Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Seit zwei Tagen fuhr der ›Grant‹ dem Süden zu.
Obgleich sich in der Lage der Passagiere nichts geändert hatte und sie von Leutnant Parr, dem neuen Kommandanten, mit aller Zuvorkommenheit und derselben Rücksicht behandelt wurden, wie vom alten Kapitän Longway, herrschte doch an Bord eine eigentümliche Unruhe und ziemlich gedrückte Stimmung. Das Verdeck lag meist verlassen da, wozu allerdings auch die Seekrankheit das ihre beitrug. Ein Thema gab unerschöpflichen Stoff zur Unterhaltung, sowohl in der gemeinsamen Kajüte, als auch in den Einzelkabinen: »Wann werden wir ein nach Europa fahrendes Schiff treffen?« Unausgesetzt waren die Ferngläser in Thätigkeit, jeder Winkel des Horizontes wurde abgesucht, ob sich nicht irgendwo, sei es in noch so weiter Ferne, eine Mastspitze, oder eine Dampfwolke sehen ließ – doch alles vergebens. Trotzdem man sich auf der Wasserstraße befand, die regelmäßig befahren wurde, ließ sich kein Fahrzeug, selbst Fischerboote nicht, im weiten Umkreise blicken. Um die Laune noch mehr zu trüben, wurde auch, wie mit einem Schlage, das Wetter schlecht.
Das Meer, bisher so zahm, begann seine Wildheit hervorzukehren. Ein heftiger Wind kam mit wütenden Stößen aus Südwest, die weißen Kämme der Wogen vor sich herjagend, die sich erbarmungslos über das Deck stürzten, alles unter Wasser setzend. Der Himmel hatte sich in dichtes graues Gewand gekleidet und schwarze Wolken stürmten in rasender Eile in der Luft dahin. Drückend und schwer lastete die Atmosphäre. Große Schwärme Sturmvögel und Möwen umkreisten als Vorboten des Aufruhrs der Elemente das Schiff, gellende Schreie ausstoßend.
Durch den entgegengesetzten Wind und die gewaltigen Wogen am Weiterkommen gehindert, machte der ›Grant‹ nur geringe Fortschritte in der Fahrt. Von den Wellen, die sich an seinem Vordersteven brachen, heftig erschüttert, schwankte das Schiff in beängstigender Weise hin und her. Bisweilen lag es auf einer Seite, daß die Schaufelräder des Backbords hoch in der Luft standen, während das andere Rad so tief im Wasser untergegangen war, daß es sich nicht mehr drehen konnte und stille stand. Es machte dies die Maschine und den Dampfer in allen Fugen erbeben und beängstigte die Passagiere, die bebend und betend in den gemeinsamen Kajüten oder ihren Kabinen lagen.
Bei Einbruch der Dunkelheit vermehrte sich die Gewalt des Sturmes. Ungeheure Wogen brachen sich an den Seiten des ›Grant‹ mit der Gewalt gigantischer Schmiedehämmer, und bogen dieselben nach innen. Reißende Wellen überspülten unaufhörlich das Deck, alles mit sich in die Tiefe nehmend, was nicht niet- und nagelfest mit den Deckplanken verbunden war. Der gewaltige Dampfer war auf dem aufgeregten Ocean wie ein Ball in der Hand des spielenden Kindes.
Gegen Mitternacht, als das Barometer immer weiter fiel und die Gewalt des Orkans sich zu verzehnfachen schien, entschloß sich Leutnant Parr, der seit Einbruch der Dunkelheit die Kommandobrücke nicht verlassen hatte, wenn auch schweren Herzens, der Macht des Sturmes zu entfliehen und, seinen Kurs aufgebend, mit aller Dampfkraft in der Richtung des Windes zu fahren. Ein Einhalten der bisherigen Richtung ließ von Minute zu Minute schweren Seeschaden erwarten, der den Untergang des schönen Schiffes zur Folge haben konnte. Nach dem vorhergegangenen war ihm diese Notwendigkeit mehr als unangenehm. Er entfernte sich dadurch weit von seinem Ziele, dem Golfe von Mexiko, wo er zu der Flotte der Südstaaten stoßen wollte; dann konnte er, höher im Norden, leicht in die Gefahr geraten, seine Beute an ein nordamerikanisches Kriegsschiff oder einen Kaper abgeben zu müssen. Sein Urteil war dann sofort gesprochen – es lautete auf Tod! Nichtsdestoweniger fügte er sich der zwingenden Gewalt und gab, den Sturm überschreiend, seine Befehle.
