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Das verschwundene Kind

Die beiden Gendarmen hatten den Zigeunerwagen wieder eingebracht, der vor drei Tagen durchs Dorf gekommen war. Ja, am 16. Juni, vormittags zehn Uhr. Und von der Stunde an fehlte die kleine Marie Bauke.

Es rasselte den Sommerweg herauf, neben der frisch geschotterten Chaussee, der die kurzen, krüppelhaften Kirschbäume wenig Schatten gaben. Der Staub zog wie eine häßliche Schleierfahne hinter dem jämmerlichen Gefährt drein, dessen brauner Plan zerrissen war, in dem ein Weib heulte und aus dem Kinderschreie wie die Rufe kleiner geängstigter Tiere hervordrangen.

Unter dem glühenden Licht der Junisonne, hinter dem Wagen drein schritt trotzig der Mann, ein brauner, düsterer, zerlumpter Gesell, den der nebenherreitende Gendarm am Strick hatte. Dessen Kamerad, auch eine herkulische Figur in ihrer blaugrünen Montur mit blanken Knöpfen, ritt vorn neben dem Jungen, der das Pferdchen antrieb, das kleine magere kopfhängende Pferd, das die Gesellschaft fortbrachte, von Dorf zu Dorf, durch Wälder und Felder, zweck- und ziellos, immer nur fort ins Weite …

»Wo habt ihr also das Kind gelassen, Jannusch, die kleine Marie?«

Der Gendarm riß an der Leine, die um des Zigeuners Arm lag, und wie der bloß brummend abwehrte, zog der Beamte noch stärker. Der braune Mann warf sich wütend zur Seite. Er schrie etwas, das man nicht verstand. Da fuhr ein dickes, gelbschmutziges Gesicht mit schwarzblankem Haar aus den Fetzen des Wagentuches, die Frau schrie laut und wollte heraus, ihrem Mann zu Hilfe, aber die Kinder hingen wimmernd an ihr.

Der Wagen fuhr durch das Rinnsal vorm Dorf, das weiterhin in den Wiesen zum breiten Graben wurde. Oh, da blühte alles, und von dem blauen Lupinenfelde her, am Schonungsrand, zogen Wolken von Duft.

Die erste, die stehen blieb vor dem trübseligen Bilde, das langsam näherrollte, war des Krügers Frau, eine kurze, plattbeinige Gestalt in hellem Kattun mit magerem Strohhaar und feistem Bauerngesicht. Sie sah ihn, erkannte ihn, schrie, sich schnell nach ihrem Hause wendend, aus dessen Türe sie eben getreten war:

»Chretchen! Garlchen! Macht alle Dieren zu! Die Zicheiner gommen!«

Und dann lief sie neben dem Wagen her und redete auf den vorderen, auch auf den hinteren Gendarmen ein, von denen keiner sie einer Antwort würdigte.

Im Dorf war das Amt und der Amtsvorsteher, ein lahmer, pensionierter Offizier, der sich in dem abgelegenen, sächsischen Nest sträflich langweilte; dem kam das Verhör, das er nun anstellen sollte, recht gelegen. Er hatte schon durch den dicken, radelnden Gemeindediener erfahren: Gendarm Schulz und Wachtmeister Hähnchen brächten die Kinderräuber ein.

Trat aus seiner Amtsstube auf die backsteingepflasterte Diele hinaus und hörte gleich den Zorn der Dörfler, der brüllte und schrie wie ein wildgewordener Stier.

Als der Amtsvorsteher auf den großen Amtshof unter die alten Ulmen herauskam, zogen die Gendarmen eben blank, denn die Schwarzburger Bauern wollten die Zigeuner selber gleich an Ort und Stelle judizieren. Einer meinte in vollem Ernst:

»Mir däten am besten un braden se chleich!«

Auf des Amtsvorstehers Geheiß räumten die Gendarmen den Hof; dann wurden sämtliche Zigeuner in das weite Amtszimmer geführt. Als die Tür beinahe zu war, drängte ein kümmerliches Hündchen, ein kleiner, verhungerter Köter, noch herein; Wachtmeister Hähnchen wollte ihn mit dem schweren Reiterstiefel hinausstoßen, aber das kleinste der drei Zigeunerkinder riß ihn klagend an sich. So kam das schwarzbunte Zottelchen ins Zimmer.

