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XXXIX

Ich will noch von Gaspard, dem unseligen Verderber, sprechen, ehe ich das Buch meines Lebens schließe. Seit jenem Abend, als Galeide starb, war mein Zorn gegen ihn verraucht. Denn was er zu leiden hatte, bis er alles erfahren hatte, was die Ursache dieses Unglücks ausmachte, wäre genug gewesen, um den erbittertsten Feind seines Hasses zu entwaffnen. Bei seiner Art, verschlossen und für sich zu leben, wie eine Auster in der Schale, die niemand öffnen kann außer mit Gewalt, war er ganz auf sich angewiesen, und keiner konnte ihm helfen oder ihn trösten. Manchmal schien seine einsame Seele aus den schwarzen Augen herauszuwimmern nach liebender Teilnahme; aber man wußte ihm nicht beizukommen, und er konnte es einen nicht lehren.

Lange hörten wir nichts von ihm. Dann, nach mehreren Jahren erfuhr ich, daß er in ein Kloster seiner Heimat eingetreten sei. Es überraschte mich nicht sehr, denn sein Hang zur Melancholie und zum Alleinsein hatte ihn zu einem solchen Schritt bewegen können, selbst wenn der Schmerz um Galeiden nicht dazu gekommen wäre. Ich dachte mir, so ein uraltes Kloster mit hallenden Gewölben und geheimnisvollen Gängen sei die rechte Höhle für das menschenhassende Murmeltier, da könne es hausen und pfeifen und so viel Winterschlaf halten, wie es wolle, voll der unbeschreiblichsten Kreuz- und Querträume, und meiner alten Vorliebe für das schweizerische Gebirgsland nachgebend, machte ich mich auf, um ihn zu besuchen. Das Kloster lag unweit eines mächtigen Tannenwaldes und war alt genug, im romanischen Stile erbaut, mit dickem Gemäuer, breit und gewaltig. Gaspard führte mich in sein Zimmer, das schmucklos aussah, aber gut und friedlich; wir saßen an einem gewölbten Fenster, das die Aussicht auf den stillen Klostergarten eröffnete und darüber hinaus auf bläuliche Wälder und die erhabenen Berge. Ich hatte gedacht, mit ihm von Galeide zu sprechen, aber ihr Name wollte nicht über meine Lippen, wie er mir in seiner Kutte gegenübersaß wie ein Mönch des Mittelalters mit seinen düstern und schwärmerischen Augen. Wir sprachen also von anderen Dingen, die die Religion und das Klosterleben betrafen, wobei er sich keineswegs fanatisch, sondern schlicht und vernünftig aussprach. Freilich hielt er jeden Buchstaben seines Glaubens für unumstößlich und wäre trotz Hölle und Teufel kein Haarbreit davon abgewichen. Im Laufe der Diskussion sprach er zuweilen lateinisch, wenn seine Muttersprache für die haarspaltende Scholasterei, deren er sich geläufig bediente, nicht ausreichte; er sprach gerade nicht klassisch, aber die modernere Wendung und mir unbekannte französische Betonung hatten für mein Ohr einen eigenartigen Liebreiz, weil sie der feierlichen toten Sprache Schmelz des Lebens einhauchten. Was ich nicht gewagt hatte, nämlich von Galeide zu sprechen, tat er zuletzt in unbefangener Weise, indem er mich fragte, in wessen Besitz ihre Geige gelangt sei, und ob er sie nicht erhalten könne.

Ich sagte, daß sie in meinem Schlafzimmer an der Wand hänge und mir lieb sei, daß ich sie ihm aber geben wolle; denn ich glaubte, wenn ich Galeiden fragen könnte, würde sie ja dazu sagen. Und das sagte ich nicht nur, um über diese traurigen Augen und den entsagenden Mund, der fast nie mehr die lustigen weißen Zähne sehen ließ, noch einmal das Lächeln hinglänzen zu sehen, das mir selbst in jener furchtbaren Zeit so reizend erschienen war, sondern weil das Unerträgliche und Peinvolle der verhängnisvollen Leidenschaft sich in meiner Vorstellung gemildert, ja ganz aufgelöst hatte, seit Ezard und Galeide im heiligen Hause des Todes wieder eins geworden waren.

Ich schickte ihm Galeidens Geige, sowie ich wieder zu Hause angelangt war, und legte eine Handvoll Rosen von ihrem Grabe dazu. Geantwortet hat er mir nicht; ich habe mir aber immer vorgestellt, daß die Geige an dem Fenster hängt, wo wir damals gesessen haben, und wo die aus dem Garten hereinwehende Luft mit ihr spielen kann; daß er sie manchmal, wenn er weiß, daß ihn niemand hören kann, scheu und fest in die Arme nimmt und mit seinen täppischen, braunen Fingern ein wunderliches Getön aus den Saiten zieht, und daß er sie zuletzt in einer stillen Nacht packt und zerbricht (was ihm besser gelingen wird), damit kein anderer mit ihr singen kann, wenn er tot ist.

Viele haben mich für einen frommen oder denn einen unsinnigen Mann gehalten, daß ich den katholischen Glauben angenommen habe und in ein Kloster gegangen bin. In Wahrheit aber hat das Bekenntnis und die Religion überhaupt keinen Deut damit zu schaffen. Die Ordnung und der Frieden dieser Räume, in die das Schimmern meiner geliebten Alpen fällt, haben mich angezogen und behagen mir. Das Bedeutendste ist, daß ich in diese Abgeschiedenheit eingemauert bin wie der Tote in sein Grab; wenn mich einmal der Wahnsinn ergreifen sollte nach dem Leben, dessen Herrlichkeit den Dulder noch anlächelt mitten unter den Schmerzen, die es ihm antut, so hielte mich das Band, mit dem ich mich selber angekettet habe. Und so will ich es haben. Denn was ist das Leben des Menschen? Wie Regentropfen, die vom Himmel auf die Erde fallen, durchmessen wir unsere Spanne Zeit, vom Winde des Schicksals hin und her getrieben. Der Wind und das Schicksal haben ihre unabänderlichen Gesetze, nach denen sie sich bewegen; aber was weiß der Tropfen davon, den sie vor sich her fegen? Er rauscht mit den anderen durch die Lüfte, bis er im Sande versickern kann. Aber der Himmel sammelt sie alle wieder an sich und gießt sie wieder aus, und sammelt und vergießt wieder und wieder immer dieselben und doch andere. Ich aber, Ludolf Ursleu, habe genug vom Leben. Wenn ich dauern dürfte, so möchte ich wie ein Stern mit freundlichem Auge auf die Gefilde der Menschen sehen, schauend und wissend, unerreichbar fern. Nach menschlichen Ewigkeiten gelüstet es mich nicht. Und dennoch - wenn ich einmal wieder als kleiner Junge Hand in Hand mit Galeiden durch unseren blühenden Garten rennen könnte, unserer lachenden Mutter entgegen - würde ich nicht hundert Jahre voll Gram durchleben um dieses einen Augenblicks willen? O schweige, meine Seele; es ist vorüber.

*

 

Druck der
Union Deutsche Verlagsgesellschaft
in Stuttgart


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