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Ilona Sebraczety saß mit gefalteten Händen am Fenster der niedrigen Stube. Sie sah durch die geöffneten Flügel über die Geranienstöcke und die Hochzeitsmyrte der blonden Gärtnersfrau ins Abendgold ... Wie schön war die Welt und wie entsetzlich die Menschen, die in ihr lebten!
Sie lauschte nach der Portiere hin ...
Der da drin im Nebenzimmer schlief ...
Wie stets, wenn er im Spiel verlor – und er verlor beinahe immer –, hatte er sich an Sekt toll und voll getrunken ... Nun ängstigste sie sich, daß er die Zeit zur Sitzung verschlafen würde ... denn ihn zu wecken, hätte sie nicht gewagt ...
Wie kam das doch alles nur? ... Daß sie hier war in diesem Zimmer? ... Daß sie auf die Atemzüge dessen lauschte, von dem sie nicht wußte, ob ihr Abscheu oder ihre Furcht vor ihm größer war? ... Warum ging sie nicht heimlich fort? ... Die Tür stand doch offen! Keiner hätte sie aufgehalten, wenn sie jetzt leise, mit fliegenden Füßen entwichen wäre ...
Es wartete einer auf sie da draußen! Oder ob er schon sie vergessen und sie aus seinem Herzen gerissen hatte? – Ach, nein! nein! Hugos Liebe zu ihr war größer, als ihre eigene, schwache Seele es je begreifen konnte ...
Aber weshalb blieb sie hier? ... Warum entfloh sie nicht und zeigte der Welt das Versteck dieses Fürchterlichen, der wie ein dem Abgrund Entstiegener alles Böse in sich schloß, der aller Welt Feind und selbst sein eigener Teufel war?!
Wenn sie soweit kam, versagten ihr Sinne und Gedanken ... Sie sah nur noch ihn und das Gefühl, unter seinem Fuß zu liegen, mit tausend Ketten gebunden zu sein an ihn und sich nicht auflehnen zu können gegen seinen Willen – das tötete jeden Wunsch, jegliches Wollen in ihr.
Sie hatte einmal etwas von Liebeshörigkeit gelesen, aber das war es längst nicht mehr ... Vielleicht damals, als sechzehnjährige Konservatoristin, war etwas wie eine törichte Leidenschaft in ihr aufgeflackert für den eleganten und geistreichen Menschen, der sich Professor Andoschin nannte, der kurze Zeit mimische Stunden an ihrer Theaterschule gab und der geradezu einen spiritistischen Kult unter den Konservatoristen entfesselte. Das Geisterzitieren war so Mode geworden unter den jungen Leuten, daß nichts mehr geschah, ohne daß in einer Séance der Rat der Unsichtbaren eingeholt wurde. Ein junges Mädchen erschoß sich und ein Schauspieler wurde irrsinnig, aber die übrigen trieben ihr verwegenes Spiel weiter und die tollste und fanatischste unter den Beschwörerinnen war Ilona Sebraczety ...
So im Banne des Uebersinnlichen stand sie und mitten in der okkulten Welt, daß sie gar nicht merkte, wie der Magier selber Besitz von ihrem Fühlen und Denken ergriff ... Bis sie eines Tages in seinen Armen aus ihrem hohen Traum zum traurigsten Erkennen seines frevelhaften Ziels erwachte ...
Und da begann es ...
In der Stunde, als sie Weib in seinen Armen wurde, fing seine Macht über ihre arme Seele an, da ward sie zur schmählichsten Fessel verdammt, die je ein Weib getragen ...
Als sie am Morgen nach jener Nacht, von Reue und Scham gefoltert, heim wollte zu ihrer Mutter, sagte er:
»Nein, du bleibst hier!«
Und sie blieb. Sie blieb bei ihm.
Damals glaubte sie noch, es sei nur die Angst vor der Mutter, die Furcht, der Exaltierten so unter die Augen zu treten. Aber drei Tage später befahl er:
»Geh', ich will dich nicht mehr sehen!«
Und sie ging. Sie schleppte sich mit wundem Herzen nach Hause, fiel ihrer Mutter zu Füßen und ertrug alle Demütigungen und die ebenso rasch aufpulsende Zärtlichkeit der rabiaten Frau, die ihr das auch in einer schwachen Stunde empfangene Leben gegeben hatte ...
Damals war sie, um sich zu kasteien und weil sie ihren früheren Freundinnen ausweichen wollte, in die Fabrik gegangen und hatte für geringsten Lohn kleine, bunte Strohkästchen geflochten. Und war glücklich in ihrer schweren Arbeit gewesen, die ihr Reue und Buße schien ...
Eines Tages kam ein Brief.
Sie erkannte seine Schrift und hatte nach langem Ringen die Kraft, das Kuvert ungeöffnet in Feuer zu werfen.
