Wilhelm von Humboldt
Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen
Wilhelm von Humboldt

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V

Von der Sicherheit gegen auswärtige Feinde brauchte ich – um zu meinem Vorhaben zurückzukehren – kaum ein Wort zu sagen, wenn es nicht die Klarheit der Hauptidee vermehrte, sie auf alle einzelne Gegenstände nach und nach anzuwenden. Allein diese Anwendung wird hier um so weniger unnütz sein, als ich mich allein auf die Wirkung des Krieges auf den Charakter der Nation und folglich auf den Gesichtspunkt beschränken werde, den ich in dieser ganzen Untersuchung als den herrschenden gewählt habe. Aus diesem nun die Sache betrachtet, ist mir der Krieg eine der heilsamsten Erscheinungen zur Bildung des Menschengeschlechts, und ungern seh ich ihn nach und nach immer mehr vom Schauplatz zurücktreten. Es ist das freilich furchtbare Extrem, wodurch jeder tätige Mut gegen Gefahr, Arbeit und Mühseligkeit geprüft und gestählt wird, der sich nachher in so verschiedene Nuancen im Menschenleben modifiziert und welcher allein der ganzen Gestalt die Stärke und Mannigfaltigkeit gibt, ohne welche Leichtigkeit Schwäche und Einheit Leere ist. Man wird mir antworten, daß es neben dem Kriege noch andre Mittel dieser Art gibt, physische Gefahren bei mancherlei Beschäftigungen und – wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf – moralische von verschiedener Gattung, welche den festen, unerschütterten Staatsmann im Kabinett wie den freimütigen Denker in seiner einsamen Zelle treffen können. Allein es ist mir unmöglich, mich von der Vorstellung loszureißen, daß wie alles Geistige nur eine feinere Blüte des Körperlichen, so auch dieses es ist. Nun lebt zwar der Stamm, auf dem sie hervorsprießen kann, in der Vergangenheit. Allein das Andenken der Vergangenheit tritt immer weiter zurück, die Zahl derer, auf welche es wirkt, vermindert sich immer in der Nation, und selbst auf diese wird die Wirkung schwächer. Andren, obschon gleich gefahrvollen Beschäftigungen, Seefahrten, dem Bergbau usf. fehlt, wenngleich mehr und minder, die Idee der Größe und des Ruhms, die mit dem Kriege so eng verbunden ist. Und diese Idee ist in der Tat nicht chimärisch. Sie beruht auf einer Vorstellung von überwiegender Macht. Den Elementen sucht man mehr zu entrinnen, ihre Gewalt mehr auszudauern, als sie zu besiegen;

– mit Göttern
soll sich nicht messen
irgend ein Mensch;

Rettung ist nicht Sieg; was das Schicksal wohltätig schenkt und menschlicher Mut oder menschliche Erfindsamkeit nur benutzt, ist nicht Frucht oder Beweis der Obergewalt. Auch denkt jeder im Kriege, das Recht auf seiner Seite zu haben, jeder eine Beleidigung zu rächen. Nun aber achtet der natürliche Mensch, und mit einem Gefühl, das auch der kultivierteste nicht ableugnen kann, es höher, seine Ehre zu reinigen, als Bedarf fürs Leben zu sammlen. Niemand wird es mir zutrauen, den Tod eines gefallenen Kriegers schöner zu nennen als den Tod eines kühnen Plinius oder, um vielleicht nicht genug geehrte Männer zu nennen, den Tod von Robert und Pilatre du Rozier. Allein diese Beispiele sind selten, und wer weiß, ob ohne jene sie überhaupt nur wären. Auch habe ich für den Krieg gerade keine günstige Lage gewählt. Man nehme die Spartaner bei Thermopylä. Ich frage einen jeden, was solch ein Beispiel auf eine Nation wirkt? Wohl weiß ichs, eben dieser Mut, eben diese Selbstverleugnung kann sich in jeder Situation des Lebens zeigen und zeigt sich wirklich in jeder. Aber will man es dem sinnlichen Menschen verargen, wenn der lebendigste Ausdruck ihn auch am meisten hinreißt, und kann man es leugnen, daß ein Ausdruck dieser Art wenigstens in der größesten Allgemeinheit wirkt? Und bei alledem, was ich auch je von Übeln hörte, welche schrecklicher wären als der Tod, ich sah noch keinen Menschen, der das Leben in üppiger Fülle genoß und der – ohne Schwärmer zu sein – den Tod verachtete. Am wenigsten aber existierten diese Menschen im Altertum, wo man noch die Sache höher als den Namen, die Gegenwart höher als die Zukunft schätzte. Was ich daher hier von Kriegern sage, gilt nur von solchen, die, nicht gebildet wie jene in Platos Republik, die Dinge, Leben und Tod, nehmen für das, was sie sind; von Kriegern, welche, das Höchste im Auge, das Höchste aufs Spiel setzen. Alle Situationen, in welchen sich die Extreme gleichsam aneinanderknüpfen, sind die interessantesten und bildendsten. Wo ist dies aber mehr der Fall als im Kriege, wo Neigung und Pflicht, und Pflicht des Menschen und des Bürgers in unaufhörlichem Streite zu sein scheinen und wo dennoch – sobald nur gerechte Verteidigung die Waffen in die Hand gab – alle diese Kollisionen die vollste Auflösung finden?

