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Als Herr Philipp Mertens gegen sechs Uhr abends nach Hause kam, eilte er wie gewöhnlich zu seiner Frau, die um diese Zeit in ihrem Zimmer zu arbeiten pflegte. Er lächelte heimlich über diese Beschäftigung mit Nationalökonomie und ähnlichen Dingen, die seiner Überzeugung nach die praktischen Menschen wenig, und Frauen garnichts anging. Aber er hatte seine Frau viel zu gern, und wenn sie ihm von ihrem Lieblingsthema sprach, war er liebenswürdig und heuchelte eine Aufmerksamkeit, die er nicht aufbrachte.
Wie er den langen, matt erhellten Korridor entlang ging, kam ihm das Hausmädchen aus dem Schlafzimmer heraus entgegen.
»Waren Sie bei der gnädigen Frau?« fragte der Fabrikant.
»Nein, gnädige Frau sagten, als ich vorhin den Tee servierte, »wir sollten sie heute auf keinen Fall mehr stören« … gnädige Frau hat wahrscheinlich wieder so viel zu arbeiten …«
»Ja, ja,« sagte Philipp Mertens im Weiterschreiten. Und er sah sie im Geiste vor sich sitzen, den prächtigen, lebenstrotzenden Körper, in das lose, buntseidene Hauskleid gehüllt, das den Nacken frei ließ, über dessen warme Haut das rotbraune Haar in schweren Knoten fiel.
Herr Mertens seufzte. Dann klopfte er leicht an die Tür und drückte die Klinke nieder. Es war dunkel im Zimmer.
»Hanni!« sagte er, und ein vages Gefühl der Unsicherheit durchzog sein Herz.
»Hanni … bist du hier?«
Sie schlief wohl … aber er hörte keinen Atemzug.
Da griff er in ausbrechender Angst nach dem Drehknopf der elektrischen Beleuchtung. Das Licht flammte auf.
Mit in die Luft tastenden Händen, vorgebeugt und die Augen, den Mund vom Entsetzen weit aufgerissen, stand der Fabrikant vor der hingestreckten Gestalt seines Weibes. Sie lag auf dem hellfarbenen Perserteppich auf der Seite, das Gesicht in die rechte Armhöhle gedrückt, wie ein großes Kind, das unter Schluchzen eingeschlafen ist.
Philipp Mertens war in die Knie gesunken und zu ihr hingerutscht. Er war kaum bei Besinnung, als er, von krampfhaften Schmerzen geschüttelt, wimmernd den Kopf der Frau in seine Arme nahm und sein tränennasses Gesicht gegen ihre eisigkalte Wange drückte. Einen Augenblick dachte er daran, das Mädchen hereinzurufen, einen Arzt holen zu lassen, aber die Gewißheit, daß dieses starke und noble Frauenherz, an dem er so sehr gehangen, zu schlagen aufgehört hatte, ließ ihn nicht von der Stelle. Ihm war, als dürfe er sie auch nicht für einen Augenblick verlassen, als habe ihm der erkaltete Mund, der unter seinen Hüften so fühllos blieb, doch noch etwas zu sagen … etwas Wichtiges, das keinen Aufschub duldete …
Und so ließ er, dessen Arme den üppigen Busen der Toten in verzweifelter Liebe umschlangen, die vom Weinen geblendeten Augen im Zimmer umhergehen und blieb mit seinen Blicken an dem kleinen Schreibtisch aus Rosenholz hängen, auf dessen Platte er so, in seiner hockenden Stellung, nicht hinaufsehen konnte.
Er flüsterte leise wie zu einer Erkrankten und ließ den Körper sanft zurückgleiten auf den Teppich. Dann schlich er zu dem Schreibtisch hin und nahm den Brief, der ja dort liegen mußte, mit zusammengebissenen Lippen. Aber der Mut, das Kuvert aufzureißen, fehlte ihm lange. Er tastete sich erst noch einmal zu seiner Toten hin und horchte wieder nach ihrem Herzen, das, reglos, seiner verzweifelten Sehnsucht keine Antwort gab.
Und so neben ihr auf dem hellen Perserteppich sitzend, las er den Brief, den sie ihm hinterlassen hatte:
Mein lieber Mann!