Nach einer Woche stand er abends bei der Heimkehr vor ihrer Tür. Er sagte:
»Komm mit!«
Und sie folgte ihm. Sie schluchzte leise in sich hinein: sie wußte nicht, woher ihm die Macht kam, so über sie zu verfügen, und weshalb sie so widerstandslos folgen mußte ... Das war das Rätsel ihres jungen Daseins, das – sie fühlte es schon damals – sie nie würde lösen können.
Er hatte sie in den spiritistischen Sitzungen, die im Konservatorium begonnen hatten und später in allen möglichen Zirkeln fortgesetzt worden waren, erst nur selten, dann aber ständig als Medium benutzt. Vielleicht aus einem Erbteil ihres unglücklichen Vaters neigte sie dazu, leicht in kataleptischen Schlaf, in eine vollkommene Todesstarre zu fallen. In diesem Zustand empfand sie Nadelstiche, ja selbst eine heftige Quetschung nicht als Schmerz und folgte bedingungslos den Weisungen des Hypnotiseurs, der sie, die sonst nicht in die Tiefe blicken konnte, ohne schwindlig zu werden, auf einem durch das Zimmer gespannten Seil zu gehen zwang. Ja, er suggerierte ihr kleine, harmlose Diebstähle, die sie richtig im Wachen ausführte – zum großen Jubel ihrer männlichen und weiblichen Kollegen, denen diese Experimente großartig gefielen.
Aber sie selbst hatte damals schon einen Teil ihrer Seele an diesen Entsetzlichen verloren, der sie wieder zu sich rief, aus ihrer zwar armseligen, aber doch ehrlichen Arbeit, nur um sie noch tiefer in Schande zu verstricken, sie noch mehr zum Geschöpf seiner Laune und seines verbrecherischen Willens zu machen.
Einmal war sie heimlich zu einem berühmten Psychiater gegangen. Der verstand, was sie so todeselend machte. Sie interessierte ihn wohl, denn er sprach stundenlang mit ihr und fragte sie nach den kleinsten Einzelheiten.
»Aber,« sagte er zum Schluß achselzuckend, »ich werde Ihnen auch nicht helfen können ... Die Experimente, die dieser Herr Professor macht und für die er sich bezahlen läßt, sind an sich nicht strafbar ... Etwas anderes wäre es, wenn er diese spiritistischen Gaukeleien benutzte, um Geld von jemand zu erpressen ... aber auch gesetzt den Fall, dem wäre so ... auch dann wird sich nichts gegen ihn unternehmen lassen, denn Sie selbst, mein Fräulein, Sie werden als Zeugin versagen! ... Selbst wenn man Ihren Geliebten oder, wollen wir richtiger sagen: Ihren Bezwinger, selbst wenn man den ins Gefängnis setzt, wird sein Einfluß auf Sie nicht aufhören ... Und vor Gericht werden Sie jede Beeinflussung leugnen ... Dieselbe rätselhafte Macht, die Sie zwingt, ihm wie eine kleine Hündin nachzulaufen, die wird Ihnen auch die Worte zu seiner Verteidigung in den Mund legen, anstatt daß sie ihn anklagen sollten ... Wirklich, Sie sind der interessanteste Typ von Dependilismus, der mir bisher vorgekommen ist. Bei Ihnen ist die natürliche Anlage vorhanden, offenbar aus beiderseitiger Heredität – Vater und Mutter –, Sie sind die geborene Somnambule, die Clairvoyante, wie sie im Buche steht ...«
Einen Augenblick hielt er inne:
»Und Sie sind an einen jener Verbrecher, jener geistigen Sadisten geraten, der das Zeug zum Beherrscher, zum Knechter der Weibesnatur ebenfalls von Geburt an in sich trägt, und dem seine zweifellose Bildung obendrein die Hilfsmittel an die Hand gegeben hat, mit denen er aus einem Herrscher der Despot, aus einem gewaltsam Liebenden der finsterste Tyrann geworden ist ...«
Als Ilona den Mann der Wissenschaft verließ, hatte sie die schönste Formel für ihr jämmerliches Sklaventum in der Tasche – ihre Seele lag nach wie vor in unzerbrechlichen Ketten, und ihr armes, gefoltertes Herz verlor die letzte Hoffnung, jemals loszukommen aus der Gewalt ihres Zwingherrn ...
Als es in Budapest zum Skandal kam – nur der hohe Rang und Name von einigen der Beteiligten verhinderte die Gerechtigkeit, offen ihres Amtes zu walten –, floh der Professor Andoschin, der, wie Ilona jetzt wußte, eigentlich Pietro Salvioli oder vielleicht auch noch anders hieß.
Und Ilona folgte ihm. Er schrieb aus London und sie kam sofort. So sehr war sein Wille auch der ihrige, daß sie gar nicht mehr widerstrebte, nicht einmal innerlich! Er befahl und sie gehorchte ...
