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V.

Der Kriminalkommissar Dr. Splittericht war von der Mordstelle in der Mariendorfer Straße gekommen, aus dem großen Proletarierhause, das der Rentiere Meyer gehört hatte, ehe man sie eines Tages erwürgt, auf mysteriöse Weise mit einer blauen Seidenschnur erdrosselt und in ihrem Bette versteckt, aufgefunden hatte ... »Dieser Mörder muß ein Mensch von seltsamem Ordnungsinn oder noch seltener Schlauheit sein,« sagte der Kommissar zu seinem bewährten Helfer, dem Kriminalschutzmann Braun, »ich habe nie in meinem Leben ein so sauber aufgeräumtes Mordzimmer gefunden. Freilich, bei dieser leisen, unheimlich geräuschlosen ... na, ich hätte beinah' gesagt: Hinrichtungsart! Ich kann mir nicht anders denken, als: der Kerl hat die Frau im Schlaf erdrosselt. Das setzt nun allerdings eine recht genaue Bekanntschaft seitens der Meyer mit ihm voraus?«

Der Kommissar sah seinen Beamten dabei fragend an und dieser meinte in seiner bedächtigen Art:

»Tja, was ich da so jehört habe, Herr Kommissar. Danach muß ja die olle Dame noch 'n recht liebevolles Herz jehabt haben. Die Kinder auf der Straße erzählen's, daß alle Naselang 'n anderer bei ihr jewesen ist ... Einen haben wir ja auch festjenommen ...«

Dr. Splittericht – dessen kleine, magere Figur seine Kraft und Zähigkeit kaum ahnen ließ, während der Kriminalschutzmann mit seiner Kürassiergestalt auf den ersten Blick die gewaltige Körperstärke, den vor nichts zurückschreckenden Mut zeigte, die er tatsächlich besaß – Dr. Splittericht schüttelte ablehnend den eckigen Kopf. Er hatte nicht viel übrig für diese Kriminalpraxis, die nach dem Erstbesten langte, der sich als zum Ermordeten in irgendeiner Beziehung stehend erwies. Und den Gerbereigehilfen, den man da verhaftet hatte, weil andere bei ihm so dunkelbraune Lederhandschuhe gesehen haben wollten, wie man nachher einen bei der Ermordeten fand – na, er hielt den jungen Menschen nicht absolut für unschuldig; in irgendeinem näheren Verhältnis zu der ermordeten Hausbesitzerin hatte er zweifellos auch gestanden ... Er hätte das nur nicht auf so eine blödsinnige Weise ableugnen sollen, dann wäre ihm sicher nichts geschehen ... so ... er arbeitete nicht ... hatte viel Geld ausgegeben, dessen Herkunft er nicht nachweisen konnte, in den acht Tagen, die seit dem Morgen verflossen waren, als man die Tote auffand ...

»Bringen Sie mir doch den Franz Kruschat nochmal her, lieber Braun, ich will ihn nochmal abhören!«

Der Schutzmann, der, bei seinem gewaltigen Körper doppelt verwunderlich, auffallend leise ging, war längst hinaus, als Dr. Splittericht, noch immer die Arme auf die Pultplatte und die sehnigen Hände ineinandergelegt, starr vor sich hinsah.

Der Kommissar, der die verschiedensten Studien betrieben und sein Vermögen auf Reisen um die ganze Erde ausgegeben hatte, ehe er, dem leidenschaftlichen Hang für die dunklen Wirrnisse des Menschenlebens folgend, zur Kriminalpolizei ging, hatte, wie er selbst meinte, in Indien diese seltsame Art zu denken begriffen und angenommen.

Er verlor alsdann vollkommen den Begriff seiner selbst und es war ihm, als sei seine Seele wirklich imstande, ihr Gehäuse von Fleisch und Bein zu verlassen und sich frei und leicht dorthin zu begeben, wo sein Scharfsinn, sein kriminalistischer Instinkt neue Spuren suchte.

