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IX.

In der Telephonzelle nahm der Graf mit einem leisen Zittern in der Hand den abgehobenen Hörer vom Pult:

»Hier Graf Zeinfeld – wer dort?«

»Ach, Herr Graf, hier ist Hedi ... das Mädchen von Fräulein Sebraczety ... ja! ...«

»Ach Sie sind es! ... Was ist denn? ... Sie weinen ja! ... Weinen Sie doch nicht! ... Sagen Sie mir doch ruhig, was ist! ... Was ist denn passiert?«

Er hörte eine Weile nur das Schluchzen des Mädchens, das immer vergeblich sich zu reden bemühte, und seine eigene Unruhe stieg mit jeder Sekunde.

»Haben Sie etwas gehört vom gnädigen Fräulein?«

»Nein, Herr Graf ... nein ... ach! ... ich ...« Sie erfüllte den Apparat mit lautem Schluchzen.

»Ist Ihnen denn etwas zugestoßen? War irgend jemand dort?«

»Nein ... nein ... aber ... ich habe den Herrn Grafen ... schon heute früh antelephoniert ... in seiner Wohnung ... aber ... Herr Graf waren schon fort ...«

»Ja, das stimmt ... aber was haben Sie nur? ... So reden Sie doch endlich!«

»Ich will ja auch, Herr Graf, ich will ja ... ich ... ich ...«

Und wieder verscholl alles andere in der unbeherrschten Weichheit des Mädchens.

»Also gut, ich komme sofort zu Ihnen! ... Warten Sie auf mich! ... Hören Sie? ...«

»Jawohl, Herr Graf ... ja ...«

Zeinfeld hatte des Mädchens krampfhaftes Weinen noch im Ohr, als er aus der Telephonzelle hinüber in des Direktors Zimmer ging.

»Ich bin von dem Mädchen von Fräulein Sebraczety angerufen worden.« Er bewahrte mit großer Anstrengung seine Haltung. »Ich werde vor allem mal dorthin fahren ... Sie begleiten mich doch, Herr Doktor?«

Der Kommissar sah den Sprechenden an, und es entging ihm nicht, wie sehr Zeinfeld mit seiner inneren Angst kämpfte; er wollte ihn deswegen vor allen Dingen hinausbringen, begrüßte den Direktor und die Schauspieler und stand eine Minute später mit dem Aristokraten auf der Straße.

Der drückte ihm die Hand.

»Ich danke Ihnen, lieber Herr Doktor! ... Ich hätt' es auch nicht länger ausgehalten unter diesen schwatzenden, gleichgültigen Menschen! ... Es kann ja nicht jeder das fühlen, was ich empfinde ... aber für mich ... ist es beinah' zu viel! – Was erwartet uns nun wieder dort, in Ilonas Wohnung?«

»Ruhe, lieber Herr Graf, nur Ruhe! ... Ein weinendes Dienstmädchen ist noch kein Grund, den Kopf zu verlieren! ... Wo wohnt denn Fräulein Sebraczety? ... Ach ja, Sie sagten schon: Würzburger Straße 20 ... »

Der Chauffeur des Grafen hatte die letzten Worte gehört, die der Kommissar lauter sprach. Er sah seinen Herrn fragend an, der nickte beim Einsteigen.

Und der Motor sang seine Weise. Das Auto fuhr durch den Tiergarten nach Westen, über den Königsplatz, dessen blühender Rotdorn über dem sonnefunkelnden, von Spindelfontänen erfrischten Rasen, seine purpurnen Girlanden hoch aufflackern ließ. In der wonnevollen Luft lachte der Frühling und schwang sich strahlend und jauchzend empor zu der goldenen Göttin, die ihre Arme erhob, um ihm, dem Sieger, ihren Kranz zu reichen.

Die beiden Männer hingen ihren Gedanken nach. Des Kommissars Art war es nicht, unnötig zu reden, und dem Grafen hätte jetzt jedes Wort wehgetan. Er verzehrte sich in Unruhe, welche Hiobsbotschaft ihm nun wieder kommen werde, und atmete hoch auf, aus tiefbefreitem Herzen, als der blaue Wagen vor dem Hause hielt, in dem die Liebste wohnte – nein, ach nein! in dem sie gewohnt hatte, bis die dreimal verfluchte Hand eines Schurken sie hinausgerissen hatte, aus ihrem sonnigen Eden in ein furchtbares Dunkel ...

Das Mädchen hatte die Herren schon aus dem offenen Fenster gesehen. Es stand weinend in der Korridortür, als die beiden schnell, der Graf dem Kommissar immer noch voran, die Treppe hinaufstiegen.

Auch jetzt brachte sie nur unzusammenhängende Sätze hervor: »... sie hätte doch nichts dafür gekonnt! ... und es wäre ihr doch so gräßlich gewesen ... so furchtbar gräßlich ... darum ... hätte sie bei ihrer Freundin geschlafen ... so allein in der Wohnung ... nein, das hätte sie einfach nicht ausgehalten ... und jetzt ... jetzt ...«

Sie fing laut an zu schreien und lief vor dem Grafen und dem Kommissar her, bis in das Boudoir.

