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Am andern Tage gegen Abend betrat Frieda zum erstenmal seit der Unterredung mit Herrn Gruber wieder das große Geschäftshaus. Sie war etwas zaghaft und beklommen. »Vielleicht«, dachte sie, »wird auch Herr Gruber dort sein, und ich habe ihm noch keine Antwort auf seine Mitteilungen gegeben.« Sie fand einen kleinen Kreis von Herren und Damen um Veronika und ihren Gatten versammelt. Herr Gruber war nicht anwesend. Sie fühlte sich bald wohl unter den Gästen; es waren gediegene, feingebildete Leute, der Ton, der unter ihnen herrschte, war Frieda sympathisch.
Man wollte eben zu Tische gehen, da tat sich die Tür auf, und Herr Gruber erschien. Er entschuldigte sein spätes Kommen, eine dringende Angelegenheit habe ihn zurückgehalten. Er führte eine ältere Dame zu Tisch und schien Frieda kaum zu bemerken.
Nach Tisch schlug Veronika einen Gang in den Garten vor, der sich hinter dem Hause befand und für einen Stadtgarten ganz ansehnlich war. Die Gäste ergingen sich auf den verschiedenen Wegen. Frieda, die ihre alte Bekannte im Hof getroffen und einige Worte mit ihr gewechselt hatte, betrat den Garten allein und sah sich eben nach einer Begleiterin um, als Herr Gruber an ihre Seite trat.
»So allein, kleines Fräulein«, sagte er freundlich. »Und mich haben Sie bis jetzt ganz beiseite gesetzt, haben mir keine Nachricht wegen der geschäftlichen Dinge zukommen lassen. Ich habe immer darauf gewartet.«
»Ich bitte sehr um Entschuldigung, Herr Gruber, daß ich bis jetzt schwieg. Es kam mir alles so unerwartet. Es ist so freundlich von Ihnen, daß Sie sich meiner Sache so angenommen haben.«
»Es war nur meine Pflicht«, unterbrach er sie ernst. »Ich hoffe, Sie machen nun keine Schwierigkeiten mehr wegen Annahme des Geldes, das Ihnen gehört und als dessen Verwalter ich mich bis jetzt angesehen habe.«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Gruber, ich habe eingesehen, daß es nicht recht von mir ist, mich gegen die Annahme zu sträuben. Einen großen Wunsch hätte ich –«
»Und der wäre?« »Wenn ich gleich eine Summe davon erbitten dürfte, um meinem Pflegevater das zu ersetzen, was meine Ausbildung und mein Aufenthalt in einem fremden Pensionat gekostet hat. Ich reise in den Sommerferien zum Besuch dahin und möchte das Geld mitnehmen. Aber es ist eine große Summe, es werden etliche tausend Mark sein.«
Er lächelte. »Sie sollen nächstens Einsicht in die Bücher erlangen. Sie werden merken, daß das für Sie nur eine kleine Summe bedeutet.«
Sie errötete tief. »Herr Gruber!« rief sie, »das kann ich gar nicht verbrauchen, es wird wie ein Druck auf mir liegen.«
»Wenn wir das Geld, das uns von rechtswegen gehört, zur Ehre Gottes anwenden, so bringt es uns Segen.«
»Ja, wir können Gutes damit tun.« Und wieder trat das Leuchten in ihre Augen, das ihrem Gesicht einen so schönen Ausdruck verlieh. –
»Hier bist du, Frieda, und in Begleitung unseres Chefs!« sagte Veronika, die in den Laubengang trat, der am unteren Ende des Gartens lag. »Ich suchte dich schon, da sagten mir einige Damen, die an dir und Herrn Gruber vorübergegangen waren, du hättest mit Geldgeschäften zu tun. Hast dir als Erzieherin wohl schon ein hübsches Sümmchen erspart und willst es hier sicher unterbringen.«
»Wir haben allerdings viel Geschäftliches miteinander abzuwickeln, Frau Veronika«, ergriff Gruber das Wort, »und werden Sie noch bitten, uns zuweilen ein Zimmer zur Verfügung zu stellen, in dem wir verhandeln können. Fräulein Senker wird nicht Lust haben, immer zu mir zu kommen.«
Veronika machte ein verdutztes Gesicht.