Kaum waren diese ausgeführt, als der ›Grant‹ mit fliegender Eile die tosenden Gewässer durchschnitt, gejagt von wilden Wogen, welche mit ihm an Schnelligkeit zu wetteifern und ihn zu verfolgen schienen. Zuweilen sah es aus, als ob eine, schneller als die andern, ihn zerschmettern wollte, doch da brach sie sich an seinem Hinterdeck, ihn mit kräftigem Stoße ein gewaltiges Stück vorwärtsschleudernd. Ein andermal war es eine Wassermasse, die sich weit über dem Schiffe erhob, sich halbkugelförmig, wie ein Zeltdach, über ihn ausbreitete und sich, alles zermalmend, auf das Verdeck stürzen wollte, doch im letzten Moment in sich zusammensank, unter seinen Kiel schoß und den Dampfer berghoch emporhob, um ihn gleich darauf wieder in einen gähnenden Abgrund, schauerlich und unergründlich, hinabgleiten zu lassen. Ein nervenzerreißendes Katze- und Mausspiel, das ganze Männer voll Unerschrockenheit und Geistesgegenwart forderte.
Beides besaß Leutnant Paar in weitem Maße und doch konnte er einem Gefühl der Ängstlichkeit nicht wehren, das seiner Machtlosigkeit gegenüber den Elementen entsprang. Mit beiden Händen fest an die Querstange der Kommandobrücke geklammert, hielt er auf seinem Posten aus, an die vielen Menschenleben denkend, die von dem glücklichen Ausgang der Fahrt abhingen. Die Matrosen verkrochen sich vor dem strömenden Regen, der unaufhörlich vom Himmel niederprasselte, ihr Gesicht wie mit Nadeln stach, ihre Kleidung bis auf die Haut durchdrang, fröstelnd und zitternd zwischen die aufgeschichteten Taue und hielten sich krampfhaft an feststehende Gegenstände, um nicht von den Sturzwellen in die grausige Tiefe hinabgefegt zu werden und rettungslos unterzugehen.
Im wasserdicht geschlossenen Innern des Schiffes, in den Salons, den Kabinen bangten die Passagiere. Die Größe der Gefahr war ihnen nicht verborgen geblieben. Von der Seekrankheit durchrüttelt, die der wilde Tanz des Schiffes im Gefolge hatte, lagen die meisten wie geistesabwesend auf den Stühlen, den Sofas oder den Betten, da ein Aufrechtstehen oder Gehen selbst alten Seebären unmöglich war. Auch Richard Werner war schwer krank in seiner Kabine. Zu der Seekrankheit hatte sich ein neuer heftiger Fieberanfall gesellt und eine todesähnliche Ohnmacht umfing ihn und raubte ihm die Erkenntnis von dem, was um ihn vorging. Bei Beginn des Sturmes hatte der kleine Paul ein Vergnügen darin gefunden, durch das dicke Glas der Luke dem Wogentanze zuzusehen und hell jauchzend erzählte er dem Vater von den ewig wechselnden Wogenbildungen, die seine lebhafte Phantasie mit allerhand Gegenständen, Gesichtern Bekannter oder von Tieren verglich. Als sich aber die Gewalt des Sturmes verstärkte, fing er an, sich zu fürchten und war, um gegen die Schwankungen und Stöße geschützt zu sein, zu seinem Vater ins Bett gekrochen. So in Sicherheit gebracht, hatte das Schaukeln des Schiffes die Wirkung einer Wiege auf den Kleinen und bald verkündeten seine regelmäßigen Atemzüge, daß er sanft entschlummert war.
Auch als der Tag sich mühsam durch die schwarzen Wolken Bahn gebrochen hatte und ein bleigraues Licht sich über den erregten Ocean breitete, raste das Unwetter mit ungeminderter Gewalt; mit der gleichen Wut brüllte der Sturm und mit der nämlichen Gier suchte das wilde Meer den ›Grant‹ zu verschlingen.
Mühsam, Schritt für Schritt mit dem Sturme kämpfend, arbeitete sich der erste Offizier Parrs zu seinem Kommandanten auf die Brücke empor.
»Bei der rasend schnellen Fahrt, die wir machen, können wir nun unmöglich mehr weit vom Lande entfernt sein,« meinte dieser zu dem Erschöpften.
»Dann befinden wir uns in sehr gefährlicher Nachbarschaft, die uns sehr übel bekommen kann,« entgegnete der Offizier.
»Die Kreuzer der Nordstaaten haben genug mit sich selbst zu thun und ich fürchte sie weit weniger, als die Klippen und Riffe des Landes, die uns unbedingt eher ins Verderben bringen, als alle feindlichen Schiffe zusammen.«
»Es scheint, Kommandant, daß die großen Wogen, die hinter uns daherstürmen und auf uns Jagd zu machen scheinen, Böses im Schilde führen,« machte der Offizier Parr aufmerksam.
