Jean Paul
Palingenesien
Jean Paul

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Erster Reise-Anzeiger

Fata: meine Werthers-Freuden in der Ehe – meine Werthers-Leiden – das gefährliche Berühren meiner brieflichen Bundeslade – der 21ste März voll scharfem Märzstaub – der Vorsatz
Werke: mein Protokoll und Nachtblatt der Schläfer

Schon als ich über die erste Sehenswürdigkeit der Reichsstadt, nämlich über die Abcbrücke, ging, stellten sich die Gewissensbisse ein. »Muß denn nicht Siebenkäs denken,« (sagt' ich) »daß du mehr wegen seiner Auswahl aus des Teufels Papieren als deiner Frau halber nach Nürnberg gekommen?« – –

Nichts macht den Anfang eines Buchs verdrüßlicher, als daß man darin dem Leser erst hundert Dinge notifizieren muß, die er nicht weiß; die Exposition ist ganz kurz diese:

In Siebenkäsens Lebensbeschreibung macht' ich bekannt, daß er die Teufels Papiere geschrieben: viele deutsche Kreise wollten das Buch um des Menschen willen sehen, wie sonst umgekehrt; es war aber bei keinem Spezereihändler mehr zu haben. Wie man sonst in Paris vor der Erfindung des Drucks ein Buch in 200 Hefte zersetzte und es so für ein Geringes an 200 Leser auf einmal verliehMeiners Vergleichung des Mittelalters etc. II. p. 540.: so hatte man für die Teufels-Papiere, die ihrer Satire wegen dem ernsten Publikum schwer beizubringen waren, etwas Ähnliches mit Erfolg inkaminiert: man ließ sie in den merkantilischen Zergliederungshäusern auseinandernehmen und die Satyrs (zwar nicht wie die athenischen mit Grazien, aber doch) mit Goutées und dergleichen füllen – wie man für die Kinder aus Pfefferkuchen eine Abcbrücke macht – und brachte sie völlig durch diesen Stückverkauf und unter den mannigfaltigsten stereometrischen Formen in Kurs. So setzte man in kurzem die erste Auflage ganz leicht ab.

Aber an die zweite wollte der Verfasser nicht gehen: Siebenkäs ist, wie ich schon vor einigen Jahren berichtete, Inspektor in Vaduz und hat nun mehr die Werke des Teufels als die Papiere desselben in die Waschmaschine zu werfen. Noch weniger konnte ich machen, da er mir vorhielt: »Du bist daran schuld, J. P., also schreibe du sie! – Überhaupt: der Rechtsgang ist ein Gallengang, und den Steindamm der Geschäfte pflastern lauter Gallensteine – und eben darum und vor lauter Zorn kann man den Zorn nicht ästhetisch, d. h. satirisch auslassen, so wenig als der Jüngling die Liebe während seiner Liebe malen kann: erst nach dem kürzesten Tag kommt sowohl die größte Kälte als nach dem längsten die größte Wärme. Und bedenke nur, daß mich der Graf zu seinem Prozeß nach Wetzlar schickt, wo ich ganz andere Papiere vorbekomme als teuflische, und wo ich – weil dieses Amphiktyonengericht wie jede Republik nur langsame Entschlüsse fasset, und weil überhaupt die Ewigkeit a parte ante eines ewigen Kriegs vor der Ewigkeit a parte post eines ewigen Friedens ablaufen muß – so fest sitzen werde wie ein Schröpfkopf. Mit einem Wort, du, du machst die Edition!« – –

Der Inspektor Siebenkäs war mitten im Hornung nach Wetzlar abgegangen, um vor diesem ersten Reichsgerichte und Reichsvikarius der Themis im Lager oder Winterquartier von 20 000 Prosessen die Zeltgasse des gräflichen Prozesses aufzusuchen und womöglich in einem Vierteljahre mobil zu machen: so spät wollt' er erst wieder zurück. Wenn ein Freund verreiset, bleibt man ungerne zu Hause, daher Kastor und Pollux die Ober- und Unterwelt miteinander bezogen. Vaduz, wo Firmian richtet und wohnt, liegt von Hof (meiner Wohnpfalz) nur einige Kanonenschüsse und darum setzt' ich mich, da ich ihn fliegen sah, auch aufs Flugbrett heraus und spannte die Flughaut auf. Können denn nicht, dacht' ich, unsere Weiber – seine Natalia und meine Hermina, mit der ich am neuen Jahre als ihr ewiger Hausfreund auf die Freundschaftsinsel der Ehe gezogen war – oder vielmehr unsere Strohwitwen (wozu die jetzigen Strohhüte, Strohgürtel und Strohbesatzungen ungemein passen), können sie nicht zusammenziehen und den ganzen Tag von ihren lieben Männern reden und fragen: wo mögen die herrlichen Seelen wohl jetzt hausen? Auch taten sie es, und noch wohnet Natalia in Hof bei meiner Hermina.