Ich kann Dir den Schmerz nicht ersparen, ich muß weg. Wenn Du den Brief durchgelesen hast, wirst Du auch die Notwendigkeit einsehen. Du hast mich so oft ausgelacht mit meinem Studieren und Lernen, aber ich konnte Dir ja nicht sagen, daß es alles nur um meiner selbst willen geschah, um eine Erklärung zu finden für die Veränderung meines Wesens, meiner ganzen Person. Ach, ich war wie eine Maus, die man in eine Falle gesperrt hat und die voller Angst immer wieder vergebens nach einem Ausweg sucht … Ja, immer vergebens. … Das einzige, was ich mit all meinem Lesen und Lernen schließlich begriffen habe, ist, daß wir alle einem schrecklichen Zwang unterworfen sind, daß unser ganzes Leben von häßlichen und oft lächerlichen Zufällen abhängt … Ich habe mich geschämt, wenn ich launisch und zänkisch war im Zusammensein mit Dir, und Du, Lieber, hattest immer nur Entschuldigungen für mich und bist stets voller Nachsicht gewesen … Aber es entschuldigt mich vielleicht, daß ich vordem anders war, daß ich eine lustige, glückliche und auch eine demütige Frau war, bis das Unglück kam, das schreckliche Unglück, … ach, mein armer, lieber Mann, sei doch nicht böse! Es soll ja kein Vorwurf sein! konntest Du denn ahnen, als Du damals vor sechs Jahren so gesund und fröhlich auf die Jagd fuhrst, daß sie Dich noch am selben Abend für tot, von einer tückischen Kugel getroffen, wieder zu mir ins Haus bringen würden! … Zuerst war ich nur in Sorge um Dein Leben und voller Mitgefühl mit den großen Schmerzen, die Du littest … Aber dann sagte mir der Arzt eines Tages, Du würdest wieder gehen und Dich bewegen können wie vorher, aber als Mann würdest Du ein Krüppel bleiben …«
Der Lesende fing an zu zittern, er schluckte ein paarmal, wie von innerem Weinen, dann erhob er sich schwerfällig und riegelte die Tür ab, als könne ein Unberufener hereinkommen und in dieses traurige, ängstlich behütete Geheimnis eindringen. Er ging an den Schreibtisch; es war, als sei die Seele der Frau, die er so sehr geliebt hatte, in diese beschriebenen Blätter geflohen und lenkte seine Aufmerksamkeit von dem Leichnam ab, dessen schöner, in seiner gelblichen Blässe so ernster Kopf sich wie ein Bildwerk abhob von dem schwarzen Sammetkissen, auf das ihn der Mann gebettet hatte.
Philipp Mertens bebten Lippe und Herz, als er weiterlas:
»Dem Arzt nahm ich es zuerst sehr Übel, als er mir sagte, daß es ein schweres Schicksal sei, das da auch mich erwartete … Was konnte denn da schon sein? Gibt es nicht Tausende und aber Tausende von Frauen, die ehelos und ohne alle körperliche Liebe durchs Leben gehen müssen? Und ich hatte das Glück solange besessen. Ich besaß auch für mein späteres Leben die Erinnerung daran. Und ich hatte ja auch Dich selbst! Du warst mir geblieben! Deine Liebe und Güte! Wie leicht hätte ich Witwe sein können! In meiner Dankbarkeit, daß Du mir erhalten warst, lachte ich über einen Verlust, dessen Bedeutung mir erst ganz allmählich klar wurde … Ach, solange man reich ist, kann man den Armen mit seiner Not und seiner Gequältheit nie begreifen!
Aber ich weiß noch: was mich zuerst unruhig machte, das waren Deine kühlen Küsse … An Deiner Liebe konnte ich nicht zweifeln, jeden Tag hast Du mir ja durch tausend kleine Dinge bewiesen, wie wert ich Dir war. Trotzdem fing ich an, eifersüchtig zu werden, Dich zu beargwöhnen; ich konnte und konnte nicht begreifen, daß das Feuer Deiner Leidenschaft so ganz erloschen sein sollte, daß die Schauer des Entzückens, unter denen ich gebebt hatte, nun niemals mich beseligen sollten!
Bis Du eines Tages, vielleicht von Deinen geschäftlichen Ideen und den Sorgen des Tages in Anspruch genommen, Dich aus meinen Armen losmachtest und mit einem halbverlegenen Lachen sagtest … nein, ich will das schlimme Wort nicht wiederholen, Du hast es ja selber gewiß auch nicht vergessen … Das war das einzige Mal in all der Zeit, wo ich Dir böse war, wo ich Dich förmlich gehaßt habe und wo ich den Plan faßte, Dir untreu zu werden. Du erinnerst Dich wohl noch, daß damals die beiden jungen Akademiker, Heinz Marquardt und der Kandidat Emil Fröhlich, in unserm Hause verkehrten … Sie warben beide um mich, und Fröhlich, der mir der liebere war, hätte vielleicht gesiegt, wenn er kühner gewesen wäre. Und er wär' es am Ende geworden, hätte ich nicht eines Tages, gerade als er bei mir war, Dein trauriges Gesicht plötzlich zwischen den Portieren der Tür zum Wohnzimmer auftauchen sehen … Du tratest nicht ein, und ich habe mich nachher oft gefragt, ob Du es denn wirklich gewesen bist, oder ob damals schon eine Halluzination, wie ich sie später so oft gehabt habe, meiner erregten Phantasie Dein Bild vorgespiegelt hat. Jedenfalls habe ich Fröhlich nachher nur noch selten und später gar nicht mehr empfangen.
