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Frieda ahnte von allem nichts. Eines Morgens saß sie allein in ihrem hübschen Zimmer und war mit dem Lesen eines langen Briefes beschäftigt. Margarete war mit ihrer Mutter in die Stadt gefahren, um Einkäufe zu machen, so daß der Spaziergang unterblieb. Die Sonne schien hell und freundlich ins Zimmer, vor ihrem Fenster blühten selbstgezogene Hyazinthen und Alpenveilchen, und Frieda selbst war in froher Stimmung. Hatte sie doch so liebe Briefe von ihren früheren kleinen Schülerinnen erhalten, die noch mit großer Liebe an ihr hingen und immer wieder bedauerten, daß sie nicht bei ihnen hatte bleiben können. Auch von Frau Zeller war ein ausführlicher Brief da, den Frieda mit besonderem Interesse las. Sie sprach wieder ihre Teilnahme aus über alles Schwere, das über das Pfarrhaus von Buschrode hereingebrochen war, besonders schmerzte sie der frühe Tod der Frau Pfarrer, der sie so viel verdankte. Ihr und ihren Kindern ginge es gut. Diese entwickelten sich fröhlich in der guten Luft und bei dem Onkel im Pfarrhause, der nicht nur ausgiebig in leiblicher Beziehung für sie sorgte, sondern auch den heranwachsenden Knaben geistig viel sein konnte. Der ältere hatte schon lateinische Stunden, auch die jüngeren lernten gut, und der Onkel vertrat an der Schar Vaterstelle. Frau Zellers Lage war dadurch wesentlich besser geworden, und doch hätte sie lieber gesehen, wenn der Bruder einen eigenen Hausstand hätte gründen können. Aber daran war nach der schmerzlichen Enttäuschung, die er erfahren hatte, nicht zu denken. Doch das Melancholische in seinem Wesen verlor sich immer mehr in der Umgebung der kleinen fröhlichen Gesellschaft. Insofern hatte Frau Zeller ganz recht getan, daß sie mit ihrer Schar zu dem Bruder ins Haus gezogen war.
Nachdem Frieda den Brief gelesen hatte, legte sie ihn hin und sah sinnend zum Fenster hinaus. Wenn die gute Martha nicht so verblendet gewesen wäre und die Bitte dieses trefflichen Mannes hätte erfüllen können, wie glücklich könnte sie, könnten die Eltern jetzt sein. Aber es hatte alles so kommen müssen.
Es klopfte. Frieda fuhr aus ihren Träumereien. Der Diener brachte ein großes mächtiges Schreiben mit einem Siegel. Einen solchen umfangreichen Brief hatte sie nie in Händen gehabt. Sie betrachtete ihn von allen Seiten. Auf dem Kuvert stand: Steudel & Co. Ach, gewiß eine Anpreisung aus irgendeinem Geschäft, die Frau Roller mehr angehen würde als sie, die nicht viel zu kaufen hatte.
Mit Bedacht und ohne sonderliche Neugierde öffnete sie das Schreiben und überflog es. Sie wurde dunkelrot, als sie den Inhalt gelesen hatte, es malte sich eine gewisse Unruhe und Angst auf ihren Zügen. Das Schreiben lautete: »Sehr verehrtes Fräulein! Verzeihen Sie, wenn ich Sie ersuchen muß, sich morgen mittag zwischen zwölf und ein Uhr in den hiesigen Geschäftsräumen einzufinden. Es handelt sich um eine Sache, die für Sie von größter Wichtigkeit ist.«
Rätselhaft waren die Worte. Es mußte hier jedenfalls ein Mißverständnis vorliegen. Gewiß war eine ganz andere Person gemeint. Mit dem Geschäftshaus Steudel & Co. hatte sie nichts zu tun. Jedenfalls mußte sie die Sache mit Frau Roller besprechen, sie war eine kluge, in solchen Sachen sehr bewanderte Frau, und ihrem Rate wollte sie dann folgen.