Und wie leicht war mit einer kleinen Reise zugleich die zweite Auflage zu machen! Denn neue Werke kommen in Wirtshäusern und auf Straßendämmen aus gänzlichem Mangel aller Bücherschränke, dieser treibenden Glaswände, nicht fort, aber neue Editionen der alten geraten wie Flugsand und Steinflechten auf jedem Boden. Bei Firmians Papieren bestand das Verbessern ohnehin bloß in Verkleinern. Überhaupt sollten die Papiermüller für die jetzige romantische und philosophische Literatur ein Druckpapier aus Steinflachs machen, damit man eine neue gereinigte, durchaus verbesserte Auflage bloß durch die Scheidung auf dem trocknen Weg veranstaltete, indem man die alte ins Feuer würfe und dann den Asbest herauszöge. Die Schönheitslinie solcher Werke sollte steilrecht, nicht waagrecht laufen, so wie auch Eisenstäbe vertikal magnetischer wirken als horizontal; und daher stellen eben die Rezensenten gerade mit Schwabacher (der Horizontallinie im Manuskript), womit die Autoren die Schönheiten vorheben, die Fehler ans Licht. – –

Ich eile nun wieder auf die Brücke zurück, wo ich schon seit acht Seiten mit Gewissensbissen stehe und auf mich warte. Ich hatte unterdessen die beiden Pyramiden der Brücke besehen, auf deren einer eine Taube und auf deren zweiter ein Doppelschnabel von Adler sitzt, der vielleicht auf die Taube stieße, besäß' er nur so wenige Schnäbel als Mägen, nämlich einen. – Man ging dann in den sogenannten Irrhain (bei Kraftshofe) spazieren.

Ein anderer wäre auf die Hallerwiese oder auch in den Jüdenbühl (durch den ich schon am Morgen eingezogen war) oder der Gesellschaft wegen gar auf den Dutzendteich gegangen. Aber heute hätte mich nichts aus dem Irrgarten gebracht. In einigen der nächsten Reise-Anzeiger werden der Welt die Ursachen vorgezählt, warum ich mich gerade den ersten Tag in Nürnberg kaum auf den Beinen halten konnte; und eben diese an die Erweichung grenzende Ermattung trieb mich in den Hain: das Schwellen des Herzens wie das der Adern kommt nicht immer von Vollblütigkeit, sondern oft von Schwäche der Gefäße her. Ich wußte, daß der Irrgarten im Jahr 1644 für den sogenannten Harsdörferschen Hirten- und Blumenorden an der Pegnitz gesäet und gepflanzet wurdeDer Blumenorden existiert noch in Nürnberg, ist aber, wie oft Dichter und Zeitalter, ein Frucht- und Blätterorden, nämlich eine historische und literarische Gesellschaft geworden.; und als Kind hatt' ich oft in einem Quartanten voll Kupferstiche, den der Orden geliefert, herumgeblättert: das zog mich an. Die ersten grünen Frühlingsmonate unsers Lebens liegen in einem so dunkel-zauberischen tiefen Tempetal, in das bloß ein blauer griechischer Himmel ohne eine Sonne hineinscheinet, daß die kleine spielende Seele in dieser glänzenden Correggios-Nacht nur Engel, Silberpappeln, Sterne auf der Erde und vergrößerte, obwohl undeutliche Gestalten erblickt. Sogar der Inhalt der ersten Lektüre nimmt daher etwas vom Glanze unserer ersten Tage an. Ich wußte z. B. lange nicht, warum ich mich so sehr in den dreißigjährigen Krieg und in die Polarländer hinsehnte, bis ich herausbrachte, daß ich die schimmernde Zeit, worin ich zuerst in beide schauete, mit der trüben vermenge, die man darin verleben muß. Ebenso hat der von Maifrösten kühle und von Reifen glänzende Wonnemonat unserer Literatur, worin Gellert, Gärtner und die Belustiger des Verstandes und Witzes schrieben, für mich, für Adelung und die kursächsischen Kunstrichter ungemein viel Reiz, bloß weil wir sie als Kinder lasen und nun die Wieglebsche Magie unserer Kindheit von der Magie der deutschen nicht mehr trennen können.