So befand er sich jetzt in der Wohnung der ermordeten Rentiere. Die Fenstervorhänge aus grünem Stoff waren herabgelassen. Eine schwere Dämmerung, wie Nebel fast, lag in dem Raum und ein Mensch hantierte darin. Jetzt beugte er sich – das sah der Kommissar in seinem wachen Traumzustand ganz deutlich – zu einem auf dem Teppich liegenden, großen Gegenstande ... Ah, es war die Rentiere! ... ja, wie der Mörder sie, den Oberkörper umfassend, aufhob, da schlenkerten die fetten Arme der Toten, die nur einen losen Morgenrock anhatte, zu beiden Seiten ... Er trug sie mit äußerster Kraftanstrengung zur Portiere hin, verschwand da hindurch, und die im Wachtraum wandelnde Seele des Kommissars folgte ihm eilig ... Da, er legte sie auf den Vorleger, machte das Bett mit ein paar raschen und geschickten Griffen auf, hob sie, die Tote, jetzt, wie es schien, ohne alle Mühe hinein und deckte das Bett ebenso rasch und mit derselben Geschicklichkeit wieder zu ... Ja, so merkwürdig gut gelang ihm das, daß man nachher, wie er vom Bett zurücktrat und sein Werk prüfend überschaute, auch nicht die Spur davon merkte, daß jemand im Bette lag.

Nun machte sich der Mensch ans Rauben. Die recht beträchtlichen Mieteingänge mußten hier zu finden sein. Denn die Meyer hatte die gefährliche Gewohnheit, die in den Tagen vom 1. bis zum 3. jedes Monats allmählich eingehenden Beträge erst am 4. oder 5. auf die Bank zu tragen. Das war ziemlich bekannt im Hause – ein Wunder, daß nicht schon früher ein solcher Galgenvogel auf die Idee verfallen war, das goldene Nest auszunehmen – und der Mörder hatte darauf wohl seinen Plan aufgebaut. Der Kommissar sah ihn mit behutsamen Schritten, wirklich wie eine der großen, gestreiften Katzen in Indiens Dschungeln, durch die Wohnung schleichen und wunderte sich nicht, daß er in einer mit Kretonstoff überzogenen Kiste, die gleichzeitig als Sitzgelegenheit diente, im Schlafzimmer, schließlich den großen Leinwandbeutel, voll von hartem Geld und Scheinen, fand.

Der Kommissar stand dabei dicht hinter dem Verbrecher; er hätte, wie jener sich nun umwandte, eigentlich sein Gesicht sehen müssen ... Aber hier, wo keinerlei Anhaltspunkte vorlagen, versagte naturgemäß auch die gesteigertste Vorstellungskraft. Der Kopf des Mannes war wie mit dunklen Schleiern umhüllt ...

Da klingelte es ... So lebhaft arbeitete die spürende Phantasie des im totenstillen Amtszimmer mit auf der Pultplatte verschränkten Armen vor sich hinstarrenden Kommissars, daß er ein wenig zusammenzuckte bei diesem eingebildeten Klingelton ...

Der Verbrecher stutzte. Aber er schien kaum zu erschrecken. Er ging, jetzt mit festem, hörbarem Tritt durch das Wohnzimmer auf den Korridor hinaus und in die Küche.

Dort hatte es an der auf die Hintertreppe führenden Tür geklingelt.

»Was ist denn? Was wünschen Sie?« fragte der Mörder mit einer Stimme, deren Akzent und Klang dem Kommissar dunkelgefärbt und ausländisch erschienen.

