen Lucile, welche ihre Richtigkeit zufrieden bestätigte. »Er soll ihm nur ähnlich werden,« sagte sie stolz; »mein Bruder ist von anderer Art als ihr Ursleuen, und ein Tropfen von seinem Blute täte euch gut. Was er für Zähne hatte!« fuhr sie nach einer Pause fort, während der sie Bilder der Vergangenheit geschaut haben mochte, »sie sahen so breit, fest und steinern aus, als müsse er Glas damit beißen können. Und ich sage dir,« schloß sie triumphierend, »er würde Glas beißen, wenn er es für nützlich hielte.« Ich sagte: »Ja, das könnten wir Ursleuen allerdings nicht. Aber wir würden es auch nie für nützlich halten.«

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