Je länger ich vor den grünenden Seitenlogen des Irrhains, dessen Front- und Mutterloge ein belaubtes Labyrinth war, auf- und abstrich und mich bald in jene, bald in diese Hütte setzte und daran dachte: hier saß 1644 Harsdorf, Klai und ihre Chorsänger – und je länger ich in den bedeckten Gängen, gleichsam in den Katakomben der vorigen Pegnitzschäfer ging und wieder heraus zu den wachsenden Blumen kam, die öfter aufgelegt wurden als die gedruckten des Blumenordens: desto mehr fing vor mir der Blumengarten an zu phosphoreszieren, und endlich lag er als ein himmlischer Hesperiden-Garten da, und das lichte Gewölk, durch das er oben aus der ätherischen Vergangenheit in die dicke Gegenwart hereingesunken war, hing noch merklich in leuchtenden Flocken an seinen Gipfeln. – –

Meine Freuden und meine Schmerzen waren jetzt Milchbrüder und Menächmen und schwer zu unterscheiden – Gewissensbisse und Wünsche (wovon ich bald deutlicher sprechen werde) druckten ein paar Dornen mehr in meine Kopfnaht, als die Reichsstadt Nürnberg unter ihren ReichsheiligtümernErst fünf Dornen hebt das Reich in drei Monstranzen auf, und es muß es noch erwarten, ob es die ganze Dornenkrone als Reichsinsignie erringe. aufzuzeigen hat – ein lauer Frühling streuete seine Winde und seine Sommersaat aus Blumenstaub und seine niedrigen Blumen aus – die Gärten lagen mit Saugestacheln am blauen warmen Himmel, und an den Gärten lagen wieder die Saugerüssel der Bienen. – –

Solche Umstände mußten nun zusammenkommen und zusammenwirken, damit ich meinen Stockknopf ergriff und ihn abschraubte und das niedliche Reise-Schreibezeug, das ich darin führe, heraussetzte, um an meinen Firmian in Wetzlar folgenden Brief mitten im Irrhain auszufertigen:
 

»Du guter Siebenkäs!

Hier sitz' ich und erlege das Abzugsgeld der Sehnsucht in die Invalidenkasse der Erinnerung. Wir sind nun beide in Reichsstädten. Du hast den Schleifstein in der Hand und wetzest das Themis-Schwert so laut, daß die Iltisse aus ihren Löchern gegen dich springen, wie es die kleinern bei dem Wetzen der Messer tun. Um mich hingegen stößet der Lenz in sein Oberons-Horn und spielet auf der Stangenharmonika knospender grünender Volieren und lässet das Tierreich tanzen – die Gassen stellen, als lägen sie in Neapel, musikalische Akademien von Kanarienvögeln vor, denen ich nie lieber zuhöre als im Vorbeigehen – sogar diesen Brief schreib' ich auf einer dichterisch geweihten Erde, im Irrhain der Pegnitz-Blumisten – und ich selber logiere in der Mausfalle, worin sonst, eh sie ein WirtshausIch kannte das Wirtshaus schon aus Reichards Handbuch für Reisende S. 392, 2te Aufl; logierte mich aber aus Gründen hinein, die weiter unten kommen. wurde, der gute Hans Sachs auf dem Schusters- und auf Apollos Freifuß für Menschen- und Klangfüße arbeitete.

Du fragst, mein Geliebter, warum dir dein Biograph, dein Herausgeber der zweiten Auflage schon heute schreibt? Eben weil er zu weich und zu glücklich ist, um es zu ertragen, daß er dir etwas verbarg oder gar – vorlog. Du sagst einmal in den Teufels Papieren: nicht das Unglück selber, sondern die dazwischenfallenden kleinen Erquickungen und Hoffnungen zersetzen und entnerven den festen Mut, so wie nicht der harte Winter, sondern die warmen Tage, die ihn ablösen, die Gewächse aufreiben. Aber, Lieber, so ist uns auch umgekehrt mitten in der warmen Freude das kalte Anschnauben des windigen Schicksals am schädlichsten, wie Personen im Sonnenschein auf den Gletschern das plötzliche Blasen der Eisspalten. Ein einziger Gewissensvorwurf macht im Sonnenschein der Freude eine Sonnenfinsternis und in der Nacht des Leidens gar eine Mondfinsternis. Höre mir zu! Es war erstlich nur eine halbe Wahrheit oder ein Halbroman, daß ich meine Fußreise bloß deshalb angetreten hätte, um von deinen Teufels Papieren unterwegs eine umgearbeitete Edition zu besorgen: – – nein, meine Frau ist am Reisen mit schuld; und über diese erleid' ich den zweiten Vorwurf. – Es muß dir recht ausführlich berichtet werden.