Da sah Zeinfeld, was geschehen war ... Auch dem Kommissar wurde aus den herausgezogenen Schubfächern, den offenen Schranktürchen und den am Boden liegenden Papieren der Zusammenhang der Dinge bald klar.

Er nahm sich sofort und sehr energisch die weinende Hedwig vor.

»Hören Sie mal jetzt auf zu weinen! ... Und erzählen Sie auf der Stelle, was sich seit gestern nacht hier zugetragen hat! ... Sonst nehm' ich an, daß Sie mit dem Täter im Komplott sind, und muß Sie verhaften!«

Das half ... Vor Schreck versiegten dem Mädchen die Tränen.

»Ich? ... aber mein Gott, Herr ... Herr ...«

»Ich bin Kriminalkommissar.«

»Herr Kriminalkommissar, was soll ich denn damit zu tun haben? Das kann man doch von mir nicht verlangen, daß ich die Nacht hier zubringen soll, in der Wohnung! Sie sehen doch, wenn ich hier geblieben wäre, dann hätt' er mich sicher auch ermordet!«

»Wo waren Sie also die Nacht über?«

»Bei meiner Freundin ... Bei Fräulein Emilie Gottschalk, die hier unter uns dient, bei Geheimrat Schröter ...«

»Holen Sie sie mal gleich herauf!«

Die silberne Schatulle, in der Ilona ihren Schmuck aufbewahrte, scheint zu fehlen,« sagte der Graf halblaut!

»Dann gehen Sie nicht fort ... bleiben Sie hier!« sagte Dr. Splittericht schnell. »Ich werde mir das Fräulein selber 'raufholen! ... einen Augenblick, Herr Graf!«

Der Kommissar verließ das Zimmer.

Das Mädchen hatte vor dem ungerechten Verdacht ihre Tränen verloren, es sah trotzig vor sich hin.

»Wie können Sie sich nur solche Ungelegenheiten machen?« sagte der Graf ein bißchen verlegen, denn ihm selber wollte es nicht so recht scheinen, als habe Hedwig mit dem Abhandenkommen der Schmuckschatulle etwas zu tun.

»Ich mir?« Sie lachte schnippisch, »wieso denn, Herr Graf? ... weil sich Fräulein Sebraczety von irgendeinem hat entführen lassen?«

»Schweigen Sie!« sagte Zeinfeld streng und gab sich alle Mühe, seine schmerzvolle Wut nicht merken zu lassen.

»Ja, jetzt soll ich schweigen, weil ich sage, was is ... aber natürlich unsereiner, den kann man ja alles aufladen! ... wer weiß, wer den Schmuck hat ... ich ...«

»Sie sollen still sein! Ich will Ihre törichten Worte nicht hören, verstehen Sie mich denn nicht?«

Der Graf hatte, trotz seiner tiefen Empörung sich auch jetzt noch beherrschend, doch mit einer so verhaltenen Heftigkeit gesprochen, daß das Mädchen erschrocken verstummte.

Gleich darauf kam der Kommissar mit der schwarzen Emilie. Das war eine von den Mundfertigen, die sich so leicht nicht zähmen lassen.

»Was,« sagte sie und sah den Grafen wie den Kommissar groß an, »wir sollen den Schmuck jemopst haben! Na, ich jloobe jar! ... Jestern abend, so nach elfe, da kommt meine Freundin bei mir runter, janz aufjelöst un weint ejal weg, se will nich hier oben schlafen, se kann nich! ... Ihr Fräulein is von eenen entführt, von wen, weiß se nich, un wenn der wiederkommt, denn macht er ihr vielleicht ooch kalt! ... Na, was soll' ich denn da machen? Da hab' ich se bei uns schlafen lassen, das is doch Christenpflicht! ... Wenn se nu ohnmächtig wird hier oben, oder 's passiert ihr sonst was?!«

»Na, und wär' et denn etwa nich?!« warf sich nun die kleine Blonde mit einer Leidenschaftlichkeit, die ihr der Graf gar nicht zugetraut hatte, in die Debatte, »er ist doch noch mal dajewesen, der Mörder! Das sehen Se doch! Wer soll'n denn sonst hier drin 'rumjekramt haben!«

Dem Grafen war's, als drehte man das Schwert in seiner Herzenswunde um und um. Er nahm den Kommissar beiseite.

»Lassen Sie die Mädchen gehen, lieber Herr Doktor, ich halt's nicht aus! ... Man sieht's ja doch, daß sie die Wahrheit sagen! ... Die Hedi is bei Ilona gewesen, solange ich meine Braut kenne; sie war stets 'n ordentliches Mädchen, immer fleißig und treu ... und dann, ich kann das auch nicht länger mitanhören!«

Dr. Splittericht nickte. Auch ihm sagte sein sicherer Instinkt, daß diese beiden da mit dem Verschwinden des Schmucks nichts zu tun hätten. Trotzdem wollte er die Mädchen noch nicht ganz aus den Fingern lassen.