»Sie haben recht. Ich werde sofort den Dampf vermindern lassen,« sagte Parr und neigte sich zu dem Mundstücke des Sprachrohrs hinab, das mit dem Maschinenraum in Verbindung stand.
In diesem Augenblicke stürzte eine ungeheure Woge, stärker und flinker als alle andern, auf das Hinterdeck des ›Grant‹, riß einen Teil der Schanzbekleidung hinweg und ergoß sich über das ganze Deck, wo sie mit einer zweiten Woge zusammenprallte. Der Gewalt dieser mußte ein weiterer Teil der Schanzbekleidung weichen. Bei ihrem Zurückfließen wurden fünf Matrosen von Deck gespült, darunter der Untersteuermann, der das Steuerrad in der Hand hielt.
Die Unglücklichen erschienen für einen Moment auf den Spitzen der gischtgekrönten Wogen, um dann für immer im Wellengrabe zu versinken. An Rettung konnte nicht gedacht werden. Jeder Versuch dazu hätte nur neues Unglück im Gefolge gehabt.
Das nun herrenlose Steuer, von keiner Hand regiert, drehte sich, durch die wirbelnde Gegenströmung hin- und hergestoßen, und ohne dessen Gegendruck wandte sich der ›Grant‹ mit fürchterlichem Schwanken und bot seine Seitenflächen dem unwiderstehlichen Anprall der Wogen dar.
Leutnant Parr, die Gefahr, in welcher sein Schiff schwebte, sofort erkennend, sprang, rasch entschlossen, von der Kommandobrücke auf Deck herab, und eilte, so rasch es die Umstände erlaubten, dem Steuerrade zu, um das Schiff wieder in die richtige Lage zu bringen.
Doch zu spät! Eine zweite Woge wälzte sich heran, zerschlug den Radkasten des Steuerbordes, und zersplitterte die Schaufeln des Rades, daß die Holzstücke in der Luft herumflogen und einen Matrosen verwundeten, und zerschmetterte dann ein Boot, welches an den Krahnen neben der Schanzverkleidung über dem Wasser hing.
Mit Hilfe des Offiziers und eines Matrosen gelang es Parr, mit fast übermenschlicher Anstrengung, den ›Grant‹ wieder in die Fahrrichtung zu bringen und das Steuerrad möglichst zu sichern; doch waren die Beschädigungen schon zu groß, als daß das Schiff imstande gewesen wäre, die Flucht vor dem Sturme weiter fortzusetzen.
Um nichts unversucht zu lassen, ließ Parr auf dem niederen der beiden Maste, die der ›Grant‹ neben seiner Maschine führte, ein Marssegel und ein Focksegel hissen und das Schiff mit dem Winde laufen. Langsam, schwerfällig folgte der Dampfer, wie ein verwundeter Schwan, der Meeresströmung. Da ließ der Dampf plötzlich nach; auch die Maschine mußte gelitten haben und, um das Unheil voll zu machen, riß ein heftiger Wogenstoß das Tau des Ankers vom Backbord. Dadurch frei geworden, pendelte das ungefüge schwere Eisenstück, jeder Bewegung des Schiffes folgend, hin und her und schlug mit der Mächtigkeit eines Schmiedehammers seine spitzen Teile an die Schiffswand.
Sobald dieser neue verhängnisvolle Unfall erkannt war, versuchten die Matrosen den Ankerbalken zu gewinnen und von diesem aus den Anker in einer Tauschlinge einzufangen und wieder zu fesseln. Doch die tosende Brandung, die sie zu ihren verunglückten Kameraden zu zerren drohte, vereitelte jede Bemühung.
»Ankertau kappen!« übertönte Leutnant Parrs Kommandoruf das Sturmgebrause.
Hageldicht, mit der Kraft der Verzweiflung geführt, schmetterten die Taktschläge auf das eisenharte Seil am Rande der Klüse, des runden Loches an den beiden Seiten des Vordersteven. Doch vergeblich, denn mit Krachen gab plötzlich die Schiffswand nach und ein Stück der Schanzverkleidung brach und durch die Bresche ergoß sich ein breiter Wasserstrom ins Innere des Dampfers. Sein Schicksal war damit besiegelt.
Das Innere des ›Grant‹ füllte sich derart mit Wasser, daß das Schiff sich nicht mehr heben konnte und dadurch dem Steuer nicht mehr gehorchte.
