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Trübe Wolken

Über drei Jahre waren seit der Konfirmation vergangen. Zu Ostern hatte Frieda ihr Examen mit Auszeichnung bestanden. Die Pflegeeltern hatten es durchgesetzt, daß das junge Mädchen den Sommer über noch in Buschrode blieb. Sie hatte angestrengt gearbeitet und war schmal und bleich geworden. Das ganze Befinden ließ zu wünschen übrig. Aber schon nach einigen Wochen fühlte sie sich frisch und wohl und bat, sie gehen zu lassen, sobald sich eine passende Stelle fände. Sie hatte sich mit Lust und Liebe in ihren Beruf hineingearbeitet, so daß sie, je eher je lieber, ihre Kenntnisse möglichst bald verwerten wollte. Aber dem Wunsch der Eltern hatte sie nun doch nachgegeben, wollte aber zum Herbst entschieden in ein Haus als Lehrerin gehen.

Die Sommerferien mit ihrem Besuch und den damit verbundenen Unruhen waren vorüber und es wurde still im Buschroder Pfarrhaus. Die letzten Gäste waren abgereist.

Frieda saß in ihrem Zimmer allein. Martha war einer Einladung nach Eichberg gefolgt. Auch die Eltern waren verhindert, der Pfarrer hatte eine Amtshandlung, seine Frau machte im Dorf einige notwendige Krankenbesuche. Warum sollte Martha auch nicht allein gehen? Sie hatte seit ihren Kindheitstagen bei Dorns verkehrt, und jetzt, wo die älteste Tochter, die längere Zeit auswärts gewesen war, wieder daheim war, gab es keinen Grund abzusagen.

Frieda sah sinnend und ernst vor sich hin, sie hatte den Kopf in die Hand gestützt. Plötzlich sprang sie auf und rief in lautem Selbstgespräch: »Er wird doch nicht wieder in Eichberg sein! Dann hätte ich mitgehen müssen, in dieser Beziehung bin ich Martha noch ein gewisser Schutz. Ich werde aber auf jeden Fall gehen und sie heute abend abholen.«

Nach diesem Selbstgespräch begab sie sich hinunter. Sie sah die Mutter, so nannte sie sie längst, aus dem Dorfe kommen und ging ihr entgegen.

»Ich will Martha abholen, Mutter, mein Kopfschmerz ist etwas besser.«

»Aber doch jetzt noch nicht, Liebste. Sie wollen, wie Martha sagte, für einen musikalischen Abend üben, da wird es spät werden. Es ist Mondschein, sie werden sie sicher begleiten.«

»Ist Herr Riedeck wieder in Eichfeld?«

»Gewiß, seit gestern. Hat Martha es dir nicht erzählt? Er ist bei seinem Freund zu Besuch.«

»Zu einem musikalischen Abend üben«, wie oft hatte es so geheißen, als Martha den letzten Winter noch einmal ein paar Monate in der Hauptstadt war, um Konzerte zu hören, sich an größeren musikalischen Aufführungen zu beteiligen und im Malen zu vervollkommnen. Dieses letzte Jahr war für Frieda, die überdies mit ihren Studien viel zu tun hatte, nicht leicht. Sie liebte Martha von ganzem Herzen und mußte zu ihrer Betrübnis wahrnehmen, daß mit ihr allmählich eine Veränderung vorging. Sie bekam etwas Unstetes, Flüchtiges, es zeigte sich bei ihr oft eine nervöse Unruhe. Sie war viel fort, nahm an Gesellschaften und Aufführungen teil, an und für sich nichts Unrechtes, aber Frieda merkte, daß da, wo Martha war, auch Herr Riedeck sich einstellte, daß bei Aufführungen in dieser oder jener Gesellschaft die beiden gewöhnlich die Hauptrollen bekamen, daß sie zusammen musizierten, Duette sangen, kurz bei allem gemeinsam wirkten. Er brachte sie abends nach Hause und von ihm sprach sie mit leuchtenden Augen. Frieda aber schien damit nicht einverstanden. Warum sollte Martha als ein neunzehnjähriges Mädchen nicht einem Manne ihre Zuneigung schenken, von dem sie glaubte, daß er sie glücklich machen würde?