Frau Roller schüttelte auch den Kopf, als sie den geheimnisvollen Brief gelesen hatte. »Kennen Sie denn irgend jemand aus dem Geschäft? Es ist eine gute Firma, etwas Unreelles ist nicht zu erwarten. Ich bin dafür, daß Sie zu der angegebenen Stunde hingehen, es kann ja nichts schaden. Oder, wenn Sie ängstlich sind, will ich für Sie gehen, liebes Fräulein.«
Das wollte Frieda nicht annehmen. »Wenn es zur Mitternachtstunde wäre, würde ich mich sträuben, aber am hellen Mittag kann ich's schon wagen«, scherzte sie. »Aber die Anschrift des Geschäftshauses weiß ich ja gar nicht.«
Frau Roller zeigte auf den Brief. Da stand deutlich unter dem Namen der Firma die Straße angegeben. Es war »Breitestraße 6«. »Das ist ja – das Haus, wo Saltinos wohnen.« Auf einmal ging ihr ein Licht auf. Sie hatte bis jetzt niemand von ihrer Ahnung gesagt, daß sie glaubte, aus diesem Hause zu stammen, jetzt wurde es ihr fast zur Gewißheit, daß hier irgend etwas, sei es nun angenehmer oder unangenehmer Art, mit ihr im Zusammenhang stehe. Es hatte doch vielleicht jemand Kunde von ihrem Vorhandensein, sie war in letzter Zeit öfter in dem Hause aus- und eingegangen, die alte Frau hatte sie bereits an der Ähnlichkeit mit ihrer Mutter erkannt. So machte sie sich denn am folgenden Tage auf den Weg. Etwas bänglich war ihr zumute, als sie die Stufen des Hauses emporstieg und in die Vorhalle trat.
Ein Diener kam auf sie zu, fragte, ob sie Fräulein Senker sei, und führte sie durch einen langen Korridor, öffnete die letzte Tür und meldete: »Fräulein Senker.«
Sie betrat ein hohes, elegant eingerichtetes Herrenzimmer. Dunkle schwere Portieren an Türen und Fenstern. Kostbare Bilder in vergoldeten Rahmen zierten die Wände. An einem reichgeschnitzten Schreibtisch saß ein Herr, der sich sofort erhob und auf sie zukam.
Frieda erblaßte. Er war – ihr Unbekannter, er war der dunkeläugige Herr, der ihr zuerst, als sie noch ein halbes Kind war, am Neuburger See als Schreckgestalt entgegengetreten war, es war der liebenswürdige Ritter im Schneegestöber. Was hatte er hier zu tun?
Er forderte sie zum Sitzen auf und begann: »Verzeihen Sie, daß ich Ihnen die Mühe machen mußte, hierher zu kommen; ich wußte mir nicht anders zu helfen. Was wir zu verhandeln haben, gehört nicht in die Öffentlichkeit, es kann nur hier in meinem Privatzimmer erledigt werden.«
»Sind Sie – denn – der Geschäftsinhaber, von dem ich gestern den Brief erhielt?« fragte Frieda erstaunt.
»Mein Name ist Gruber, aber ich bin seit dem Tode meines Onkels Chef der Firma Steudel & Co.«
Frieda sah ihn verwundert an. Also, er war der Chef der großen Firma, Chef des Herrn Saltino, der ihre Freundin Veronika geheiratet hatte. Daher kürzlich die Begegnung mit ihm in der Halle, als sie Frau Saltino das erste Mal besuchte.
Er sah ihr verwundertes Gesicht und sagte lächelnd: »Sie werden sich noch mehr verwundern, verehrtes Fräulein, wenn ich Ihnen meinen Teilhaber nenne.«
»Wer ist denn das?« fragte sie gespannt.
»Das sind Sie, mein verehrtes Fräulein.«
Sie erblaßte aufs neue und bat ihn, keine Scherze zu machen.
»Dazu ist die Sache zu ernst, als daß ich scherzen könnte. Lange habe ich Sie gesucht und nach Ihnen geforscht, aber es waltete ein Unstern darüber. Ich war im kleinen Städtchen Steinfeld, ich habe in der größeren Stadt, wo Ihr Herr Onkel gewohnt hat, nachgeforscht, nirgends eine Spur, bis ich Sie nun hier getroffen und zufällig Ihren Namen entdeckt habe.« Dann begann er zu berichten, wie er an das Sterbebett seines Onkels gerufen worden sei, wie der ihm reuevoll anvertraut, daß er ihren Vater oder vielmehr die Mutter mit einer bedeutenden Summe hintergangen habe. Er habe ein großes Unternehmen, in das der Vater ein Vermögen gesteckt, als gescheitert angegeben. Zu seiner Entschuldigung ließe sich nur anführen, daß er es erst selbst geglaubt habe. Es verhielt sich aber nicht so, gerade das Unternehmen hatte so reichen Gewinn gebracht, daß das Geschäft blühender und größer denn je geworden sei.