Aber ich weiß bestimmt, daß von dieser Zeit an meine Ruhe weg war. Ich schlief schlecht und aß sehr unregelmäßig. Gewundert habe ich mich nur, daß ich nicht mager wurde. Aber ich freute mich doch auch darüber, denn ich wollte gefallen. Am Tage verbot ich meinem Innern, sich mit dem zu beschäftigen, was meinen geheimsten Sinn so ganz erfüllte, aber des Nachts, da kamen die Träume, und früh, wenn ich erwachte, da brannten meine Wangen noch vor Scham über das, was ich gesehen und erlebt hatte.
All das, womit ich mich in diesen Jahren beschäftigt habe, was mir scheinbar Interesse abnötigte und meine Zeit ausfüllte, war Ausflucht und Notbehelf. Ich dachte bei alledem nur an mich und mein Unglück und sehnte mich immerfort nach Liebe. Ich sah heimlich alle Männer an und fühlte mich in ihren Armen, aber in der Tat blieb ich die treue Gattin und die ehrbare Frau, als die ich nun auch freiwillig aus dem Leben scheide.
Und ich hätte es trotzdem nicht getan, hätte mein Geschick weiter ertragen, weil ich an Dich dachte und an Deine Liebe.
Aber da ist plötzlich etwas gekommen, was zu stark war; das ist Herr geworden über mich … Ich war entsetzt und verwundert zugleich über diese neue Hanni Mertens, die auf einmal da war. Und es fällt mir schwer, Philipp, Dir auch das zu sagen … nur damit Du nicht glaubst, ich sei wirklich … ich sei Dir wirklich untreu gewesen …
Zuerst war es ein Hausdiener, ein großer, blonder, junger Mensch, dem ich hier vom Fenster aus beim Abladen von Waren zusah … Als ich mich auf diesen Gedanken ertappte, war ich entrüstet. Ich ging in mein Zimmer und arbeitete … Und anfänglich half das auch. Aber später wurde ich selbst immer schwächer. Und vorgestern abend, wie ich allein aus dem Theater kam, da bin ich nur noch mit Mühe dem Verhängnis entgangen. Es war wieder ein solch großer Blonder. Und auch einer aus niederstem Stande, aber besser gekleidet. Er sprach mich brutal an, und mich überkam eine derartige Schwäche, daß ich ihn nicht energisch abweisen konnte. Er forderte mich auf, in ein Café mit ihm zu gehen, und ich ging. Und da sah ich den Dr. Hemberg, Deinen Freund. Ob er mich auch gesehen hat, weiß ich nicht. Aber ich wachte auf, ja, ich erwachte aus dieser schrecklichen Lethargie meines Gewissens … Nun wollte ich fort, und der ließ mich nicht … es war unbeschreiblich, und ich zittere noch, wenn ich an die Worte denke, die dieser Mensch ganz laut hinter mir herrief.
Zu Haus in meinem Bett – Du schliefst schon und ich wachte noch lange – da bin ich mir klar geworden: ich unterliege! Ich kann diesen Kampf nicht weiter kämpfen … Nicht mein Herz, meine Instinkte sind stärker geworden als mein reiner Wille. Und ich komme mir vor, wie besudelt … ich kann's nicht ertragen! … Ich habe mir Morphium verschafft, durch Bestechung, das nehm' ich. Wenn Du heute heim kommst, wirst Du mir den letzten Kuß auf die Lippen drücken, die dann so kalt sein werden, wie die Deinen ach so lange schon waren! … Ich habe Dich sehr lieb, jetzt, wo es ans Sterben geht, noch viel mehr als früher … leb' wohl, mein Herz!
Deine Hanni.«
Der Mann, dessen blasses Gesicht immer grauer und elender geworden war beim Lesen, weinte nicht mehr. Er schraubte den kleinen, rötlichen Kachelofen auf und verbrannte Brief und Kuvert sorgfältig … was ging es die Neugierde der Welt an, weshalb sie gehen und er ihr folgen mußte … Dann verließ er das Zimmer, die Tür hinter sich abschließend, kam aber schon nach wenigen Minuten zurück. Und dann setzte er sich wieder auf den hellen Perserteppich, das Gesicht und das Haar seiner Toten zärtlich streichelnd; dabei flüsterte er:
»Das hätten wir doch schon früher tun können! … schon vor Jahren! Ich quälte mich deinetwegen, und du, du littest für mich!«
Er schüttelte den Kopf und lachte leise … Dann kam der Revolver, den er in der Tasche hatte, zum Vorschein … Ein Knall. Und der Kopf mit der durchschossenen Schläfe sank auf das weiße Gesicht der Frau hin, die unbeweglich blieb unter dem krampfigen Zittern des Sterbenden.