Wilhelm von Humboldt
Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen
Wilhelm von Humboldt

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XVI

Jede Entwicklung von Wahrheiten, welche sich auf den Menschen und insbesondre auf den handlenden Menschen beziehen, führt auf den Wunsch, dasjenige, was die Theorie als richtig bewährt, auch in der Wirklichkeit ausgeführt zu sehen. Dieser Wunsch ist der Natur des Menschen, dem so selten der still wohltätige Segen bloßer Ideen genügt, angemessen, und seine Lebhaftigkeit wächst mit der wohlwollenden Teilnahme an dem Glück der Gesellschaft. Allein wie natürlich derselbe auch an sich und wie edel in seinen Quellen er sein mag, so hat er doch nicht selten schädliche Folgen hervorgebracht und oft sogar schädlichere als die kältere Gleichgültigkeit oder – da auch gerade aus dem Gegenteil dieselbe Wirkung entstehen kann – die glühende Wärme, welche, minder bekümmert um die Wirklichkeit, sich nur an der reinen Schönheit der Ideen ergötzt. Denn das Wahre, sobald es – wäre es auch nur in einem Menschen – tief eindringende Wurzeln faßt, verbreitet immer, nur langsamer und geräuschloser, heilsame Folgen auf das wirkliche Leben; da hingegen das, was unmittelbar auf dasselbe übergetragen wird, nicht selten bei der Übertragung selbst seine Gestalt verändert und nicht einmal auf die Ideen zurückwirkt. Daher gibt es auch Ideen, welche der Weise nie nur auszuführen versuchen würde. Ja für die schönste, gereifteste Frucht des Geistes ist die Wirklichkeit nie, in keinem Zeitalter, reif genug; das Ideal muß der Seele des Bildners jeder Art nur immer als unerreichbares Muster vorschweben. Diese Gründe empfehlen demnach auch bei der am mindesten bezweifelten, konsequentesten Theorie mehr als gewöhnliche Vorsicht in der Anwendung derselben; und um so mehr bewegen sie mich noch, ehe ich diese ganze Arbeit beschließe, so vollständig, aber zugleich so kurz, als mir meine Kräfte erlauben, zu prüfen, inwiefern die im vorigen theoretisch entwickelten Grundsätze in die Wirklichkeit übergetragen werden könnten. Diese Prüfung wird zugleich dazu dienen, mich vor der Beschuldigung zu bewahren, als wollte ich durch das Vorige unmittelbar der Wirklichkeit Regeln vorschreiben oder auch nur dasjenige mißbilligen, was demselben etwa in ihr widerspricht – eine Anmaßung, von der ich sogar dann entfernt sein würde, wenn ich auch alles, was ich vorgetragen habe, als völlig richtig und gänzlich zweifellos anerkennte.

Bei jeglicher Umformung der Gegenwart muß auf den bisherigen Zustand ein neuer folgen. Nun aber bringt jede Lage, in welcher sich die Menschen befinden, jeder Gegenstand, der sie umgibt, eine bestimmte, feste Form in ihrem Innren hervor. Diese Form vermag nicht in jede andre selbstgewählte überzugehen, und man verfehlt zugleich seines Endzwecks und tötet die Kraft, wenn man ihr eine unpassende aufdringt. Wenn man die wichtigsten Revolutionen der Geschichte übersieht, so entdeckt man ohne Mühe, daß die meisten derselben aus den periodischen Revolutionen des menschlichen Geistes entstanden sind. Noch mehr wird man in dieser Ansicht bestätigt, wenn man die Kräfte überschlägt, welche eigentlich alle Veränderungen auf dem Erdkreis bewirken, und unter diesen die menschlichen – da die der physischen Natur wegen ihres gleichmäßigen, ewig einförmig wiederkehrenden Ganges in dieser Rücksicht weniger wichtig und die der vernunftlosen Geschöpfe in eben derselben an sich unbedeutend sind – in dem Besitze des Hauptanteils erblickt. Die menschliche Kraft vermag sich in einer Periode nur auf eine Weise zu äußern, aber diese Weise unendlich mannigfaltig zu modifizieren; sie zeigt daher in jedem Moment eine Einseitigkeit, die aber in einer Folge von Perioden das Bild einer wunderbaren Vielseitigkeit gewährt. Jeder vorhergehende Zustand derselben ist entweder die volle Ursach des folgenden oder doch wenigstens die beschränkende, daß die äußern, andringenden Umstände nur gerade diesen hervorbringen können. Eben dieser vorhergehende Zustand und die Modifikation, welche er erhält, bestimmt daher auch, wie die neue Lage der Umstände auf den Menschen wirken soll, und die Macht dieser Bestimmung ist so groß, daß diese Umstände selbst oft eine ganz andre Gestalt dadurch erhalten. Daher rührt es, daß alles, was auf der Erde geschieht, gut und heilsam genannt werden kann, weil die innere Kraft des Menschen es ist, welche sich alles, wie seine Natur auch sein möge, bemeistert, und diese innere Kraft in keiner ihrer Äußerungen, da doch jede ihr von irgendeiner Seite mehr Stärke oder mehr Bildung verschafft, je anders als – nur in verschiedenen Graden – wohltätig wirken kann. Daher ferner, daß sich vielleicht die ganze Geschichte des menschlichen Geschlechts bloß als eine natürliche Folge der Revolutionen der menschlichen Kraft darstellen ließe; welches nicht nur überhaupt vielleicht die lehrreichste Bearbeitung der Geschichte sein dürfte, sondern auch jeden auf Menschen zu wirken Bemühten belehren würde, welchen Weg er die menschliche Kraft mit Fortgang zu führen versuchen und welchen er niemals derselben zumuten müßte. Wie daher diese innre Kraft des Menschen durch ihre Achtung erregende Würde die vorzüglichste Rücksicht verdient, ebenso nötigt sie auch diese Rücksicht durch die Gewalt ab, mit welcher sie sich alle übrigen Dinge unterwirft.