Die Pumpen in Thätigkeit zu setzen, wäre vergebliche Mühe gewesen, ebenso jeder Versuch, das Leck zu verstopfen.
»In zwei Stunden sinkt der ›Grant‹, ohne daß wir es hindern können,« sagte Parr dumpfen Tones, als er nach Untersuchung des Lecks auf die Kommandobrücke zurückgekehrt war.
»Ohne ein Wunder Gottes sind wir alle rettungslos verloren.«
»Vielleicht gelingt es uns, mittels der Boote zu entfliehen,« bemerkte zaghaft der erste Offizier.
»Vielleicht! Es ist der letzte Ausweg. Ob er gelingt? Wir werden es ja sehen,« entgegnete der Kommandant.
Er gab hierauf den Befehl zur Weiterfahrt und, um das unbrauchbare Steuerrad zu ersetzen, ließ er das unversehrt gebliebene Schaufelrad in Bewegung setzen.
»Auf diese Weise schöpfen wir weniger Wasser,« sagte er.
»Wenn man nun das Schiff erleichterte!« riet der erste Offizier.
»Ja, das könnte helfen. Lassen Sie sofort vom Vorderdeck alles Überflüssige in See werfen!« befahl Parr.
Ein großes Stück der Schanzverkleidung wurde ausgehoben, um durch die entstandene Öffnung schwere Baumwollballen ins Meer zu schleudern; doch bald mußte man davon abstehen, da sich die Fluten durch den willkommenen Eingang aufs Deck stürzten und den Weg nach den Schiffsräumen suchten.
Jetzt war die Lage eine verzweifelte. Der Untergang eine Frage der Zeit und nur auf wenige Stunden hinausgeschoben.
»Nun heißt es, alles zur Rettung aufbieten, nichts unversucht lassen, was helfen, retten könnte,« sprach Parr vor sich hin.
»Wir fahren auf der Hauptverkehrsstraße für Paketboote und könnte es Gott fügen, daß eines davon in Sicht kommt. Wie glücklich würde mich dies machen, der vielen an Bord befindlichen Menschen wegen.«
Auf seinen Befehl erstieg ein Matrose den großen Mast, um Ausguck nach einem Schiffe zu halten. Die Notflagge wurde gehißt, die Dampfpfeife ertönte ab und zu, soweit es die beschädigte Maschine zuließ, lange Zeit des bangen Wartens verging, ohne daß sich ein Segel oder eine Dampfwolke zeigte. Schon wollten die Reisenden an ihrer Rettung verzweifeln, als der Matrose aus dem Lugaus ein Schiff signalisierte.
Nichts zeigte, daß die Notsignale von dem Schiffe gesehen oder gehört worden seien, da es seinen Kurs zu verfolgen schien, ohne das Wrack zu beachten. Schreie der Verzweiflung der an Deck versammelten Passagiere wurden laut, bis der Dampfer, denn ein solcher war es, plötzlich wendete und so nahe an den ›Grant‹ herankam, als es seine eigene Sicherheit zuließ. Es war ein deutsches Schiff, die »Möve,« welche sich auf der Fahrt von Hamburg nach Valparaiso befand.
Das Meer hatte, sich inzwischen soweit beruhigt, daß man Boote von der »Möve« aussetzen konnte, die Passagiere überzuholen. Es war ein schweres Stück, alle die Reisenden, Männer und Frauen, Offiziere und Matrosen, sicher und der Reihe nach in die Boote zu bringen, da viele der ersteren ihre Selbstbeherrschung und Ruhe verloren hatten und nun stürmisch den Vorrang erringen wollten. Es bedurfte der ganzen Energie Parrs die Aufgeregten zu verhindern, sich in blindem Eifer ins Wasser zu stürzen, um schwimmend das rettende Schiff zu erreichen.
Während er so kalten Blutes die Rettung leitete, übertrug Parr dem ersten Offizier den Auftrag, den Grant in allen seinen Teilen nachzusehen, ob alle Insassen an Deck seien und erst auf die diesbezügliche Meldung hin verließ er, im Glauben der letzte zu sein, das Schiff, das er mit kühnen Hoffnungen betreten hatte und nun als sinkendes Wrack zurückließ.
Einige Augenblicke später stieg er die Strickleiter zur »Möve« hinan, die schnell davon dampfte…
So kam es, daß Richard Werner, sein Kind und Pieter Koopmann, der Matrose, auf dem Wracke des ›Grant‹ hilflos zurückblieben, da der beauftragte Offizier den Befehl Parrs dadurch vollführt glaubte, daß er nur einen Blick in die allgemeine Kajüte geworfen hatte.