»Sie sollen alles erfahren, Frau Saltino, lassen Sie sich von Ihrer Freundin hier berichten, wie die Dinge zusammenhängen. Wenn es Ihnen paßt, dürfen wir vielleicht morgen mittag uns bei Ihnen einstellen?«
»Zu jeder Zeit, zu jeder Stunde, Herr Gruber. Sie wissen, Sie sind immer willkommen, und daß meine liebe Frieda es ist, brauche ich ihr auch nicht zu sagen.«
Damit nahm sie Frieda unter den Arm und ging zu den übrigen Damen, während Herr Gruber sich den Herren anschloß, die, eine Zigarre rauchend, den herrlichen Abend im Freien genossen.
Am andern Tage schon sah man Herrn Gruber mit großen Geschäftsbüchern nach oben gehen, wo Frieda auf ihn wartete.
»Ich weiß alles«, begrüßte ihn Veronika. »Ich freue mich so sehr für meine Freundin, daß ihre Lage sich so günstig gestaltet.«
Sie verließ das Zimmer, und Herr Gruber sagte ernst: »Nun wird mein armer Onkel wohl als Betrüger entlarvt sein.« Frieda sah ihn mit ihren klaren Augen vorwurfsvoll an. »Ich weiß zu schweigen über Dinge, die nicht laut werden sollen. Ich konnte meiner Freundin, ohne unwahr zu sein, sagen, daß es sich um rückständige Gelder handele, die meinem Vater gehörten. Sie hatte den Takt, nicht weiter zu forschen.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Gruber und gab ihr die Hand. Dann schlug er die Bücher auf und erklärte und rechnete ihr alles vor, bis sie sagte: »Ich vertraue Ihnen ganz. Wenn Sie mir sagen, über wieviel ich im Jahr zu verfügen haben, und wenn Sie mir erlauben, mir Geld auszubitten, wenn ich welches gebrauche, so werde ich Ihnen sehr dankbar sein.«
»Dann soll ich Ihnen das Kapital nicht auszahlen, sondern es nach wie vor verwalten?«
»Wenn Sie die große Güte haben wollen, wenn es Ihnen nicht zu viel Mühe macht.«
»Jetzt, da alles geordnet ist, nicht mehr. Anfangs hatte ich mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen. Das beste aber ist, daß wir die Empfängerin endlich gefunden haben, das hat die größte Mühe verursacht.«
»Und doch sind wir uns ein paarmal so nahe gewesen, daß Sie keine Mühe gehabt hätten, mich zu suchen«, mußte Frieda schon antworten.
»Allerdings, bei der Schneeverwehung! Wenn ich damals geahnt hätte –«
»Sie haben mich noch viel früher gesehen.« Er sah sie verständnislos an. Da Frieda von allem durch Veronika unterrichtet war und nichts vorlag, dessen Gruber sich zu schämen hatte, konnte Frieda zu ihm davon sprechen.
»Erinnern Sie sich der Szene am Neuburger See? Erinnern Sie sich, ein junges Mädchen um ein Tuch gebeten zu haben? Das junge Mädchen war ich.«
Gruber erschrak, daß er blaß wurde. » W–a–s sagen Sie? Das Kind, das urplötzlich durch das Gebüsch kam, das ich in der Angst meines Herzens um ein Tuch bat, das sind Sie gewesen!«
»Sie baten mich zu schweigen, ich habe mein Versprechen gehalten. Davon ist bis heute nichts über meine Lippen gekommen. Sie sehen daraus, daß ich schweigen kann. Es tut mir nur leid, daß ich ein Mißtrauen gegen Sie mitnahm, da ich nicht ahnen konnte, daß ein dritter mit im Spiel war.«
»Saltino«, sagte er leise.
»Ich weiß es. Veronika hat mich über alles jetzt aufgeklärt.«
»Daher die Zurückhaltung, das scheue, mißtrauische Wesen gegen mich«, sagte er halblaut.
»Vergeben Sie mir, ich wußte es ja nicht anders.«
»Armes Kind, wie sollten Sie auch!«
Sie sprachen noch eine Weile über dies Erlebnis, bis Frieda plötzlich mit den Worten aufsprang: »Ich muß gehen, die Pflicht ruft mich.«
Von da an sahen sie sich öfter. Herr Gruber versäumte keine Gelegenheit, sie zu treffen, wenn er merkte, daß sie bei Veronika war. Auch suchte er oft einen triftigen Grund, um sie zu sprechen. Es war kein Wunder, daß in ihm immer mächtiger der Wunsch aufstieg, sie ganz an sich zu fesseln. Als er dann durch Herrn Richter von der verkümmerten Jugend des Waisenkindes erfuhr, wie die Kleine sie ertragen hatte, da wurde das Verlangen, sie von nun an zu schützen, immer mächtiger.