Schon der Gesichtspunkt, aus welchem allein ich den Krieg für heilsam und notwendig halte, zeigt hinlänglich, wie, meiner Meinung nach, im Staate davon Gebrauch gemacht werden müßte. Dem Geist, den er wirkt, muß Freiheit gewährt werden, sich durch alle Mitglieder der Nation zu ergießen. Schon dies spricht gegen die stehenden Armeen. Überdies sind sie und die neuere Art des Krieges überhaupt freilich weit von dem Ideale entfernt, das für die Bildung des Menschen das nützlichste wäre. Wenn schon überhaupt der Krieger mit Aufopferung seiner Freiheit gleichsam Maschine werden muß, so muß er es noch in weit höherem Grade bei unsrer Art der Kriegführung, bei welcher es soviel weniger auf die Stärke, Tapferkeit und Geschicklichkeit des einzelnen ankommt. Wie verderblich muß es nun sein, wenn beträchtliche Teile der Nationen nicht bloß einzelne Jahre, sondern oft ihr Leben hindurch im Frieden, nur zum Behuf des möglichen Krieges, in diesem maschinenmäßigen Leben erhalten werden? Vielleicht ist es nirgends so sehr als hier der Fall, daß mit der Ausbildung der Theorie der menschlichen Unternehmungen der Nutzen derselben für diejenigen sinkt, welche sich mit ihnen beschäftigen. Unleugbar hat die Kriegskunst unter den Neueren unglaubliche Fortschritte gemacht, aber ebenso unleugbar ist der edle Charakter der Krieger seltner geworden, seine höchste Schönheit existiert nur noch in der Geschichte des Altertums, wenigstens – wenn man dies für übertrieben halten sollte – hat der kriegerische Geist bei uns sehr oft bloß schädliche Folgen für die Nationen, da wir ihn im Altertum so oft von so heilsamen begleitet sehen. Allein unsre stehende Armeen bringen, wenn ich so sagen darf, den Krieg mitten in den Schoß des Friedens. Kriegsmut ist nur in Verbindung mit den schönsten friedlichen Tugenden, Kriegszucht nur in Verbindung mit dem höchsten Freiheitsgefühle ehrwürdig. Beides getrennt – und wie sehr wird eine solche Trennung durch den im Frieden bewaffneten Krieger begünstigt? –, artet diese sehr leicht in Sklaverei, jener in Wildheit und Zügellosigkeit aus. Bei diesem Tadel der stehenden Armeen sei mir die Erinnerung erlaubt, daß ich hier nicht weiter von ihnen rede, als mein gegenwärtiger Gesichtspunkt erfordert. Ihren großen, unbestrittenen Nutzen – wodurch sie dem Zuge das Gleichgewicht halten, mit dem sonst ihre Fehler sie wie jedes irdische Wesen unaufhaltbar zum Untergange dahinreißen würden – zu verkennen sei fern von mir. Sie sind ein Teil des Ganzen, welches nicht Plane eitler menschlicher Vernunft, sondern die sichre Hand des Schicksals gebildet hat. Wie sie in alles andre, unsrem Zeitalter Eigentümliche eingreifen, wie sie mit diesem die Schuld und das Verdienst des Guten und Bösen teilen, das uns auszeichnen mag, müßte das Gemälde schildern, welches uns, treffend und vollständig gezeichnet, der Vorwelt an die Seite zu stellen wagte. Auch müßte ich sehr unglücklich in Auseinandersetzung meiner Ideen gewesen sein, wenn man glauben könnte, der Staat sollte, meiner Meinung nach, von Zeit zu Zeit Krieg erregen. Er gebe Freiheit, und dieselbe Freiheit genieße ein benachbarter Staat. Die Menschen sind in jedem Zeitalter Menschen und verlieren nie ihre ursprünglichen Leidenschaften. Es wird Krieg von selbst entstehen; und entsteht er nicht, nun so ist man wenigstens gewiß, daß der Friede weder durch Gewalt erzwungen noch durch künstliche Lähmung hervorgebracht ist; und dann wird der Friede den Nationen freilich ein ebenso wohltätigeres Geschenk sein, wie der friedliche Pflüger ein holderes Bild ist als der blutige Krieger. Und gewiß ist es, denkt man sich ein Fortschreiten der ganzen Menschheit von Generation zu Generation, so müßten die folgenden Zeitalter immer die friedlicheren sein. Aber dann ist der Friede aus den inneren Kräften der Wesen hervorgegangen, dann sind die Menschen, und zwar die freien Menschen friedlich geworden. Jetzt – das beweist ein Jahr europäischer Geschichte – genießen wir die Früchte des Friedens, aber nicht die der Friedlichkeit. Die menschlichen Kräfte, unaufhörlich nach einer gleichsam unendlichen Wirksamkeit strebend, wenn sie einander begegnen, vereinen oder bekämpfen sich. Welche Gestalt der Kampf annehme, ob die des Krieges oder des Wetteifers oder welche sonst man nuancieren möge, hängt vorzüglich von ihrer Verfeinerung ab.

Soll ich jetzt auch aus diesem Räsonnement einen zu meinem Endzweck dienenden Grundsatz ziehen, so muß der Staat den Krieg auf keinerlei Weise befördern, allein auch ebensowenig, wenn die Notwendigkeit ihn fordert, gewaltsam verhindern; dem Einflusse desselben auf Geist und Charakter sich durch die ganze Nation zu ergießen völlige Freiheit verstatten und vorzüglich sich aller positiven Einrichtungen enthalten, die Nation zum Kriege zu bilden, oder ihnen, wenn sie denn, wie z. B. Waffenübungen der Bürger, schlechterdings notwendig sind, eine solche Richtung geben, daß sie derselben nicht bloß die Tapferkeit, Fertigkeit und Subordination eines Soldaten beibringen, sondern den Geist wahrer Krieger oder vielmehr edler Bürger einhauchen, welche für ihr Vaterland zu fechten immer bereit sind.


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