Jean Paul
Palingenesien
Jean Paul

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Ich komme zu meinen körperlichen Verirrungen zurück, die allezeit größer sind als meine biographischen. Hat wohl je, ich bitt' es mir zu sagen, irgendein Burggraf, ein Losunger, ein junger Patrizier, ein Reisediener, ein Brandenburger sich so häßlich und so spät verirret wie ich? Kam er wie ich (er sag' es frei) zum Hallertürlein hinein und dann in die Negeleinsgasse – dann auf den Geiersberg – dann in die Irrergasse – dann in die Hintere Füll – darauf in die Vorder Füll – und dann doch zurück ins Hundsgäßlein – und von da geradeaus auf den Milchmarkt? Und wenn er von seiner Unwissenheit oder von seinen Leidenschaften so falsch geführet wurde, kam es mit ihm immer so weit, daß er sich in die Elenden-GasseIn den meisten alten Städten sind »Elenden-Gassen«, weil elend sonst soviel bedeutete als fremd. verlief, ohne zu wissen wie, und aus ihr herauskam, ohne zu merken daß? – Denn so ging es mir.

Zuletzt wurd' ich sozusagen von einem Sackgäßchen oder Reyhlein eingesackt: der Stubenschein einer ganzen lichten Haushaltung schlug mir ins Gesicht. Ich blickte näher in die volle geschwätzige Grubenzimmerung von Stube: statt des Bergschwadens und Arsenikkönigs saß Kökeritz darin, und statt der Bergknappen arbeiteten spielende Kinder, auf dem Magen liegend, und stellten ein reicheres Pembrokisches Docken- oder Puppen-Kabinett um sich, als der Armut dieses Erdgeschosses anzustehen schien. Kurz, es könnte ja der Drechsler Metzger sein, dacht' ich.

Ich trat eilig hinein. Über Kökeritz' Angesicht krochen jetzt so viele häßliche wurmförmige Mienen und verkürzte Teufelchen als über Callots verzerrtes Blatt von Antonius' Versuchung, denn es war die Wohnung des langgesuchten Mietsherrn Georgettens. Kökeritz stand voll Langweile vor dem Drechsler und mußte sich mit nürnbergischen Meistergesängen ansingen lassen. Metzger hatte gerade ein Loblied auf Nürnberg (von Rosenblüth 1447 gedichtet) im Mund – er färbte dabei eine weiße Täubin schwarz, damit der pechschwarze Tauber sich mit ihr paarte und nicht mehr nach ihr hackte – und rezitierte eine Strophe, die gefallen kann, wenn man gegen zwei oder drei Zeilen nicht zu streng ist:

O Nürnberg, du edle Fleck,
Deiner Ehren Bolz steckt am Zweck,
Den hat die Weisheit daran geschossen,
Die Wahrheit ist in dir entsprossen.

Nichts ist mir angenehmer – zumal da es jetzt seltener ist – als Stolz und Liebe eines Bürgers für seine Stadt. Der Drechsler, auf dessen poetisch-zerstreuetem Gesicht keine Aufmerksamkeit auf die lauten Kinder und kein Argwohn gegen den hinterlistigen Herzen-Pürschmeister Kökeritz zu lesen war, dauerte mich mit seinen verzettelten poetischen Blumenlesen. Ich hatte daher kaum gesagt, ich hätte mich verlaufen und könnte nicht in die Mausfalle: so kam ich sogleich, um dem Rhapsoden einen freudigen Gedanken zuzuwerfen, mit dem Appendix nach: »Es ist das Haus, worin sonst der gute Hans Sachs wohnhaft war, den ich für den größten Meistersänger halte, den vielleicht Nürnberg in seinen Kirchen hörte.«

