Wilhelm von Humboldt
Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen
Wilhelm von Humboldt

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Nur daß man sich überzeugt hält, ohne bestimmte, geglaubte Religionssätze oder wenigstens ohne Aufsicht des Staats auf die Religion der Bürger könne auch äußre Ruhe und Sittlichkeit nicht bestehen, ohne sie sei es der bürgerlichen Gewalt unmöglich, das Ansehen der Gesetze zu erhalten, macht, daß man jenen Betrachtungen kein Gehör gibt. Und doch bedürfte der Einfluß, den Religionssätze, die auf diese Weise angenommen werden, und überhaupt jede durch Veranstaltungen des Staats beförderte Religiosität haben soll, wohl erst einer strengeren und genaueren Prüfung. Bei dem rohern Teile des Volks rechnet man von allen Religionswahrheiten am meisten auf die Ideen künftiger Belohnungen und Bestrafungen. Diese mindern den Hang zu unsittlichen Handlungen nicht, befördern nicht die Neigung zum Guten, verbessern also den Charakter nicht, sie wirken bloß auf die Einbildungskraft, haben folglich, wie Bilder der Phantasie überhaupt, Einfluß auf die Art zu handlen, ihr Einfluß wird aber auch durch alles das vermindert und aufgehoben, was die Lebhaftigkeit der Einbildungskraft schwächt. Nimmt man nun hinzu, daß diese Erwartungen so entfernt und darum, selbst nach den Vorstellungen der Gläubigsten, so ungewiß sind, daß die Ideen von nachheriger Reue, künftiger Besserung, gehoffter Verzeihung, welche durch gewisse Religionsbegriffe so sehr begünstigt werden – ihnen einen großen Teil ihrer Wirksamkeit wiederum nehmen, so ist es unbegreiflich, wie diese Ideen mehr wirken sollten als die Vorstellung bürgerlicher Strafen, die nah, bei guten Polizeianstalten gewiß und weder durch Reue noch nachfolgende Besserung abwendbar sind, wenn man nur von Kindheit an die Bürger ebenso mit diesen als mit jenen Folgen sittlicher und unsittlicher Handlungen bekannt machte. Unleugbar wirken freilich auch weniger aufgeklärte Religionsbegriffe bei einem großen Teile des Volks auf eine edlere Art. Der Gedanke, Gegenstand der Fürsorge eines allweisen und vollkommnen Wesens zu sein, gibt ihnen mehr Würde, die Zuversicht einer endlosen Dauer führt sie auf höhere Gesichtspunkte, bringt mehr Absicht und Plan in ihre Handlungen, das Gefühl der liebevollen Güte der Gottheit gibt ihrer Seele eine ähnliche Stimmung, kurz die Religion flößt ihnen Sinn für die Schönheit der Tugend ein. Allein wo die Religion diese Wirkungen haben soll, da muß sie schon in den Zusammenhang der Ideen und Empfindungen ganz übergegangen sein, welches nicht leicht möglich ist, wenn der freie Untersuchungsgeist gehemmt und alles auf den Glauben zurückgeführt wird; da muß auch schon Sinn für bessere Gefühle vorhanden sein; da entspringt sie mehr aus einem nur noch unentwickelten Hange zur Sittlichkeit, auf den sie hernach nur wieder zurückwirkt. Und überhaupt wird ja niemand den Einfluß der Religion auf die Sittlichkeit ganz ableugnen wollen; es fragt sich nur immer, ob er von einigen bestimmten Religionssätzen abhängt, und dann, ob er so entschieden ist, daß Moralität und Religion darum in unzertrennlicher Verbindung miteinander stehen. Beide Fragen müssen, glaube ich, verneint werden. Die Tugend stimmt so sehr mit den ursprünglichen Neigungen des Menschen überein, die Gefühle der Liebe, der Verträglichkeit, der Gerechtigkeit haben so etwas Süßes, die der uneigennützigen Tätigkeit, der Aufopferung für andre so etwas Erhebendes, die Verhältnisse, welche daraus im häuslichen und im gesellschaftlichen Leben überhaupt entspringen, sind so beglückend, daß es weit weniger notwendig ist, neue Triebfedern zu tugendhaften Handlungen hervorzusuchen, als nur denen, welche schon von selbst in der Seele liegen, freiere und ungehindertere Wirksamkeit zu verschaffen.