Wer demnach die schwere Arbeit versuchen will, einen neuen Zustand der Dinge in den bisherigen kunstvoll zu verweben, der wird vor allem sie nie aus den Augen verlieren dürfen. Zuerst muß er daher die volle Wirkung der Gegenwart auf die Gemüter abwarten; wollte er hier zerschneiden, so könnte er zwar vielleicht die äußre Gestalt der Dinge, aber nie die innere Stimmung der Menschen umschaffen, und diese würde wiederum sich in alles Neue übertragen, was man gewaltsam ihr aufgedrungen hätte. Auch glaube man nicht, daß je voller man die Gegenwart wirken läßt, desto abgeneigter der Mensch gegen einen andren folgenden Zustand werde. Gerade in der Geschichte des Menschen sind die Extreme am nächsten miteinander verknüpft; und jeder äußre Zustand, wenn man ihn ungestört fortwirken läßt, arbeitet, statt sich zu befestigen, an seinem Untergange. Dies zeigt nicht nur die Erfahrung aller Zeitalter, sondern es ist auch der Natur des Menschen gemäß, sowohl des tätigen, welcher nie länger bei einem Gegenstand verweilt, als seine Energie Stoff daran findet, und also gerade dann am leichtesten übergeht, wenn er sich am ungestörtesten damit beschäftigt hat, als auch des leidenden, in welchem zwar die Dauer des Drucks die Kraft abstumpft, aber auch den Druck um so härter fühlen läßt. Ohne nun aber die gegenwärtige Gestalt der Dinge anzutasten, ist es möglich, auf den Geist und den Charakter der Menschen zu wirken, möglich, diesem eine Richtung zu geben, welche jener Gestalt nicht mehr angemessen ist; und gerade das ist es, was der Weise zu tun versuchen wird. Nur auf diesem Wege ist es möglich, den neuen Plan gerade so in der Wirklichkeit auszuführen, als man ihn sich in der Idee dachte; auf jedem andren wird er, den Schaden noch abgerechnet, den man allemal anrichtet, wenn man den natürlichen Gang der menschlichen Entwicklung stört, durch das, was noch von dem vorhergehenden in der Wirklichkeit oder in den Köpfen der Menschen übrig ist, modifiziert, verändert, entstellt. Ist aber dies Hindernis aus dem Wege geräumt, kann der neu beschlossene Zustand der Dinge, des vorhergehenden und der durch denselben bewirkten Lage der Gegenwart ungeachtet, seine volle Wirkung äußern, so darf auch nichts mehr der Ausführung der Reform im Wege stehn. Die allgemeinsten Grundsätze der Theorie aller Reformen dürften daher vielleicht folgende sein:

1. Man trage Grundsätze der reinen Theorie allemal alsdann, aber nie eher in die Wirklichkeit über, als bis diese in ihrem ganzen Umfange dieselben nicht mehr hindert, diejenigen Folgen zu äußern, welche sie, ohne alle fremde Beimischung, immer hervorbringen würden.