Hastig fuhr er über die ganze Taube mit einem breiten Pinselstrich und versetzte: »War denn unser Urur-HerrleinHerrlein nennt man da den Großvater. vor den Kopf geschlagen, nämlich der berühmte Herr Ambrosius Metzger? Er war ein Magister, aber der Hans Sachs war nur ein Schuster. Hat nicht mein Urur-Herrlein die Weber-Krätzen-WeisIn Wagenseils Comment. de civitate Noribergensi steht eine deutsche Abhandlung über die Meistersänger, worin (p. 534 etc.) dieser Ambrosius Metzger, welcher Lehrer am Gymnasio Aegidiano in Nürnberg war (p. 547), mit den obigen sonderbaren Namen seiner Erfindungen unter andern Meistersängern auftritt. erdacht, so in acht Reimen besteht, und die Cupidinis-Handbogen-Weis, so schon ihre guten sechzehn Reime hat, und die Heißtränen-Weis mit einundzwanzig Reimen samt der Krummzinken-Weis mit ihren dreiundzwanzig Reimen, desgleichen die verschalkte Fuchs-Weis mit gar vielen Reimen und die Fett-Dachs-Weis mit noch viel mehrerern? – Herr, vom Magister Metzger wäre viel zu sagen. Was meine Wenigkeit anlangt, so weiß es mein Gesell, daß ich in der verschalkten Fuchs-Weis zwei, drei Stollen absingen kann, und mache dabei keinen Bock, weder rührende ReimeSo hießen die Handwerksstatuten der Meistersänger solche Reime wie: leben und erleben., noch schnurrendeFalsch verkürzte: z. B. gborn statt geboren., noch KlebsilbenDer vorige Fehler., noch Lind und HartReime wie Knabe Kappe – Meel Oel. Die jetzigen Dichter können sie wagen. und dergleichen. So ist es.« – –

Ich betrübte und erfreuete mich zugleich über den reichen Bildungstrieb einer vom Schicksal infibulierten Seele, die außer den hölzernen Figuren noch poetische zu machen strebte. – »Sucht man« (sagt' ich, aber wahrlich wohlwollend) »in Nürnberg Seine Verse sehr, Meister, singt Er oft?« – »Daß Gott erbarm,« versetzt' er, »so oft als die arme Taube da. In der Kathrinenkirche war sonst wohl jeden Sonntag Singschule – aber jetzt wäre in der ganzen Stadt kein MerkerMerker hießen die vier Männer, die in der Kirche um den Meistersänger saßen, und wovon der erste acht gab mit der Bibel vor sich, ob der Sänger dagegen verstoße – der zweite, ob er im Metrum bleibe – der dritte, ob er recht reime – der vierte, ob er recht singe. Jeder bekam für seine Rezension zwanzig Kreuzer. für Geld zu haben. Es ist schlecht genug, zumal wenn es Leute in der Stadt gibt, die 'Kranz-Gewinner' werden könnten, wo nicht 'König-Davids-Gewinner'.«Hatten alle diese nichts zu erinnern, so wurde dem Preiserwerber eine Kette aus Pfenningen umgehangen, deren mittelster den König David mit der Harfe vorstellte: der, welcher das Akzessit erhielt, gewann nur einen Kranz aus seidnen Blumen.

Es mag mich nun die Begierde, dem armen Meister eine Freude zu machen, oder die Natur der Sache selber auf die Ähnlichkeit zwischen den jetzigen gräzisierenden Poeten und den Meistersängern geleitet haben: genug die Ähnlichkeit wuchs mir unter den Augen, und ich konnte sie Metzgern zeigen zum Trost. Jedes wissenschaftliche Gehirn, das nur so groß ist wie das Hirsenkorn, worein Kallikrates einige homerische Verse eingrub, und dem wenigstens kein geringerer Inhalt eingekratzet ist als dem Hirsenkorn, weiß es vielleicht ohne mich, daß gute Gedichte, gleich den alten, vollkommen sind – ohne Bilder, ohne Feuer, ohne Herz, ohne großen Inhalt – bloß durch reine leere Darstellung, durch Objektivität, so daß eine Borussias oder ein Heldengedicht, worin statt eines Elefanten der ganze Elefantenorden agierte, keine größere poetische Vollkommenheit annehmen kann als eine – Flohiade.Pasquier faßte auf einen Floh, der auf dem Busen des Fräuleins des Roches saß, etwas ab; und so machte jeder von den anwesenden Gelehrten sein Gedicht auf den Floh, der eine ein spanisches, der andere ein griechisches usw. Diese Blumenlese wurde gedruckt. Die gräzisierenden Dichter bestätigen noch mehr seinen Satz. In der Tat sind sie gleich den ägyptischen und ersten griechischen Tempeln leer und ohne Bilder (der Götter) – ihre poetischen Federn gleichen den Schreibfedern, womit wir alle arbeiten, welche desto besser schreiben, je kahler sie befiedert sind – daher werden jetzt poetische Gewächse (nicht wie sonst durch heilige Begeisterung und Wut, sondern) wie Frühlingsgewächse durch braven Frost gehoben, und gerade die Dichter, die uns heben, wissen uns (nicht wie sonst zu entflammen, sondern) abzukühlen, wie Handwerker, welche steigen, bei Feuersbrünsten löschen müssen – und den Wind und das Wasser, die Orpheus durch seine Verse im Laufe einhielt, müssen die jetzigen bewegen, wenn nicht enthalten.