Wollte man aber auch weiter gehen, wollte man neue Beförderungsmittel hinzufügen, so dürfte man doch nie einseitig vergessen, ihren Nutzen gegen ihren Schaden abzuwägen. Wie vielfach aber der Schade eingeschränkter Denkfreiheit ist, bedarf wohl, nachdem es so oft gesagt und wieder gesagt ist, keiner weitläuftigen Auseinandersetzung mehr; und ebenso enthält der Anfang dieses Aufsatzes schon alles, was ich über den Nachteil jeder positiven Beförderung der Religiosität durch den Staat zu sagen für notwendig halte. Erstreckte sich dieser Schade bloß auf die Resultate der Untersuchungen, brächte er bloß Unvollständigkeit oder Unrichtigkeit in unsrer wissenschaftlichen Erkenntnis hervor, so möchte es vielleicht einigen Schein haben, wenn man den Nutzen, den man für den Charakter davon erwartet – auch erwarten darf? –, dagegen abwägen wollte. Allein so ist der Nachteil bei weitem beträchtlicher. Der Nutzen freier Untersuchung dehnt sich auf unsre ganze Art, nicht bloß zu denken, sondern zu handlen, aus. In einem Manne, der gewohnt ist, Wahrheit und Irrtum ohne Rücksicht auf äußre Verhältnisse für sich und gegen andre zu beurteilen und von andren beurteilt zu hören, sind alle Prinzipien des Handlens durchdachter, konsequenter, aus höheren Gesichtspunkten hergenommen als in dem, dessen Untersuchungen unaufhörlich von Umständen geleitet werden, die nicht in der Untersuchung selbst liegen. Untersuchung und Überzeugung, die aus der Untersuchung entspringt, ist Selbsttätigkeit; Glaube Vertrauen auf fremde Kraft, fremde intellektuelle oder moralische Vollkommenheit. Daher entsteht in dem untersuchenden Denker mehr Selbständigkeit, mehr Festigkeit, in dem vertrauenden Gläubigen mehr Schwäche, mehr Untätigkeit. Es ist wahr, daß der Glaube, wo er ganz herrscht und jeden Zweifel erstickt, sogar einen noch unüberwindlicheren Mut, eine noch ausdauerndere Stärke hervorbringt; die Geschichte aller Schwärmer lehrt es. Allein diese Stärke ist nur da wünschenswert, wo es auf einen äußren bestimmten Erfolg ankommt, zu welchem bloß maschinenmäßiges Wirken erfordert wird, nicht da, wo man eignes Beschließen, durchdachte, auf Gründen der Vernunft beruhende Handlungen oder gar innere Vollkommenheit erwartet. Denn diese Stärke selbst beruht nur auf der Unterdrückung aller eignen Tätigkeit der Vernunft. Zweifel sind nur dem quälend, welcher glaubt, nie dem, welcher bloß der eignen Untersuchung folgt. Denn überhaupt sind diesem die Resultate weit weniger wichtig als jenem. Er ist sich während der Untersuchung der Tätigkeit, der Stärke seiner Seele bewußt, er fühlt, daß seine wahre Vollkommenheit, seine Glückseligkeit eigentlich auf dieser Stärke beruht; statt daß Zweifel an den Sätzen, die er bisher für wahr hielt, ihn drücken sollten, freut es ihn, daß seine Denkkraft so viel gewonnen hat, Irrtümer einzusehen, die ihr vorher verborgen blieben. Der Glaube hingegen kann nur Interesse an dem Resultat selbst finden, denn für ihn liegt in der erkannten Wahrheit nichts mehr. Zweifel, die seine Vernunft erregt, peinigen ihn. Denn sie sind nicht, wie in dem selbstdenkenden Kopfe, neue Mittel, zur Wahrheit zu gelangen; sie nehmen ihm bloß die Gewißheit, ohne ihm ein