2. Um den Übergang von dem gegenwärtigen Zustande zum neu beschlossenen zu bewirken, lasse man, so viel möglich, jede Reform von den Ideen und den Köpfen der Menschen ausgehen.

Bei den im vorigen aufgestellten, bloß theoretischen Grundsätzen war ich zwar überall von der Natur des Menschen ausgegangen, auch hatte ich in demselben kein außerordentliches, sondern nur das gewöhnliche Maß der Kräfte vorausgesetzt; allein immer hatte ich ihn mir doch bloß in der ihm notwendig eigentümlichen Gestalt und noch durch kein bestimmtes Verhältnis auf diese oder jene Weise gebildet gedacht. Nirgends aber existiert der Mensch so, überall haben ihm schon die Umstände, in welchen er lebt, eine positive, nur mehr oder minder abweichende Form gegeben. Wo also ein Staat die Grenzen seiner Wirksamkeit nach den Grundsätzen einer richtigen Theorie auszudehnen oder einzuschränken bemüht ist, da muß er auf diese Form eine vorzügliche Rücksicht nehmen. Das Mißverhältnis zwischen der Theorie und der Wirklichkeit in diesem Punkte der Staatsverwaltung wird nun zwar, wie sich leicht voraussehen läßt, überall in einem Mangel an Freiheit bestehen, und so kann es scheinen, als wäre die Befreiung von Fesseln in jeglichem Zeitpunkt möglich und in jeglichem wohltätig. Allein wie wahr auch diese Behauptung an sich ist, so darf man nicht vergessen, daß, was als Fessel von der einen Seite die Kraft hemmt, auch von der andren Stoff wird, ihre Tätigkeit zu beschäftigen. Schon in dem Anfange dieses Aufsatzes habe ich bemerkt, daß der Mensch mehr zur Herrschaft als zur Freiheit geneigt ist, und ein Gebäude der Herrschaft freut nicht bloß den Herrscher, der es aufführt und erhält, sondern selbst die dienenden Teile erhebt der Gedanke, Glieder eines Ganzen zu sein, welches sich über die Kräfte und die Dauer einzelner Generationen hinauserstreckt. Wo daher diese Ansicht noch herrschend ist, da muß die Energie hinschwinden und Schlaffheit und Untätigkeit entstehen, wenn man den Menschen zwingen will, nur in sich und für sich, nur in dem Raume, den seine einzelnen Kräfte umspannen, nur für die Dauer, die er durchlebt, zu wirken. Zwar wirkt er allein auf diese Weise auf den unbeschränktesten Raum, für die unvergänglichste Dauer; allein er wirkt auch nicht so unmittelbar, er streut mehr sich selbst entwickelnden Samen aus, als er Gebäude aufrichtet, welche geradezu Spuren seiner Hand aufweisen, und es ist ein höherer Grad von Kultur notwendig, sich mehr an der Tätigkeit zu erfreuen, welche nur Kräfte schafft und ihnen selbst die Erzeugung der Resultate überläßt, als an derjenigen, welche unmittelbar diese selbst aufstellt. Dieser Grad der Kultur ist die wahre Reife der Freiheit. Allein diese Reife findet sich nirgends in ihrer Vollendung und wird in dieser – meiner Überzeugung nach – auch dem sinnlichen, so gern aus sich herausgehenden Menschen ewig fremd bleiben.