»Ihre Frau Mutter«, fuhr er fort, »hatte die Stadt verlassen und war weit fortgezogen, niemand wußte wohin. Der Onkel, ich muß es leider gestehen, steckte das Geld in seine Tasche und kümmerte sich nicht weiter um die Frau seines Teilhabers. Erst auf dem Sterbebett kam die Reue, er ließ mich rufen und nahm mir, seinem Erben, das Versprechen ab, an Frau Luise Senker gutzumachen, was er verschuldet.«
»Wenn doch meine arme Mutter diesen Tag erlebt hätte«, rief Frieda erregt. »Sie hat, so lange ich denken kann, stets mit der bittersten Armut gekämpft, hat für Geld gearbeitet, um ihrem Kinde eine gute Erziehung zu geben. Sie hat nie etwas Böses auf Herrn Steudel gesagt, ich habe seinen Namen nie nennen hören. Aber geahnt habe ich immer, daß meiner Mutter viel Leid geschehen ist.«
»An der Tochter soll nun alles gutgemacht werden.«
»Ich brauche das Geld nicht«, unterbrach Frieda ihn, mit einem Anflug von Bitterkeit. »Fremde Leute haben es mir ermöglicht, ein Seminar zu besuchen. Ich stehe jetzt auf eigenen Füßen und kann mir selbst mein Brot verdienen.« Mit diesen Worten erhob sie sich, als wollte sie gehen.
»Bitte, liebes Fräulein, wir müssen uns über die Sache verständigen. Oder halten Sie mich auch für unehrenhaft, dann allerdings muß ich die Verhandlung abbrechen und sie andern Händen übergeben.«
Er sah sie traurig an.
Ein düsteres Bild stieg vor ihren Augen auf. Der Eindruck, den sie vor Jahren gehabt, hatte sich noch nicht vollständig verwischt. Sie wollte ja gern das Beste von ihm glauben, aber sie kannte ihn so wenig. Das Ganze kam ihr so überraschend, so überwältigend, daß sie nicht wußte, was tun.
Er sah sie noch immer an, als erwarte er irgendeine Antwort. Als sie beharrlich schwieg, sagte er:
»Trauen Sie mir wirklich so wenig?«
»Bitte, lassen Sie mir Zeit, über das alles nachzudenken. Wie glücklich wäre ich gewesen, wenn meiner Mutter bei Lebzeiten dies eröffnet worden wäre, wenn sie es ein klein wenig leichter hätte haben können. Meine Mutter hat gedarbt, nun mag ich das Geld, das ihr zukam, auch nicht haben. Sie hat mir aber etwas Besseres hinterlassen als Geld und Gut, ein köstliches Erbteil, das mir nicht entrissen werden kann. Damit bin ich bis jetzt gut durch die Welt gekommen und werde es ferner können.« Er sah sie fragend an. Plötzlich nahmen ihre Züge den weichen lieblichen Ausdruck an, der ihr eigen war. Sie sagte mit sanfter Stimme: »Meine Mutter hat mich früh gelehrt, mein Vertrauen auf Gott zu setzen, sein Wort zur Regel und Richtschnur meines Lebens zu machen. Es hat mich nie betrogen.«
»In dem Punkt sind wir einig, liebes Fräulein Senker. Das ist auch bei mir der Fall. Wenn ich Gott nicht zum Beistand hätte, mein Vertrauen auf ihn setzte, wüßte ich nicht, wie ich mit den schweren Pflichten meines Berufes fertig werden sollte. Doch Sie sehen angegriffen aus. Gehen Sie nach Hause und überlegen Sie sich, was ich Ihnen anvertraut habe. Suchen Sie, wenn Sie können, über meine Person und über meinen Charakter etwas zu erfahren. Ich sehe es Ihnen an, Sie mißtrauen mir«, fügte er freundlich lächelnd hinzu. »Und haben Sie mehr Vertrauen zu mir gewonnen, so schreiben Sie mir, wir können dann eingehender über die Sache sprechen. Aber mein Teilhaber bleiben Sie trotzdem. Wir haben das Geschäft zusammen. Ihren Gewinn habe ich sorgsam und treu verwaltet, Sie können sich jederzeit davon überzeugen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich mag gar nicht viel Geld haben. Es ist mir so beklommen dabei. Doch« – sie zog ihre Uhr –, »es ist höchste Zeit zum Gehen. Frau Roller erwartet mich.«
Sie verabschiedete sich von Herrn Gruber, der sie bis an die Haustür geleitete mit den Worten: »Ich denke, ich höre bald mehr von Ihnen.«