Du erinnerst dich noch des letzten schönen Abends vor deiner Abreise, da du bei uns warst – schon der ganze Tag, obgleich mitten im Februar, war ein Vorsabbat des Frühlings, dessen glänzender Vorgrund oft der Kotmonat ist, indes der sogenannte Wonnemonat bloß einen schmutzigen Hintergrund formiert – du weißt, daß wir deinetwegen nicht in die Redoute gingen und die poetischen Freiheiten zu Hause allen Maskenfreiheiten vorzogen – und endlich weißt du, daß Hermina und ich von dir einen beklommenen weinenden Abschied nahmen, als verreisetest du ins Heilige Grab oder gar in deines.

Dazu kam nun noch das Musizieren. Ich halte es selber für besser, eine Abendvisite mit Musik nicht zu beginnen, noch zu unterbrechen, sondern zu beschließen. Musiziert man früher als zuletzt, so werden entweder die kleinen Bewegungen der Visitenzungen von den großen des Herzens aufgehoben, oder diese von jenen. Hingegen gibt man, wie der Schwan, nur dem Ende einen Konduktgesang: so gehen die Menschen mit süßen Seufzern auseinander und kommen an der Hand des Schlafs mit der Brust voll Träume unverändert in das Land der Träume. – – Aber mit welchem Abendgeläute des innern Nachklangs und mit welcher Fülle der Sehnsucht ließest du uns beide im stillen Zimmer zurück!

Ich stellte mich ans Fenster vor das grüne Gewölbe der Mondnacht; Hermina räumte selber schnell auf und kam bald nach. Man sollte für Seelen von zarter und warmer Empfindung, mithin für die weiblichen nur die Minuten auslesen und aufheben, worin man selber wärmer und zärter empfindet als sonst, wie man die empfindlichen Kanarienvögel nur mit warmen Händen anzufassen hat. Ich versäume das nie. – Der Mond brannte wie ein unterirdischer Schatz noch halb in der Erde, und schwebend wurd' er von den Sternen über ihm ins Himmelblau hinaufgezogen. Aus den Tälern und aus den Schatten quoll weißer Dunst, und die Nebelbänke wankten auf dem Strome und sogen wie Diamanten den Schimmer ein und wuchsen endlich glänzend und blitzend auf zu Hügelketten.

'Wie kommt es,' – fragte Hermina nach ihrer bescheidnen Sitte, ihre Bemerkungen in Fragen aufzulösen – 'daß in der Nacht nicht nur unsere Erinnerungen, sondern auch unsere Hoffnungen erwachen, sogar der Mut?' – Firmian, du kannst so gut wie ich sagen: warum soll denn bei dem Weibe das Denken das Lieben, das Licht die Wärme ausschließen? Vertragen sich nicht bei dem Manne Kopf und Herz – gleichsam die Sonne und der Mond – an einem Himmel? – –

'Hermine!' (sagt' ich begeistert) 'in der Nacht tritt die zweite Welt in Gestalt der gestirnten Unermeßlichkeit näher an das einsame Herz und zeigt ihm in dem Tag der fremden Welten den künftigen ewigen seiner Welt; von der kleinen Erde fallen alle Reize ab, aber die Edelsteine unsers Wesens werfen dann, wie Lichtmagnete, in der Finsternis einen vergrößerten Glanz – wir gleichen der Wunderblume, die in der alten Welt nur nachts ihre Blüten auftut, weil es dann in der neuen tagt, die ihre Heimat ist. – Sieh, Hermine, so wenig braucht unser Herz um sich, und es ist am größten, wenn es am einsamsten ist.' –

Vielleicht mißverstand sie meine letzten Worte oder ich ihre erste Frage oder auch ihre jetzige verklärte Miene: ihr Auge sank schwer auf die wandelnden flimmernden Nebelberge und ruhte sinnend und feucht in ihnen. – Ach du kennst ja an deiner Natalia dieses weibliche Vergleichen der Hoffnungen mit der Gegenwart, des Herzens mit dem Leben; und für welche schöne Seele war nicht die Zukunft ein Eisberg, auf dem sie in der Ferne warmes Abendrot und spielende Tulpenfarben liegen sah und an dem sie in der bleichen Nähe erstarrte?


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