Was würde also der Staatsmann zu tun haben, der eine solche Umänderung unternehmen wollte? Einmal in jedem Schritt, den er neu, nicht in Gefolge der einmaligen Lage der Dinge täte, der reinen Theorie streng folgen, es müßte denn ein Umstand in der Gegenwart liegen, welcher, wenn man sie ihr aufpfropfen wollte, sie verändern, ihre Folgen ganz oder zum Teil vernichten würde. Zweitens alle Freiheitsbeschränkungen, die einmal in der Gegenwart gegründet wären, so lange ruhig bestehen lassen, bis die Menschen durch untrügliche Kennzeichen zu erkennen geben, daß sie dieselben als einengende Fesseln ansehen, daß sie ihren Druck fühlen und also in diesem Stücke zur Freiheit reif sind; dann aber dieselben ungesäumt entfernen. Endlich die Reife zur Freiheit durch jegliches Mittel befördern. Dies letztere ist unstreitig das Wichtigste und zugleich in diesem System das Einfachste. Denn durch nichts wird diese Reife zur Freiheit in gleichem Grade befördert als durch Freiheit selbst. Diese Behauptung dürften zwar diejenigen nicht anerkennen, welche sich so oft gerade dieses Mangels der Reife als eines Vorwandes bedient haben, die Unterdrückung fortdauern zu lassen. Allein sie folgt, dünkt mich, unwidersprechlich aus der Natur des Menschen selbst. Mangel an Reife zur Freiheit kann nur aus Mangel intellektueller und moralischer Kräfte entspringen; diesem Mangel wird allein durch Erhöhung derselben entgegengearbeitet; diese Erhöhung aber fordert Übung und die Übung Selbsttätigkeit erweckende Freiheit. Nur freilich heißt es nicht Freiheit geben, wenn man Fesseln löst, welche der noch nicht als solche fühlt, welcher sie trägt. Von keinem Menschen der Welt aber, wie verwahrlost er auch durch die Natur, wie herabgewürdigt durch seine Lage sei, ist dies mit allen Fesseln der Fall, die ihn drücken. Man löse also nach und nach gerade in eben der Folge, wie das Gefühl der Freiheit erwacht, und mit jedem neuen Schritt wird man den Fortschritt beschleunigen. Große Schwierigkeiten können noch die Kennzeichen dieses Erwachens erregen. Allein diese Schwierigkeiten liegen nicht sowohl in der Theorie als in der Ausführung, die freilich nie spezielle Regeln erlaubt, sondern, wie überall so auch hier, allein das Werk des Genies ist. In der Theorie würde ich mir diese freilich sehr schwierig verwickelte Sache auf folgende Art deutlich zu machen suchen.

Der Gesetzgeber müßte zwei Dinge unausbleiblich vor Augen haben: 1. die reine Theorie, bis in das genaueste Detail ausgesponnen, 2. den Zustand der individuellen Wirklichkeit, die er umzuschaffen bestimmt wäre. Die Theorie müßte er nicht nur in allen ihren Teilen auf das genaueste und vollständigste übersehen, sondern er müßte auch die notwendigen Folgen jedes einzelnen Grundsatzes in ihrem ganzen Umfange, in ihrer mannigfaltigen Verwebung und in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit einer von der andren, wenn nicht alle Grundsätze auf einmal realisiert werden könnten, vor Augen haben. Ebenso müßte er – und dies Geschäft wäre freilich unendlich schwieriger – sich von dem Zustande der Wirklichkeit unterrichten, von allen Banden, welche der Staat den Bürgern und welche sie sich selbst, gegen die reinen Grundsätze der Theorie, unter dem Schutze des Staats auflegen, und von allen Folgen derselben. Beide Gemälde müßte er nun miteinander vergleichen, und der Zeitpunkt, einen Grundsatz der Theorie in die Wirklichkeit überzutragen, wäre da, wenn in der Vergleichung sich fände, daß, auch nach der Übertragung, der Grundsatz unverändert bleiben und noch eben die Folgen hervorbringen würde, welche das erste Gemälde darstellte; oder, wenn dies nicht ganz der Fall wäre, sich doch voraussehen ließe, daß diesem Mangel alsdann, wenn die Wirklichkeit der Theorie noch mehr genähert wäre, abgeholfen werden würde. Denn dies letzte Ziel, diese gänzliche Näherung müßte den Blick des Gesetzgebers unablässig an sich ziehen.