Frieda hatte mehr Scharfblick und Menschenkenntnis als Martha. Dazu kam, daß sie einmal zufällig eine Äußerung gehört hatte, die der junge Dorn zu seiner Mutter getan hatte, als sie und Martha zum Besuch dort waren. Er wußte vielleicht nicht, daß Frieda in der Nähe war, als er halblaut sagte: »Riedeck geht nach Geld, und Martha ist die einzige Tochter des Buschroder Pfarrers.« Das hatte sie mißtrauisch gemacht. Als sie ihn dann in einer Gesellschaft über religiöse Dinge sich abfällig äußern hörte, und er sogar dabei spöttische Bemerkungen machte, fühlte sie deutlich, daß ein solcher Mann ihre Martha auf die Dauer nicht glücklich machen könnte. Martha sah in Riedeck das Urbild aller Vollkommenheit, während Frieda ihn gern als musikalisches Genie anerkennen wollte, zu seinem Charakter aber wenig Vertrauen hatte. Als sie dies gegen Martha äußerte, wurde sie sehr erregt, behauptete, ihr gegenüber zeige er sich als ein frommer Mensch, Frieda sei in einem großen Irrtum befangen. Seitdem entstand eine leichte Entfremdung zwischen beiden, die Frieda um so schmerzlicher empfand, als sie Martha sehr liebte und nur ihr Bestes wollte. Dazu kam, daß Frau Zeller Friedas Ansicht teilte, ihr, ohne daß sie danach gefragt, erzählte, dieser Herr Riedeck habe einmal mit ihr in einem Hause gewohnt, es sei ihm aber von der Wirtin gekündigt worden, weil er seine Miete nicht bezahlte. Da Martha schon über die Äußerung Friedas so außer sich war, verschwieg Frieda ihr das, aber ihr Herz war mit banger Besorgnis erfüllt, daß Martha sich binden und für ihr Leben unglücklich werden könne. Sie hoffte jedoch, daß, ehe es dazu komme, die Eltern auch noch ein Wort mitsprächen. Sie würden, nach ihrer Meinung, sich zuvor gründlich nach dem Vorleben des jungen Mannes erkundigen, bevor es zu einem entscheidenden Schritt kommen würde. Als Frieda die Hauptstadt verließ, faßte sie sich ein Herz, die Sache mit Frau Zeller zu besprechen, zumal sie bei Friedas letztem Besuch äußerte, daß man in den Familien, wo Martha verkehre, allgemein davon spräche, daß wohl im Sommer eine Verlobung im Buschroder Pfarrhaus vor sich gehen würde. Frau Zeller ging es wie Frieda, sie hatte kein Vertrauen zu Riedeck.

»Wir müssen alles tun, dagegenzuarbeiten; Martha darf nicht unglücklich werden, die Eltern, denen wir beide so viel Dank schuldig sind, dürfen nicht so etwas erleben.«

Frau Zeller hatte versucht, in den Ferien, die sie wie immer in Buschrode verleben konnte, das Gespräch auf Herrn Riedeck zu bringen, hatte aber leider wahrnehmen müssen, daß die Eltern Marthas von dem jungen Mann sehr eingenommen waren. Er sei nicht allein sehr talentvoll, sondern ein äußerst bescheidener, liebenswürdiger Mensch, der gewiß seinen Beruf in der Welt einmal ausfüllen werde. Er habe bereits in einem Konservatorium in Süddeutschland eine einträgliche Stelle und werde sicher noch als Professor der Musik angestellt. Frau Zeller konnte nichts mehr sagen. Wie sich die Sache gestalten würde, wenn die entscheidende Frage vor die Eltern gestellt würde, ließ sich noch nicht übersehen. Frau Zeller sowohl als Frieda hatten beide das Gefühl, als ob der junge Mann sich in Buschrode anders stelle, als er eigentlich war.

Als Frieda an diesem Sommerabend Martha abzuholen beabsichtigte, wollten die Eltern sie den Weg nicht allein gehen lassen. »Dorns lassen sie gewöhnlich fahren, oder man begleitet sie.«

»Nun, da will ich nur ein Stückchen das Dorf entlang gehen, es ist ein so herrlicher Abend, meinem Kopf wird es gut tun.«

Sie ging durch das stille Dorf, das im Mondschein so friedlich dalag, bis zu Webers Häuschen. Auch da brannte kein Licht mehr, alle waren längst zur Ruhe. Die Kinder müde vom Spielen und Herumtollen, Vater und Mutter von der Arbeit auf dem Felde, die am nächsten Morgen wieder früh begann. Weiter durfte sie nicht gehen, es wäre gegen der Eltern Wunsch gewesen. Sie hatte es auch nicht nötig. Schon von ferne hörte sie Lachen und fröhliches Geplauder. Ein ganzer Trupp Menschen schien daherzukommen. Bald konnte sie die Stimmen unterscheiden. Deutlich vernahm sie Riedecks und des jungen Dorn Stimme, dazwischen die Marthas und ihr silberhelles Lachen. Auch Fräulein Dorn war dabei. Nun konnte sie ja ungefährdet weiter gehen.