Sie verdienten in England, dem klassischen Lande des Aberglaubens – auch in höheren Sphären –, ein Vermögen. Doch jede Summe zerrann zwischen den Fingern des Gauklers, der alle zu betrügen verstand, bis auf die Karten, die ihre Rache kaltblütig und unerbittlich an ihm übten ...
Er verlor alles, er verlor selbst die Besinnung, die ihn sonst nie verließ, beim Kartenspiel ... Und er hatte nicht einmal Lust, gegen dies Laster, das ihn zermürbte, anzukämpfen. Vielleicht reizte ihn die launische Göttin, die einzige, die sich von ihm nicht zwingen, ja die sich nicht einmal täuschen ließ von diesem Erzbetrüger.
In London hatte er eine Frau kennengelernt, mit der er davongefahren war, ohne auch nur ein Abschiedswort an Ilona zu richten. Und die arme Sklavin, die bald in bittere Not geriet, wußte nicht einmal, ob sie wagen dürfe, zu flüchten. Sie hatte sich schließlich, als ihr keine Wahl mehr blieb, an das deutsche Konsulat gewandt; so erhielt sie die Mittel zur Rückreise nach Deutschland. In Berlin ging sie zum Agenten wegen eines Theaterengagements, und der Mann sagte achselzuckend:
»Ja, wenn Sie etwas Neues fürs Varieté hätten! ...«
Da begann ihr kluger Kopf, der erst langsam wieder selbständig denken lernte, in dem Erlebten und Erfahrenen zu suchen. Ihr fiel ein, was sie so oft unter dem Albdruck eines grausamen Willens hatte tun müssen: das Lesen in fremden Gesichtern und Schriftzügen. Sie fand auch jemand, der ihr die notwendige Hilfe leistete, und galt nach dem ersten Debüt als gesuchte Varieténummer, verdiente Geld, soviel sie wollte, und konnte das Glück nicht fassen, allein zu sein, nach ihrem Willen zu leben und den Entsetzlichen, der ihr Verderben war, nicht mehr sehen zu müssen.
Und dann, als sie wieder ihrer alten Sehnsucht folgte und zum Theater ging, kam er ... Der liebste, der beste, der einzige Mensch, der ihre Seele durch seine Liebe erlöste von dem Fluch, der sie einmal doch – das fühlte sie als etwas Unabwendbares! – in Nacht und Wahnsinn treiben mußte.
Das waren selige Tage! ... Ach, wie der Goldglanz draußen über den blühenden Feldern, der der Nacht voranging, wie der sinkende Sommerabend strahlend herüberwehte, so winkte das Glück an Hugos Seite noch her in ihre blutige Trauer! ...
Wie hatte sie ihn verlassen können? ... Wie hatte ihr Herz es ertragen, ohne ein Abschiedswort, ohne den letzten Kuß von dem Geliebten zu scheiden? ... Daß sie ihn für immer verloren hatte, daß sie nie mehr an seine Brust sich werfen, nie mehr sein heißklopfendes Herz an dem ihren fühlen würde, daß wußte sie ... Aber sie wußte nicht, warum! ... Vor diesem schwarzen, undurchdringlichen Vorhang lag ihr zerbrochener Mut, ihr erwürgter Wille!
Und selbst ihre Sehnsucht war erblindet ... So groß, so schreckensgewaltig war der Zwang gewesen, dem der Finstere sie unterwarf, als er an jenem Theaterabend in die Loge trat. Sobald sie ihn erblickte, war sie verloren ... Er legte die Hand auf sie, wie auf einen Gegenstand, der einem gehört, den man jederzeit wieder in Besitz nehmen kann. Wie das Hühnchen, um das man mit Kreide einen Kreis beschreibt, war sie gefangen und betäubt ... Er hätte gar nicht nötig gehabt, in das Auto zu steigen, an Stelle des Grafen – sie hätte ihm doch folgen müssen. Er hatte ihr ja schon in der Garderobe beim Abschminken befohlen, daß sie zu ihm komme ... wie hätte sie sich denn gegen ihn wehren, wie ihm entfliehen sollen? ... Und hätte sie die Kraft besessen, wäre, ihm trotzend, in die Arme ihres Liebsten geeilt, so hätte der andere den Weg zu Hugo bald genug gefunden ... Dann hätte, der ihr Abgott war, erfahren, wie schmachbedeckt und keiner Liebe wert sie war ... Sie hätte ja doch von ihm müssen ...
Ach, so elend war sie, daß sie die Kraft nicht hatte, das teuere Angesicht, die geliebte Gestalt Hugos vor ihrem Geiste aufleben zu lassen! ... So unglücklich war sie, so schwach ihre Seele, daß sie den heißersehnten Befreier, den Tod, nicht einmal suchen konnte ... Sie aß so wenig, der Schlaf floh sie, und qualgefolterte Träume rissen an ihren armen Nerven. Aber sie lebte weiter, sie wunderte sich selbst, wie unzerreißbar dieser dunkle Faden war, an dem sie vorwärts mußte, durch Dornen und über spitzige Steine ...