Diese gleichsam bildliche Vorstellung kann sonderbar und vielleicht noch mehr als das scheinen, man kann sagen, daß diese Gemälde nicht einmal treu erhalten, viel weniger noch die Vergleichung genau angestellt werden könne. Alle diese Einwürfe sind gegründet, allein sie verlieren sehr vieles von ihrer Stärke, wenn man bedenkt, daß die Theorie immer nur Freiheit verlangt, die Wirklichkeit, insofern sie von ihr abweicht, immer nur Zwang zeigt, die Ursach, warum man nicht Freiheit gegen Zwang eintauscht, immer nur Unmöglichkeit sein und diese Unmöglichkeit hier, der Natur der Sache nach, nur in einem von folgenden beiden Stücken liegen kann, entweder daß die Menschen oder daß die Lage noch nicht für die Freiheit empfänglich ist, daß also dieselbe – welches aus beiden Gründen entspringen kann – Resultate zerstört, ohne welche nicht nur keine Freiheit, sondern auch nicht einmal Existenz gedacht werden kann, oder daß sie – eine allein der ersteren Ursach eigentümliche Folge – die heilsamen Wirkungen nicht hervorbringt, welche sie sonst immer begleiten. Beides aber läßt sich doch nicht anders beurteilen, als wenn man beides, den gegenwärtigen und den veränderten Zustand, in seinem ganzen Umfang sich vorstellt und seine Gestalt und Folgen sorgfältig miteinander vergleicht. Die Schwierigkeit sinkt auch noch mehr, wenn man erwägt, daß der Staat selbst nicht eher umzuändern imstande ist, bis sich ihm gleichsam die Anzeigen dazu in den Bürgern selbst darbieten, Fesseln nicht eher zu entfernen, bis ihre Last drückend wird, daß er daher überhaupt gleichsam nur Zuschauer zu sein und, wenn der Fall, eine Freiheitsbeschränkung aufzuheben, eintritt, nur die Möglichkeit oder Unmöglichkeit zu berechnen und sich daher nur durch die Notwendigkeit bestimmen zu lassen braucht. Zuletzt brauche ich wohl nicht erst zu bemerken, daß hier nur von dem Falle die Rede war, wo dem Staate eine Umänderung überhaupt nicht nur physisch, sondern auch moralisch möglich ist, wo also die Grundsätze des Rechts nicht entgegenstehen. Nur darf bei dieser letzteren Bestimmung nicht vergessen werden, daß das natürliche und allgemeine Recht die einzige Grundlage alles übrigen positiven ist und daß daher auf dieses allemal zurückgegangen werden muß, daß folglich, um einen Rechtssatz anzuführen, welcher gleichsam der Quell aller übrigen ist, niemand jemals und auf irgendeine Weise ein Recht erlangen kann, mit den Kräften oder dem Vermögen eines andren ohne oder gegen dessen Einwilligung zu schalten.

Unter dieser Voraussetzung also wage ich es, den folgenden Grundsatz aufzustellen: Der Staat muß in Absicht der Grenzen seiner Wirksamkeit den wirklichen Zustand der Dinge der richtigen und wahren Theorie insoweit nähern, als ihm die Möglichkeit dies erlaubt und ihn nicht Gründe wahrer Notwendigkeit daran hindern. Die Möglichkeit aber beruht darauf, daß die Menschen empfänglich genug für die Freiheit sind, welche die Theorie allemal lehrt, daß diese die heilsamen Folgen äußern kann, welche sie an sich ohne entgegenstehende Hindernisse immer begleiten; die entgegenarbeitende Notwendigkeit darauf, daß die auf einmal gewährte Freiheit nicht Resultate zerstöre, ohne welche nicht nur jeder fernere Fortschritt, sondern die Existenz selbst in Gefahr gerät. Beides muß immer aus der sorgfältig angestellten Vergleichung der gegenwärtigen und der veränderten Lage und ihrer beiderseitigen Folgen beurteilt werden. Dieser Grundsatz ist ganz und gar aus der Anwendung des oben, in Absicht aller Reformen aufgestellten (s.  S. 197) auf diesen speziellen Fall entstanden. Denn sowohl wenn es noch an Empfänglichkeit für die Freiheit fehlt, als wenn die notwendigen erwähnten Resultate durch dieselbe leiden würden, hindert die Wirklichkeit die Grundsätze der reinen Theorie, diejenigen Folgen zu äußern, welche sie ohne alle fremde Beimischung immer hervorbringen würden. Ich setze auch jetzt nichts mehr zur weiteren Ausführung des aufgestellten Grundsatzes hinzu. Zwar könnte ich mögliche Lagen der Wirklichkeit klassifizieren und an ihnen die Anwendung desselben zeigen. Allein ich würde dadurch meinen eignen Prinzipien zuwiderhandlen. Ich habe nämlich gesagt, daß jede solche Anwendung die Übersicht des Ganzen und aller seiner Teile im genauesten Zusammenhange erfordert, und ein solches Ganze läßt sich durch bloße Hypothesen nicht aufstellen.