Mittel anzuzeigen, dieselbe auf eine andre Weise wieder zu erhalten. Diese Betrachtung weiter verfolgt, führt auf die Bemerkung, daß es überhaupt nicht gut ist, einzelnen Resultaten eine so große Wichtigkeit beizumessen, zu glauben, daß entweder so viele andre Wahrheiten oder so viele äußre oder innere nützliche Folgen von ihnen abhängen. Es wird dadurch zu leicht ein Stillstand in der Untersuchung hervorgebracht, und so arbeiten manchmal die freiesten und aufgeklärtesten Behauptungen gerade gegen den Grund, ohne den sie selbst nie hätten emporkommen können. So wichtig ist Geistesfreiheit, so schädlich jede Einschränkung derselben. Auf der andren Seite hingegen fehlt es dem Staate nicht an Mitteln, die Gesetze aufrechtzuerhalten und Verbrechen zu verhüten. Man verstopfe, so viel es möglich ist, diejenigen Quellen unsittlicher Handlungen, welche sich in der Staatseinrichtung selbst finden, man schärfe die Aufsicht der Polizei auf begangene Verbrechen, man strafe auf eine zweckmäßige Weise, und man wird seines Zwecks nicht verfehlen. Und vergißt man denn, daß die Geistesfreiheit selbst und die Aufklärung, die nur unter ihrem Schutze gedeiht, das wirksamste aller Beförderungsmittel der Sicherheit ist? Wenn alle übrige nur den Ausbrüchen wehren, so wirkt sie auf Neigungen und Gesinnungen; wenn alle übrige nur eine Übereinstimmung äußrer Handlungen hervorbringen, so schafft sie eine innere Harmonie des Willens und des Bestrebens. Wann wird man aber auch endlich aufhören, die äußeren Folgen der Handlungen höher zu achten als die innere geistige Stimmung, aus welcher sie fließen? wann wird der Mann aufstehen, der für die Gesetzgebung ist, was Rousseau der Erziehung war, der den Gesichtspunkt von den äußren physischen Erfolgen hinweg auf die innere Bildung des Menschen zurückzieht?

Man glaube auch nicht, daß jene Geistesfreiheit und Aufklärung nur für einige wenige des Volks sei, daß für den größeren Teil desselben, dessen Geschäftigkeit freilich durch die Sorge für die physischen Bedürfnisse des Lebens erschöpft wird, sie unnütz bleibe oder gar nachteilig werde, daß man auf ihn nur durch Verbreitung bestimmter Sätze, durch Einschränkung der Denkfreiheit wirken könne. Es liegt schon an sich etwas die Menschheit Herabwürdigendes in dem Gedanken, irgendeinem Menschen das Recht abzusprechen, ein Mensch zu sein. Keiner steht auf einer so niedrigen Stufe der Kultur, daß er zu Erreichung einer höheren unfähig wäre; und sollten auch die aufgeklärteren religiösen und philosophischen Ideen auf einen großen Teil der Bürger nicht unmittelbar übergehen können, sollte man dieser Klasse von Menschen, um sich an ihre Ideen anzuschmiegen, die Wahrheit in einem andren Kleide vortragen müssen, als man sonst wählen würde, sollte man genötigt sein, mehr zu ihrer Einbildungskraft und zu ihrem Herzen als zu ihrer kalten Vernunft zu reden, so verbreitet sich doch die Erweiterung, welche alle wissenschaftliche Erkenntnis durch Freiheit und Aufklärung erhält, auch bis auf sie herunter, so dehnen sich doch die wohltätigen Folgen der freien, uneingeschränkten Untersuchung auf den Geist und den Charakter der ganzen Nation bis in ihre geringsten Individua hin aus.