Die Kinder, der Hund hockten im Winkel an der von Sonnenfunken gleißenden, blaugetünchten Wand. Die Zigeunerin stand davor, in ihrer Sprache murrend, böse, ängstlich; der Vater der kleinen Horde und der Junge, fünfzehnjährig, vor ihrem Richter. Und dabei die Gendarmen, im Gefühl, sie seien eigentlich die Hauptpersonen.

»Also, gesteht's doch ein, Leute! Ihr habt die kleine Marie mitgenommen! Wie's die Zigeuner so machen, das tun sie ja doch alle! Nicht wahr, das könnt ihr ja nicht leugnen!«

Der Herr Amtsvorsteher saß im Korblehnstuhl und schlug mit einem kleinen Lineal taktmäßig auf den mit Tintenklexen besäten Tisch, von draußen klang das Reden der Bauern gedämpft, sie waren wieder auf den Hof gekommen, warteten auf ihre Opfer und hin und wieder tauchte so ein Dickschädel mit bösen Blicken hinter dem Fenster der Amtsstube auf.

»Na, dann muß ich euch eben alle einsperren!« sagte der Amtsvorsteher. »Oder vielleicht bringen Sie den Kerl besser zum Reden, Herr Wachtmeister!« wandte er sich an Hähnchen.

Der gab dem Jannusch einen Puff, daß er einen Schritt wegflog und das Weib kreischend vorsprang. Doch der Zigeuner blieb bei seinem:

»Mädchen kloines nich gesehn hot Zigainer!«

Aber da, ihm mitten ins Wort, flog die Tür der Amtsstube auf und herein stürzte ein Weib, eine Frau, halb bäuerlich, halb städtisch gekleidet, jung noch, mit einem Gesicht voller Wahnsinn und Not. Ihr schwerer Flechtenkranz war aufgegangen, die Haare flogen, sie reckte die Arme aus und rief und schrie gellend:

»Mein Kind! mein Kind! meine arme, gleine Marie! Ach! … Ach! … wo is se denn nur?! … Im wirren Stammeln und Schluchzen brachen ihr die Knie, sie rutschte am Estrich und die dicken Flechten liefen ihr nach wie gelbe Schlangen.

Dem Amtsvorsteher wurde die Stimme weich, da er ihr Trost gab, und der eine Gendarm biß krampfhaft den schwarzen Schnurrbart, während der andere aus seinem brennenden Gemüt heraus – er hatte auch Kinder – die Zigeuner um so härter bedrängte.

Aber die Zigeunerfrau, die kam plötzlich aus ihrer Ecke, lief zu der verzweifelten Mutter und schrie immer wieder nur:

»Nix hot! … nix hot! … nix hot!«

Nun kam auch der Landwirt Wilhelm Bauke, ein kleiner Gutsbesitzer, der eben auf dem Felde gewesen war, den die Botschaft hereingerissen hatte ins Dorf und aufs Amt: Die Zigeuner sind da! sie haben dein Kind!

Die Tränen liefen dem großen Manne, der in Hemdsärmeln, mit offener Brust stand, immer die Wangen entlang. Er nahm sein Weib in den Arm und hielt die Verzweifelte, die fort wollte, weg, dahin, wo ihr Kind, ihre kleine Marie war!

Das eine war erwiesen und nicht zu bestreiten: dre Zigeuner hatten in der Nähe des Baukeschen Gehöfts gelagert, hatten dort im Hause gebettelt, und am anderen Tage war mit ihnen zugleich die kleine Marie verschwunden gewesen … So war's korrekt, daß man eine Vernehmung am Orte der Tat selber vornahm.