Sie selbst aber erblühte immer lieblicher und holder, ahnte aber nicht, daß sie mehr und mehr eine begehrenswerte Blume wurde.
Als die Sommerferien ihren Anfang nahmen, bat sie Herrn Gruber, ihr nun das versprochene Geld einzuhändigen. »Wie wär's, Fräulein Senker, wenn ich Ihnen das Geld selbst nach Buschrode brächte? Eine junge Dame darf nicht mit so vielem Geld reisen.«
»Ließe es sich denn nicht schicken?« fragte Frieda errötend. »Sie wollen mich wohl nicht bei Ihren Freunden haben?« fragte er ernst. »Ich beabsichtige doch, meinen Freund in der Nähe von Neuburg einige Tage zu besuchen, dann wäre es mir ein leichtes, einen kleinen Abstecher in Ihr Dörfchen zu machen. Aber, wenn ich nicht darf –«
»Sie dürfen«, sagte Frieda und senkte die Blicke, noch tiefer errötend. –
Sie war noch nicht zwei Tage in Buschrode, als auch schon ein Brief von Gruber an sie kam. Sie kannte die Handschrift wohl und erbrach ihn zitternd.
Er bat mit wenigen, aber inhaltschweren Worten um ihre Hand, fragte, ob sie sein rechter Teilhaber, seine treue Gefährtin im Leben werden wolle, mit ihm Freud und Leid teilen und sonst alles, was Gottes Gnade ihm bescheren wolle. Wenn nicht, so wolle er das versprochene Geld ihr durch Postanweisung zuschicken, hätte sie aber ein freudiges Ja, so würde er selbst kommen und es bringen. Die Antwort lautete: er möchte es selbst bringen!
Frieda hatte natürlich den Ihrigen alle wunderbaren Erlebnisse mitgeteilt. Die ahnten wohl, was noch kommen würde, denn als sie Martha mit dem Inhalt des Briefes bekannt machte, umarmte diese sie mit den Worten: »Ich habe mir gedacht, daß dies das Ende der wunderbaren Geschichte sein würde.«
Der Schmerz um den Tod der Mutter war durch die Zeit gemildert, es herrschte schon wieder fröhliche Stimmung im Hause. Alle Sommergäste waren wieder eingetroffen, außer den Tanten auch wieder Frau Zeller mit den Kindern. Sie wollte so gern die Freundschaft mit Buschrode aufrecht erhalten.
Und als nun Gruber dazukam, und es eine Verlobung gab unter den Bäumen und Blumen des Pfarrgartens, herrschte wieder Freude und Frohsinn, wenn auch Frieda im innersten Herzen die gütige Pflegemutter vermißte. –
Frieda fand ein reiches Glück an der Seite ihres Mannes, den sie nicht allein lieben mußte, sondern zu dem sie in vollster Hochachtung hinaufsah. Beide Menschen aber gaben Gott in allem die Ehre und waren ihren Angestellten und Untergebenen ein Vorbild, wie ein Christ in allen Lagen des Lebens sich nach Gottes Wort zu richten habe, ihm in allem zu dienen suche.
Mit Frau Roller und Margarete wurde ein starkes Freundschaftsverhältnis aufrecht erhalten, ebenso mit Veronika.
Fräulein Richter blieb als Haushälterin in der Villa und stand der jungen Frau kräftig mit Rat und Tat zur Seite. Sie blieb oben in der kleinen Wohnung mit ihrem Bruder, dem die helle Freude aus den Augen über Friedas Geschick leuchtete.
»Sie hat's verdient«, pflegte er oft zu sagen. »Sie war ein Segenskind und ist auch jetzt allen zum Segen gesetzt, mit denen sie umgeht.« –
Von Buschrode aber kam Martha jedes Jahr einmal bei Frieda zu Besuch. Als sie nach einigen Jahren auch einmal bei ihr weilte, erzählte sie ihr, daß ihr Vater sich in den Ruhestand begeben habe, und daß Pastor Marbach zum künftigen Pfarrer von Buschrode berufen sei.
»Wo bleibt Ihr denn aber?« fragte Frau Frieda.
»Wir hatten die Absicht, nach Neuburg zu ziehen. Aber vielleicht bleiben wir ganz in Buschrode. Der Pfarrer hat darum gebeten«, fügte sie errötend hinzu, »und wahrscheinlich werden wir es tun!«