»Fräulein Frieda kommt uns entgegen! Sie Böse, warum kamen Sie nicht mit, haben da herrliche Musik gehabt!« rief Herr Riedeck, der Martha am Arm hatte. Martha löste sich unmerklich von ihm, kam auf Frieda zu und fragte in mitleidigem Ton: »Liebste, geht es dir besser?« Frieda bejahte die Frage und wandte sich an das Geschwisterpaar Dorn, die sie freundlich begrüßten. Sie sprachen noch einige Worte zusammen und übergaben dann Martha Friedas Schutz, weil sie nicht wollte, daß man sich weiter bemühe. »Also morgen«, flüsterte Riedeck beim Weggehen Martha zu.

Die Mädchen gingen allein die Dorfstraße entlang. Martha war aufgeregt und schwärmte von dem köstlichen Abend. Frieda hörte schweigend zu.

»Früher interessiertest du dich viel mehr für mich und meine Angelegenheiten«, sagte Martha in etwas gereiztem Ton. – »Ich interessiere mich mehr für dich als du denkst. Du weißt, daß ich dich sehr liebe.«

»Das scheint mir mitunter nicht mehr so.«

Sie waren jetzt auf dem Pfarrhof. Die Haustür wurde aufgemacht, Vaters Stimme rief:

»Nun, ihr Nachtschwärmer, seid ihr endlich da?«

Martha flog ihrem Vater in die Arme. Sie sah glücklich aus. »Es war zu schön, Väterchen, wundervoll, sag' ich dir!«

Mit väterlichem Stolz sah er auf seine hübsche Tochter, nahm sie an den Arm und führte sie zur Mutter, die schon ein wenig auf dem Sofa eingenickt war. »Mutter, hier hast du deine musikalische Tochter, sie ist einmal wieder ganz Musik.«

»Oder ganz Riedeck«, konnte Frieda nicht umhin zu denken.

Als sie oben allein waren, fing Martha an: »Frieda, du bist jetzt anders, wie sonst. Früher konntest du dich so herzlich freuen, wenn ich etwas Gutes hatte; jetzt siehst du oft mürrisch aus, als gönntest du mir nicht die Freude an der Musik.«

»Die gönne ich dir von Herzen. Ich sehe aber eine Gefahr dabei. Und, liebste Martha«, sie umarmte sie zärtlich, »wen man wirklich liebhat, den möchte man vor der Gefahr schützen.«

»Möchte wissen, was du für eine Gefahr siehst. Ich kann es mir aber schon denken. Du kannst Herrn Riedeck nicht leiden und ärgerst dich, daß er so gut zu mir ist.«

»Es ist kein Ärger, es ist nur die Sorge, es könnte eine Zuneigung von deiner Seite entstehen, ich vermag darin kein Glück für dich zu erkennen.«

»Wenn nun aber schon die Zuneigung da ist, und zwar nicht nur, wie du meinst, von einer Seite, sondern von beiden?«

»Das würde mich traurig machen. Ich könnte nur wünschen, daß deine Eltern dir abraten möchten.«

»Das wäre ein sehr unchristlicher Wunsch. Du solltest dich über mein Glück freuen.«

»Wenn du dich mit einem Mann verbinden wolltest, der mit dir das Hauptziel verfolgt, gemeinsam mit dir zum Himmel zu wandern, es sollte sich niemand mehr mit dir freuen als ich. Von Herrn Riedeck kann ich nicht glauben, daß er mit dir dies gemeinsame Ziel verfolgt, daß er dich auf die Dauer vollständig befriedigen wird. Du willst doch auch – das haben wir uns am Konfirmationstag versprochen – ganz deinem Heiland gehören, nichts tun, was dich daran hindert.«

»Als ob Riedeck mich am Gutsein hinderte! Ich möchte fast glauben, daß es ein wenig Neid von dir ist, Frieda. Du gönnst mir nicht mein Glück.«

»Dann allerdings muß ich schweigen. Du solltest mich eigentlich besser kennen, Martha.«

»Ich habe dir meine Meinung gesagt; es ist besser, wir berühren den Gegenstand nicht mehr.«

Am andern Morgen rief Frau Charlotte Frieda zu sich. »Mein liebes Kind«, begann sie, »ich möchte dich bitten, dich nicht abfällig über einen jungen Mann zu äußern, der – nun, für den unsere Martha sich interessiert, der ihr so viel ist. Denke nur, mit welcher Liebe Martha dich bei uns aufgenommen, mit welcher Liebe sie dich stets umgeben hat. Zeige ihr nun auch bei dieser Gelegenheit, daß du sie liebhast, daß du dankbar bist für –«

Frieda unterbrach sie, indem sie vor Erregung blaß geworden war. »Meine Liebe und Dankbarkeit zu euch allen ist groß, Gott weiß es. Daß ich es bis jetzt nicht zeigen kann, tut mir unendlich leid. Aber ich kann nicht heucheln, ich kann nicht anders sagen, als wie ich denke.«

»Das sollst du nicht, liebes Kind. Aber dann ist es besser zu schweigen. Zudem hat Martha ihre Eltern, die sie in ernsten Angelegenheiten beraten.«

»Ich werde schweigen«, sagte Frieda mit einem leisen Anflug von Bitterkeit.