Auf dem Hofe des Bauke, in der prallen Sonne, standen der Statthalter, das ist der erste Knecht, Peter Heinz, und der Kuhjunge Richard Michel, ein Mensch von knapp sechzehn Jahren. Der sagte:

»Chloobt Ihr denn, daß es werklich die Zicheiner chewäsen sind, Bäder?«

Der zuckte die Achseln.

»Nun, wär'd'n sunst? Das schwarze Kroppzeich is doch ieberall dobei, wo gleene Ginder kestohlen wärn!«

Der Richard Michel, in dessen Dickschädel die Lider träge über die großen, kaltblauen Augen sanken, sah zur Seite und lachte blöde.

»Nu, 's kann doch aber ooch 'n andrer chewäsen sind?«

»Na cha!« meinte der Großknecht, »es is doch aber niche!«

Damit ging der Statthalter in den Stall hinein, zu den Pferden. Der Kuhjunge schritt in der Richtung auf die große, neue Scheune zu, der man erst neulich das Dach fertig gedeckt hatte. Es leuchtete mit seinen neuen rosaroten Ziegeln weit in die glühende Mittagssonne. Dann aber schien der Junge seine Absicht zu ändern, er schlenderte ums Haus herum durch den Krautgarten, und kam so, auf weitem Umweg, doch an die Scheune, hinter deren nur angelehntem Torflügel er verschwand.

Aber als die Amtspersonen mit den Eltern der kleinen Verschwundenen und den Zigeunern anlangten, stand Richard Michel ebenso wie das übrige Gesinde auf dem Hof vorm Hause.

Und da war auch der Dachdecker als Zeuge, der an dem Tage, an dem Marie verschwunden war, das Dach der Scheune gefertigt hatte – der Kuhjunge war ihm dabei behilflich gewesen, hatte Ziegel und Werkzeug hinzugetragen.

Der alte Dachdecker Franke hatte es nun, während er im Sparrenwerk des Daches hockte, mitangesehen – das erzählte er umständlich und gewissenhaft –, wie Mariechen ihr Frühstücksbrot den kleinen, ewig hungrigen Zigeunern austeilte und wie sie dann, als die Familie abzog, lustig hinter dem Wagen herlief.

»Mensch!« Der Amtsvorsteher wurde jetzt ungeduldig, kriegte den Zigeuner bei der Schulter und rüttelte ihn. »Mensch, so reden Sie doch! Sie sind's gewesen! Sie haben die Kleine mitgelockt und dann wahrscheinlich an irgendeine andere Bande weitergegeben! Sie hören ja, der Vater bietet Ihnen noch Geld obenein, er will nur sein Kind wiederhaben!«

»Jo, jo!« sagte der Landwirt und streckte keuchend die geballten Fäuste an dem gewaltigen Leibe herunter, »nur mei Gind!«

Und die Frau schluchzte bittend:

»Alles! alles! bloß meine Marie! meine gleine Marie!«

Die Gendarmen konnten die aus dem Dorfe, die alle mit in Baukes Hof gedrungen waren, kaum mehr zurückhalten. Ein paar Jungen hatten Ziegelschutt gefunden und schon flogen Steinstücke!

Da hörte man auf einmal ein Winseln. Zuerst achtete kein Mensch darauf; aber das Winseln wurde immer lauter und ging über in Bellen und Heulen.

Sie standen alle vor der Scheune, dicht vor dem hohen, weißblitzenden Holztor, dessen einer Flügel nur angelehnt war.

Dahinter heulte der kleine Hund des Zigeuners.

Gendarm Schulz machte das Tor auf.

Das zottelige, schwarzweiße Tierchen stand und kratzte jaulend im Stroh, das im dämmerigen Raum die Tenne deckte.

Warum verstummten doch auf einmal alle und alles?

Nur das Zwitschern der Schwalbe, die herein schoß, ihre Jungen zu atzen, war hörbar.