Aber ihm, der unkörperlich hinter dem Finsteren stand, war es auch möglich, durch Riegel und Schloß zu dringen. Er sah nun plötzlich zwei Frauen und einen Mann, der eine Milchkanne trug, auf dem Treppenpodest stehen; und der Mann mit der Blechkanne, der antwortete dem da drinnen:

»Wir wollten bloß mal hören, was Frau Meyer macht. Sie muß doch Milch haben! ...«

Und die eine Frau sagte:

»Ja, und ich bin die Aufwärterin ... ich muß 'rein!«

Nach einer kleinen Pause hörte der Kommissar, der, vom Geist getrieben, wieder neben dem mörderischen Eindringling stand, wie dieser antwortete; mit freundlicher, ja ein wenig lachender Stimme, als wollte er ein nettes, lustiges Geheimnis nur halb verraten.

»Lassen Sie nur! Frau Meyer ist ganz wohl. Sie will aber jetzt nicht gestört sein. Kommen Sie, bitte, um zwölf Uhr wieder!«

Der Mann draußen lachte. Und der Kommissar, dessen Seele hinflog, noch ehe das breite, häßliche Lachen verklungen war, sah und hörte die drei grinsen und tuscheln ... Die laxe Moral der Ermordeten, ihre für eine Fünfzigerin doppelt anstößige Lebensform rettete jetzt ihren Mörder, dem die drei auf der Treppe gern glaubten, die Witwe habe ihn an die Tür geschickt.

Die beiden Frauen und der Milchmann stiegen, ihre Witze reißend, die Treppe hinab, und des Kommissars hellseherischer Geist sah gleichzeitig den Mörder zurückgehen über den Korridor, durch das Wohnzimmer, wo er die Frau erwürgt hatte. Hier blieb er stehen, legte den Geldbeutel in eine kleine Handtasche und ...

Das Dämmerbewußtsein des Kommissars riß wie ein Flortuch mitten voneinander.

Die Tür ging. Braun trat ein.

»Herr Kommissar, der Kruschat kommt gleich.«

Dr. Splittericht nickte.

»Sie waren doch da, Braun, wie die Meyer gefunden wurde?«

»Jawohl, Herr Kommissar, ich hatte zufällig auf Revierwache 32 zu tun gehabt und ging mit, mit dem Schutzmann Heinz, weil mir schon so was ahnte ...«

»Erzählen Sie doch noch einmal, wie war das?«

»Ja, also die Leute waren darauf aufmerksam geworden, weil die Frau Meyer doch gar nicht mehr zu sehen war ... die letzten acht Tage ... und an der Tür hing ein Zettel: »Ich bin verreist.« Na, und die Portierfrau, die Frau Kruschke, die erinnerte sich nu, daß sie damals, wo sie doch früh mit dem Milchmann und der Reinmachefrau vor der Tür standen, da hatte doch einer gesagt, von drin: sie sollten man wieder gehen, Frau Meyer wollte noch nicht gestört sein ... ja, und daran erinnerte sich die Frau nu wieder, und die Kruschke meinte: das hat die Meyer auch gar nich geschrieben, das auf dem Zettel ... Und da kamen sie aufs Revier, die Kruschke und noch eine, und meldeten das.

Dr. Splittericht nickte abermals.

»Ja, und da gingen Sie gleich hin nach der Mariendorfer Straße?«

»Jawohl, Herr Kommissar und ließen aufmachen durch'n Schlosser. Und gingen 'rein und suchten und suchten und wollten schon wieder gehen, weil alles so hübsch in Ordnung war und nichts Verdächtiges ... da seh' ich auf einmal unterm Tisch im Wohnzimmer den braunen Lederhandschuh. Daß der von 'ner Männerhand war, das sah ich gleich! Und da fingen wir nochmal an zu suchen und, wie wir wieder ins Schlafzimmer kamen, da sage ich: Hier riecht's so merkwürdig! ... das hatt' ich ja zuerst auch schon gemerkt, aber nu die dumpfige Luft und so lange nicht gelüftet ... und gehe ans Bett ... aha! und wie ich die Bettdecke wegziehe und das Oberbett, da liegt sie ... im Schlafrock und die blaue Seidenschnur um den Hals, festverknotet. Aber das war so geschickt gemacht, die Kopfkissen drüber, über der Leiche, und die Betten – wirklich, von außen war nichts zu sehen gewesen.«

Der Kommissar sah still vor sich hin. Sein Beamter, der die Gewohnheit des Vorgesetzten kannte, störte ihn durch keine Bewegung.