Verbinde ich mit dieser Regel für das praktische Benehmen des Staats die Gesetze, welche die im vorigen entwickelte Theorie ihm auflegte, so darf derselbe seine Tätigkeit immer nur durch die Notwendigkeit bestimmen lassen. Denn die Theorie erlaubte ihm allein Sorgfalt für die Sicherheit, weil die Erreichung dieses Zwecks allein dem einzelnen Menschen unmöglich und daher diese Sorgfalt allein notwendig ist, und die Regel des praktischen Benehmens bindet ihn streng an die Theorie, insofern nicht die Gegenwart ihn nötigt, davon abzugehn. So ist es also das Prinzip der Notwendigkeit, zu welchem alle in diesem ganzen Aufsatz vorgetragene Ideen wie zu ihrem letzten Ziele hinstreben. In der reinen Theorie bestimmt allein die Eigentümlichkeit des natürlichen Menschen die Grenzen dieser Notwendigkeit; in der Ausführung kommt die Individualität des wirklichen hinzu. Dieses Prinzip der Notwendigkeit müßte, wie es mir scheint, jedem praktischen, auf den Menschen gerichteten Bemühen die höchste Regel vorschreiben. Denn es ist das einzige, welches auf sichre, zweifellose Resultate führt. Das Nützliche, was ihm entgegengesetzt werden kann, erlaubt keine reine und gewisse Beurteilung. Es erfordert Berechnungen der Wahrscheinlichkeit, welche, noch abgerechnet, daß sie ihrer Natur nach nicht fehlerfrei sein können, Gefahr laufen, durch die geringsten unvorhergesehenen Umstände vereitelt zu werden; da hingegen das Notwendige sich selbst dem Gefühl mit Macht aufdringt und, was die Notwendigkeit befiehlt, immer nicht nur nützlich, sondern sogar unentbehrlich ist. Dann macht das Nützliche, da die Grade des Nützlichen gleichsam unendlich sind, immer neue und neue Veranstaltungen erforderlich, da hingegen die Beschränkung auf das, was die Notwendigkeit erheischt, indem sie der eignen Kraft einen größeren Spielraum läßt, selbst das Bedürfnis dieser verringert. Endlich führt Sorgfalt für das Nützliche meistenteils zu positiven, für das Notwendige meistenteils zu negativen Veranstaltungen, da – bei der Stärke der selbsttätigen Kraft des Menschen – Notwendigkeit nicht leicht anders als zur Befreiung von irgendeiner einengenden Fessel eintritt. Aus allen diesen Gründen – welchen eine ausführlichere Analyse noch manchen andren beigesellen könnte – ist kein andres Prinzip mit der Ehrfurcht für die Individualität selbsttätiger Wesen und der aus dieser Ehrfurcht entspringenden Sorgfalt für die Freiheit so vereinbar als eben dieses. Endlich ist es das einzige untrügliche Mittel, den Gesetzen Macht und Ansehen zu verschaffen, sie allein aus diesem Prinzip entstehen zu lassen. Man hat vielerlei Wege vorgeschlagen, zu diesem Endzweck zu gelangen; man hat vorzüglich, als das sicherste Mittel, die Bürger von der Güte und der Nützlichkeit der Gesetze überzeugen wollen. Allein auch diese Güte und Nützlichkeit in einem bestimmten Falle zugegeben, so überzeugt man sich von der Nützlichkeit einer Einrichtung nur immer mit Mühe; verschiedene Ansichten bringen verschiedene Meinungen hierüber hervor; und die Neigung selbst arbeitet der Überzeugung entgegen, da jeder, wie gern er auch das selbsterkannte Nützliche ergreift, sich doch immer gegen das ihm aufgedrungene sträubt. Unter das Joch der Notwendigkeit hingegen beugt jeder willig den Nacken. Wo nun schon einmal eine verwickelte Lage vorhanden ist, da ist die Einsicht selbst des Notwendigen schwieriger; aber gerade mit der Befolgung dieses Prinzips wird die Lage immer einfacher und diese Einsicht immer leichter.

 

Ich bin jetzt das Feld durchlaufen, das ich mir bei dem Anfange dieses Aufsatzes absteckte. Ich habe mich dabei von der tiefsten Achtung für die innere Würde des Menschen und die Freiheit beseelt gefühlt, welche allein dieser Würde angemessen ist. Möchten die Ideen, die ich vortrug, und der Ausdruck, den ich ihnen lieh, dieser Empfindung nicht unwert sein!


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