Dem ehemaligen Offizier war's wie einst im Manöver, wo der Kragen ihm plötzlich allzu eng wurde und ihn dann der Hitzschlag zu Boden streckte. Er sah sich scheu nach der blonden Frau um, die in ihrem Mutterschmerz ganz verging, die die Weiber des Ortes zu trösten suchten. Und eilig, aber sachte lief er zu ihrem Manne.

»Führen Sie Ihre Frau fort, Herr Baute. Schnell! schnell! Ich glaube, sie wird ohnmächtig!«

Der Mann wurde leichenblaß. Ahnte auch er? … Er taumelte, ging, man sah ihn über den Hof schreiten, die weinende Frau im Arm, nach dem Hause hinüber.

Das Stroh in der Tenne lag wohl einen Meter tief. Jetzt rissen's, von schaudernder Neugier gepackt, die Männer heraus.

Da lag ein kleiner Leichnam, ein erwürgtes, geschändetes Kind … Um das Hälschen als Strick ein Paar alte Hosenbänder, gestickt mit einem Namen, blau auf rotem Grunde:

– Richard Michel. –

Hei! und dort hinten rannte ja einer!

Fünfzig hinter ihm drein!

Auf den Wald los! den Wald!

Wachtmeister Hähnchen stolperte über einen Bauernjungen. Merkte nicht, daß ihm der Revolver wegfiel … Immer nach! Halt ihn! haltet den Mörder!

Drüben aus dem Hause kommt Wilhelm Bauke … er sieht … begreift nicht … die Scheune!! … Da! da! … Und brüllt auf, brüllt, kein Mensch mehr, eine schnaubende Bestie! … In rasenden Sprüngen setzt er dem Haufen nach!

Im Sand blitzt eine Waffe.

Die reißt der Mann auf und stürzt vorwärts! Den Kopf voraus, die Augen aus den höhlen, Schaum an den Lippen, heiser brüllend – so kommt er daher!

Jetzt hat er die andern ein. Dran vorbei! Er lacht, schreit, brüllt … brüllt ein Gelächter! Er weiß, da hinten fließt das Wasser!

Der Graben, zwei Mannslängen breit!

Da kann der andere nicht rüber! –

Am Grabenrand hin, durch hohes Gras, zwischen Schierling und Nesseln rennt der Kuhjunge, was er rennen kann!

Vor ihm her, in dem goldenen Glast, der durch die Ufererlen flackert, vor ihm her schwebt, wagrecht auf dem zarten Rücken, im hellkarierten Röckchen ein kleiner, stummer, toter Engel; von seinem Hälschen baumeln die roten Hosenträger herab … So fliegt die kleine, tote Marie immer her vor des Jungen keuchender Brust …

Er steht japsend … rennt weiter und stürzt der Länge nach … rafft sich hoch … ins Wasser? – zwei Mannslängen breit, tief und sumpfig! … kommt keiner raus, der reinspringt! Und der Richard Michel, der der kleinen Marie Gewalt antat in einer heißen, schwülen, sein Tierblut aufpeitschenden Stunde, der das schreiende, drohende Kind in der Angst vor Strafe erwürgte, der will selbst nicht sterben! Will fliehen, frei sein und leben!

Ein Schuß knallt.

Im Erlenbusch splittert Geäst.

Die kleine Marie vor seinem brennenden Auge verschwindet und hinter ihm donnert ein wutschäumender Riese! …

Dahinter kommen mehr Menschen eilig heran zwischen den goldenen Kornstücken. Aber die sieht Richard Michel gar nicht! Nur den einen, durch die grünen Kartoffelstauden stampfend, rasend!

Der Kuhjunge rennt! Da knallt's wieder! Er rennt! Nochmal! Nochmal!!

Plötzlich fällt Richard Michel vornüber aufs Gesicht und schlägt mit Armen und Beinen. Dann zittert noch alles ein bißchen an ihm – er ist still und tot.

Wilhelm Baute bleibt stehen. Er wirft die Waffe weg, dreht sich um, geht auf die Ankommenden zu und sagt zu dem ehemaligen Offizier:

»Herr Amtsvorstäher, ich hob'n dod cheschossen, das war mei Rächt!«


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