Um diesem Räsonnement, weil es sich großenteils nur auf den Fall bezieht, wenn der Staat gewisse Religionssätze zu verbreiten bemüht ist, eine größere Allgemeinheit zu geben, muß ich noch an den im vorigen entwickelten Satz erinnern, daß aller Einfluß der Religion auf die Sittlichkeit weit mehr – wenn nicht allein – von der Form abhängt, in welcher gleichsam die Religion im Menschen existiert, als von dem Inhalte der Sätze, welche sie ihm heilig macht. Nun aber wirkt jede Veranstaltung des Staats, wie ich gleichfalls im vorigen zu zeigen versucht habe, nur mehr oder minder auf diesen Inhalt, indes der Zugang zu jener Form – wenn ich mich dieses Ausdrucks ferner bedienen darf – ihm so gut als gänzlich verschlossen ist. Wie Religion in einem Menschen von selbst entstehe, wie er sie aufnehme, dies hängt gänzlich von seiner ganzen Art, zu sein, zu denken und zu empfinden, ab. Auch nun angenommen, der Staat wäre imstande, diese auf eine seinen Absichten bequeme Weise umzuformen – wovon doch die Unmöglichkeit wohl unleugbar ist –, so wäre ich in der Rechtfertigung der in dem ganzen bisherigen Vortrage aufgestellten Behauptungen sehr unglücklich gewesen, wenn ich hier noch alle die Gründe wiederholen müßte, welche es dem Staate überall verbieten, sich des Menschen, mit Übersehung der individuellen Zwecke desselben, eigenmächtig zu seinen Absichten zu bedienen. Daß auch hier nicht absolute Notwendigkeit eintritt, welche allein vielleicht eine Ausnahme zu rechtfertigen vermöchte, zeigt die Unabhängigkeit der Moralität von der Religion, die ich darzutun versucht habe, und werden diejenigen Gründe noch in ein helleres Licht stellen, durch die ich bald zu zeigen gedenke, daß die Erhaltung der innerlichen Sicherheit in einem Staate keineswegs es erfordert, den Sitten überhaupt eine eigne bestimmte Richtung zu geben. Wenn aber irgend etwas in den Seelen der Bürger einen fruchtbaren Boden für die Religion zu bereiten vermag, wenn irgend etwas die fest aufgenommene und in das Gedanken- wie in das Empfindungssystem übergegangene Religion wohltätig auf die Sittlichkeit zurückwirken läßt, so ist es die Freiheit, welche doch immer, wie wenig es auch sei, durch eine positive Sorgfalt des Staats leidet. Denn je mannigfaltiger und eigentümlicher der Mensch sich ausbildet, je höher sein Gefühl sich emporschwingt, desto leichter richtet sich auch sein Blick von dem engen, wechselnden Kreise, der ihn umgibt, auf das hin, dessen Unendlichkeit und Einheit den Grund jener Schranken und jenes Wechsels enthält, er mag nun ein solches Wesen zu finden oder nicht zu finden vermeinen. Je freier ferner der Mensch ist, desto selbständiger wird er in sich und desto wohlwollender gegen andre. Nun aber führt nichts so der Gottheit zu als wohlwollende Liebe; und macht nichts so das Entbehren der Gottheit der Sittlichkeit unschädlich als Selbständigkeit, die Kraft, die sich in sich genügt und sich auf sich beschränkt. Je höher endlich das Gefühl der Kraft in dem Menschen, je ungehemmter jede Äußerung derselben, desto williger sucht er ein inneres Band, das ihn leite und führe, und so bleibt er der Sittlichkeit hold, es mag nun dies Band ihm Ehrfurcht und Liebe der Gottheit oder Belohnung des eignen Selbstgefühls sein. Der Unterschied scheint mir demnach der: der in Religionssachen völlig sich selbst gelassene Bürger wird nach seinem individuellen Charakter religiöse Gefühle in sein Innres verweben oder nicht; aber in jedem Fall wird sein Ideensystem konsequenter, seine Empfindung tiefer, in seinem Wesen mehr Einheit sein, und so wird ihn Sittlichkeit und Gehorsam gegen die Gesetze mehr auszeichnen. Der durch mancherlei Anordnungen beschränkte hingegen wird – trotz derselben – ebenso verschiedne Religionsideen aufnehmen oder nicht; allein in jedem Fall wird er weniger Konsequenz der Ideen, weniger Innigkeit des Gefühls, weniger Einheit des Wesens besitzen, und so wird er die Sittlichkeit minder ehren und dem Gesetz öfter ausweichen wollen.

Ohne also weitere Gründe hinzuzufügen, glaube ich demnach den auch an sich nicht neuen Satz aufstellen zu dürfen, daß alles, was die Religion betrifft, außerhalb der Grenzen der Wirksamkeit des Staats liegt und daß die Prediger, wie der ganze Gottesdienst überhaupt, eine ohne alle besondre Aufsicht des Staats zu lassende Einrichtung der Gemeinen sein müßten.


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