Nach dieser Unterredung ging sie auf ihr Zimmer und weinte. Ihre Pflegemutter hatte ruhig und freundlich mit ihr gesprochen, und doch trafen einzelne Worte sie gleich spitzen Nadeln. Gerade weil sie gegen ihre Wohltäter eine fest eingewurzelte Liebe und Dankbarkeit für alles empfand, was sie an ihr getan hatten, verwundete es sie aufs tiefste, wenn diese ihre Empfindung angezweifelt wurde von denen, die ihr die Liebsten auf Erden waren. Sie fühlte sich das erstemal wieder verwaist, fühlte, sie war nicht Kind des Hauses, nur aus Mitleid und Barmherzigkeit angenommen. Stolz und Trotz waren Fehler, mit denen Frieda zu kämpfen hatte.

»Sie sollen mir keine Wohltaten mehr erweisen, ich gehe nun hinaus in die weite Welt und verdiene. Ich werde nach und nach alles abtragen, was man für mich geopfert hat, ich will keinem mehr zur Last fallen.«

Als Frieda später wieder unten war, sah Martha sie verstohlen von der Seite an. Sie merkte, daß Frieda geweint hatte, sie wußte, daß die Mutter, der sie alles geklagt, mit Frieda gesprochen hatte. Fast tat es ihr leid, sie war gegen Frieda etwas verlegen. Diese hatte sich von früh an in der Selbstbeherrschung geübt, war ruhig und freundlich wie immer, aber im Herzen saß ein Weh, das nicht so bald überwunden werden konnte.

Am Nachmittag des gleichen Tages erschien Herr Riedeck in dunklem Anzug. In der Studierstube fand eine lange Unterredung statt. An ihrem Schluß verließ Herr Riedeck das Haus, begleitet von dem Pfarrer und Martha. Nach einer halben Stunde kamen beide zurück, Martha anscheinend nicht in rosigster Stimmung. Frieda erfuhr zunächst nicht das Ergebnis; Martha, die ihr sonst alles mitteilte, schwieg hartnäckig darüber.

Erst bei einem Besuch bei der Großtante hörte sie, daß der junge Mann wirklich um Martha angehalten, der Vater aber erklärt habe, erst solle noch eine Probezeit stattfinden, man kenne den jungen Mann zu wenig, wisse weder von seinen Eltern noch von den äußeren Verhältnissen etwas. Erst wenn sich dieses alles geklärt habe, werde er seine Zustimmung geben. Frieda atmete innerlich auf, während Martha jetzt oft launenhaft und verdrossen sein konnte.

Frau Charlotte hatte natürlich ihrem Mann erzählt, was zwischen den beiden Mädchen vorgefallen war. Der Pfarrer faßte die Sache anders als seine Frau auf, die von jeher etwas blind gegen die einzige Tochter gewesen war, ihr gern und willig alle Wünsche erfüllt hatte, die zu befriedigen in ihrer Macht stand. Auch hier wäre sie bereit gewesen, sofort ihre Einwilligung zu geben. »Wir kennen ihn doch nun lange genug«, wiederholte sie ihrem Manne gegenüber. »Wir können doch unser einziges Kind durch unsere Weigerung nicht unglücklich machen.«

»Vielleicht gerade dadurch, daß wir zu schnell einwilligen«, versetzte der Pfarrer ernst. »Ich gebe viel auf Friedas klares Urteil. Sie hat in der Hauptstadt mehr Gelegenheit gehabt, ihn kennenzulernen als wir.«

So kam es, daß Marthas Vater es trotz aller Bitten durchsetzte, an der Probezeit festzuhalten, was die Tochter einmal zu der ungerechten Äußerung gegen Frieda veranlaßte: »Ich könnte längst verlobt und glücklich sein, diese langweilige Wartezeit habe ich nur dir zu verdanken.«

»Sie wird auch vergehen, Martha. Ich bin übrigens unschuldig dran, ich habe nicht mit deinen Eltern gesprochen.«

Martha schwieg; sie mußte zugeben, daß die Eltern erst durch sie erfahren hatten, daß Frieda gegen den Mann ihrer Wahl ein Vorurteil habe, ihn ihr am liebsten, wenn es gegangen wäre, abspenstig gemacht hätte.


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