»Sie können beide vorläufig gehen!«

Doch die beiden Dienenden hatten sich inzwischen auch heimlich verständigt.

»Vorläufig?« sagte Hedi ganz keck und Emilie setzte hinzu:

»Ich jehe sowieso ... Wenn Se von mir was wollen, denn können Se mich jederzeit finden, hier unten, eine Etage tiefer ... Dis wäre ja noch schöner! ... hahaha! ...«

Sie lachte laut und ungeniert, und der Kommissar mußte sie ernstlich ermahnen, sich angemessener zu betragen; auch dann wandte sie sich böse maulend zur Seite.

Hedwig sagte:

»Ich bleibe auch nicht ... Fräulein Sebraczety ist fort ... aber wer gibt mir nun mein Geld? Ich habe doch noch bis zum 1. Juli mein' Lohn zu kriegen!«

Mit einem ganz kranken Gesicht nahm der Graf seine Brieftasche heraus, reichte dem Mädchen einen Schein und sagte:

»Genügt das?«

Nun wurde sie kleinlaut.

»Aber ich bitte, Herr Graf, das ist ja zu viel!«

»Lassen Sie doch und dann gehen Sie bitte! Ja, gehen Sie!«

Die Tränen stürzten dem Mädchen, das ja kein böses Herz hatte, wieder aus den Augen.

»Herr Graf ...«

»Ja, ja, Hedi, es ist gut ... ich habe nur jetzt mit dem Herrn Kommissar allein zu reden!«

Die Mädchen gingen. Hedwig mit einem letzten, verlegenen Gruß, die andere mit dem trotzig resoluten Gebaren der Dienenden, die nicht mehr an die Güte der Herrschenden glauben, die ihre Arbeit für einen möglichst hohen Betrag verkaufen und jedes Gefühl als eine lästige Zugabe betrachten.

Dann sahen die beiden Herren die offenen Schubfächer und Kasten nach. Rechnungen fanden sich, Noten und Textbücher und, mit einem dunkelroten Seidenband gebunden, die sämtlichen Briefe, die Graf Zeinfeld an Ilona geschrieben hatte. Auch Photographien aus ihrer Bühnenzeit ... aber nichts ... nichts, was über ihr früheres Leben hätte Aufschluß geben können!

Ganz zuletzt, als der Kommissar ein Notenheft durchblätterte, fiel eine Photographie heraus, die er mit einem »Aha! ... sehen Sie! ...« dem Grafen hinhielt.

Der sah mit seinen vom Schmerz getrübten Augen das Bild an. Es war eine jener sogenannten Testphotographien, die die Schauspielerin darstellte, die schönen Glieder in einen durchsichtigen, gazeartigen Stoff gehüllt, in horizontaler Lage frei im Raum schwebend. Das edle Gesicht mit den festgeschlossenen Augen, der Todesstarre um Mund und Nase, verriet den somnambulen oder hypnotischen Zustand der Photographierten, die mit geschlossenen Lenden und fest am Körper liegenden Armen, den Eindruck einer wunderschönen Mumie machte.

»Das ist mit großer Raffiniertheit gearbeitet,« sagte der Kommissar, »solche Photos findet man nicht selten in spiritistischen Zirkeln, nur nicht so vorzüglich in der Ausführung ... Das verblüfft natürlich jeden ... aber sehen Sie sich's bitte mal hierdurch an, Herr Graf!«

Dr. Splittericht holte eine Lupe aus seiner Westentasche und reichte Zeinfeld Bild und Vergrößerungsglas.

»Sehen Sie jetzt? Die Figur ist aus einem anderen Photo herausgeschnitten und dann auf dieses aufgeklebt, und so im ganzen noch einmal getypt ... Aber das alles ist so glänzend gemacht ... Der Gauner, mit dem wir es hier zu tun haben, ist in seiner Art Künstler ...«

»Was sagt uns das?« fragte der Graf und seine Stimme klang bange und mutlos.

»Vorläufig nicht viel ... Aber trotzdem ist das Bild wertvoll ... es bestätigt, was Sie mir vorhin erzählt haben und es läßt den Verdacht in mir zur Gewißheit werden: jener Salvioli aus Frankfurt am Main und der Entführer des Fräuleins hier ist ein und dieselbe Person ... denn ganz ähnliche Photographien habe ich damals bei den Frankfurter Spiritisten auch gefunden ... Und dann, Herr Graf, meine, des Kriminalisten, Arbeit ist eine Kette, die aus vielen Einzelgliedern besteht ... mir ist, als hätt' ich mit dieser Photographie das erste wichtige Glied gefunden ...«


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