Ich wünschte wohl, die jetzigen Kunstrichter untersuchten ernstlich, ob nicht die Meistersänger im lobenden Sinne Meistersänger waren, und ob ihre so kühlen bilderfreien und stofflosen Gedichte nicht jene reinen Darstellungen ohne allen Inhalt (den wenigen Sinn ausgenommen, der von Worten nicht zu trennen ist), kurz, ob sie nicht jene Vollendung in sich tragen, nach der wir ringen, und die viele Griechen wirklich erreichten. Es sollte mich wundern, wenn unten stehende Strophe aus einem auf den Tod eines Merkers gesetztem GedichtIch ziehe sie aus Wagenseil S. 555 aus. Sie ist in der Clius-Posaunen-Weis, die in siebzehn Reimen besteht.

Tobias Martin dieser hieß, (nämlich der gestorbne Merker)
Welcher ein Bosamentirer gewesen,
Dann er auch wohl verstund diß,
Doch konnte er vor den Tod nit genesen,
Als man neun und zwanzig Jahr schriebe klar,
Da wurd' er geboren auch,
In diese Welt, wie uns solches bekentlich:
Er wurde auch nach rechten Brauch
Von Kindheit auff zu der Schul zogen endlich,
Darin so lernet er fleißig fürwar.
Als er nun drei und zwanzig Jahr wurd alt,
Da begab er sich in den Ehestand bald,
Zeigt darinnen ailf Kinderlein
Mit zweien Weibern, davon ihr noch zwei leben,
Ein Sohn und eine Tochter fein,
Thät sich auch in die dritte Eh begeben,
Lebet friedlich mit sein Ehgatten zwar. –

Wo ist hier Schwulst oder nordischer Bilderschwall? Wo spricht hier der Dichter selber? Mit reiner Griechheit und mit völliger besonnener Herrschaft über sein Feuer stellet er bloß das Objektive dar. Einige veraltete Worte abgerechnet, die wir in jeder Messe zu den allerneuesten machen können, wäre das Stück in einen Musenkalender tauglich, besonders da seine kühnen Versetzungen mit den jetzigen noch kühnern leicht zu decken sind, z. B. mit der Trennung des Genitivs vom regierenden Wort.

von M. Ambrosius Metzger ganz unglücklich ausgelesen und ohne alle Wirkung auf feine Leser wäre.

»Meister Drechsler,« sagt' ich, »Meistersänger und Gesellensänger singen jetzt überall, aber freilich nicht in Kirchen, sondern in Buchladen. War sonst das Musenpferd ein Nürnberger Pferdchen von Holz, das mit geruchlosen hellen Blumen übermalet war, und das als Schwanz ein kurzes Pfeifchen ausstreckte, den flötenden Reim: so hat man jetzt bloß das Pfeifchen ausgezogen und die Blumenstücke abgewischt, das hölzerne Rößlein steht noch da. - Merker stehen in allen Buchladen, heißen aber Rezensenten und bekommen wie die Jury und das Konklave nicht eher etwas zu essen, bis sie entweder gerichtet oder gekrönet haben.«


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