Und des kleinen Doktors Geist war tatsächlich wieder in der Wohnung der ermordeten Frau. Er sah das Bett, von dem der Beamte eben gesprochen hatte, so greifbar vor sich, daß er mit der Hand darüber hätte streichen mögen. Doch die Behausung war jetzt leer, der Mörder hatte den Schauplatz seiner Tat verlassen.

Die Tür öffnete sich abermals. Ein Schutzmann mit dem verhafteten Gerbereigehilfen trat ein.

Dr. Splittericht sah in das von Tränen verquollene Gesicht des Zwanzigjährigen, er sah den kindlichen und weichen Mund unter dem kleinen, braunen Schnurrbart und die flehenden Augen des jungen Menschen, die schwache Linie des Kinns und die fast zarten Wangen – da war nichts von der brutalen Heimtücke eines Meuchelmörders, kein harter und grausamer Zug; nicht einmal Trotz oder Verstocktheit las man aus diesen noch knabenhaften und leichtsinnigen Zügen.

Einer plötzlichen Eingebung folgend, fragte der Kommissar den angstvoll blickenden jungen Menschen:

»Waren Sie am Tage vor dem 13. April, also einen Tag vor dem Morde bei der Getöteten in der Wohnung?«

Der Angeschuldigte zögerte.

»Also Sie waren da!«

Da nickte Franz Kruschat.

»Ja, Herr Kommissar ...«

»Kam da jemand und brachte Miete?«

Der junge Mann erschrak.

»Woher wissen Herr Kommissar denn das?«

»Ich weiß ...«

Franz Kruschat senkte den Kopf und nickte abermals.

»Wo hat Frau Meyer das Geld hingelegt?«

Der Junge fing an zu zittern, endlich sagte er fast weinend:

»Sie wollte es ins Zylinderbureau tun.«

»Und wo hat sie's hingelegt?«

Der Blonde antwortete nicht.

»Sie haben sie absichtlich davon abgehalten, mein Junge?!«

Der Beschuldigte nickte reuevoll, er weinte, die Tränen liefen ihm über die Backen.

Jetzt wurde der Kommissar böse.

»Na, Sie alter Esel, warum sagen Sie denn nicht, daß Sie das Geld, was die Meyer in ihrer Zärtlichkeit rasch aus der Hand gelegt hat, daß Sie das gestohlen haben ... Nachher, da haben Sie gemacht, daß Sie fortkamen, nicht wahr? ... Warum sagen Sie denn das nicht?«

»Aber es is doch Diebstahl, Herr Kommissar!« weinte der Junge.

»Und da lassen Sie sich lieber wegen Mordes einsperren!«

»Na, das mußte doch 'rauskommen, daß ich's nicht gewesen war ...«

Der Kommissar stieß langsam die Luft durch die Nase, was bei ihm eine kurze Heiterkeit bedeutete.

»Warum mußte es? ... Na, meinetwegen! Sie sind 'n Taps!« Er wandte sich an seinen Gehilfen: »Ich werde nachher mit dem Chef reden und ich glaube, wir werden 'n wohl nachmittag entlassen können, den Kruschat ... Führen Sie den Mann ab, Braun!«

Das tat der Kriminalschutzmann, kam aber, kaum aus der Tür, allein wieder herein und meldete:

»Ich habe den Inhaftierten dem Kollegen Plummer zur Weiterbeförderung übergeben ... Herr Graf Hugo v. Zeinfeld wünscht den Herrn Kommissar zu sprechen.«

Gleich darauf standen sich der Aristokrat und der Doktor-Kommissar gegenüber.


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