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Der alte dänische Wald

Mit jedem Tage wurden Gast und Pil klüger; sie lernten immer mehr Stimmen des Waldes verstehen und mit den Wesen und Gegenden, die sie hervorbrachten, in Verbindung zu bringen. Gast ordnete die Welt, die er sich als Jäger untertan machen wollte, in seinem Kopfe.

Die Zeit kam, wo er zuhause in seinem Baum an der Quelle sitzen und an den Lauten, die zu den verschiedenen Tageszeiten aus dem Walde tönten, genau erkennen konnte, was im Walde vorging, in welcher Gegend des Waldes oder Tales das Wild graste und wie das Land dort beschaffen war.

Unmerklich begann der Hochsommer in den Herbst überzugehen, die beiden Kinder aber spürten den Unterschied nur daran, daß der Wald ihnen immer reichere Auswahl an Früchten bot. Rohe Fische waren nicht ihre einzige Nahrung mehr; tagelang lebten sie vom Walde, ohne tierische Speise zu vermissen. Die Haselnüsse begannen an den Sträuchern zu reifen, noch waren, die Kerne weich und milchig; Gast und Pil taten sich an kühlen Morgen, wenn die Büsche sie vor dem Winde schützten, daran gütlich, vollständig begraben zwischen den Haselsträuchern, deren rauhe Blätter ihnen das Gesicht streichelten; und hier trafen sie auch ihren fuchsroten Freund, das Eichhörnchen, das eifrig die neue Ernte kostete.

In den Mooren und auf den feuchten Lichtungen des Waldes stand es voll von Blaubeeren und Kronsbeeren; nicht selten stießen sie auf den Bären, der auf den Hinterbeinen zwischen den Halmen stand und sich ganze Arme voll Beeren in das Maul mähte; wenn sie sich ruhig verhielten und dem reizbaren Alten nicht zu nah kamen, durften sie gern von einem Busch neben ihm naschen. Vom Bären lernten sie auch hohle Bäume zu suchen und aufzubrechen, wo Bienen ihren Bau hatten, und bisweilen war der Stamm von oben bis unten mit Honig gefüllt, großen, triefenden Kuchen mit altem schwarzen Honig auf dem Grunde, der vor Alter fast zu Harz geworden war. Als aber Gast sich mehr und mehr zum Jäger ausbildete, war es auch um den Frieden mit dem Bären geschehen.

Der Wald strotzte von Himbeeren, Erdbeeren, Brombeeren; der wilde Apfelbaum streute seine Früchte auf die Erde, zum Entzücken des Wildschweines und zweier Menschenkinder, die von dem wilden Eber einen Augenblick kauend gemustert wurden, denen er aber kein Leid antat, wenn sie artig waren. Wo die Sau die Erde für ihre Jungen mit ihrem Rüssel aufgewühlt hatte, suchten sie den Boden nach vergessenen Wurzeln, keimenden Bucheckern, Zwiebeln und anderem Guten ab, die Vögel lehrten sie Geschmack an allerhand Grassamen, Vogelbeeren, Hagebutten finden, mit den Hirschen kosteten sie von dem frischen Morgengras und den jungen Schößlingen der Büsche, die harzig und süß schmeckten. So vermischten sie sich mit den Tieren des Waldes und bekamen Anteil an allen Gaben, nur mit dem Unterschied, daß sie sich nicht wie die Tiere an eine bestimmte Nahrung hielten, sondern alles kosteten.

Die Tiere hatten den Wald unter sich verteilt nach einer besonderen, sehr dehnbaren Übereinkunft; der eine lebte auf Kosten des anderen und wurde fett zum Vorteil für einen Dritten, von unten nach oben, alle aber gediehen bei dieser Verteilung, obgleich man einander am liebsten mied. Plötzlich aber hatten die Tiere zwei auf den Hinterbeinen gehende Wesen in ihrer Welt entdeckt, anfangs mit scheuer Aufmerksamkeit verfolgt, später aber sie sich selbst überlassen; recht lange aber wurde dieses Gleichgewicht nicht aufrechterhalten.

Ein Tag im Walde glich dem anderen. Am zeitigen Morgen, wenn die Raubtiere, Wolf, Fuchs und Luchs sich lichtscheu in ihr Versteck zurückgezogen hatten, kamen die Hirsche vorsichtig am Waldsaum zum Vorschein und begaben sich zu den Wiesen oder Lichtungen, wo sie in aller Eile das saftige, zarte Gras hinunterschlangen; ängstlich standen sie auf drei Beinen und hoben jeden Augenblick den Kopf, spähten mit fächelnden Ohren, und nachdem sie eine ganze Fuhre feuchtes Grünfutter verschlungen hatten, hastig und ohne es zu kauen, zogen sie sich zu ihren verborgenen Ruheplätzen im Dickicht des Waldes zurück, wo sie tagsüber das Futter ins Maul schoben und wiederkäuten.

Die Urochsen kamen aus den sumpfigen Gegenden im Walde und gingen in langen Reihen, der eine hinter dem anderen, über dieselben uralten Tierpfade, die sie im Walde gebahnt hatten; auf den Wiesen im Tale angelangt, verstreuten sie sich, um ruhig zu grasen, traten von einem Bein auf das andere und fraßen sich langsam vorwärts, halb begraben in dem hohen Grase, mit dem Schwänze fächelnd; häufig ließen sich Stare auf dem Rücken der mächtigen Tiere nieder, um nach Bremsenlarven Ausguck zu halten. Höher und höher stieg die Sonne am Himmel. Wie still das Tal und der Wald!

Wie still das Tal, nur die grasenden Tiere, der hohle Laut ihrer großen, mahlenden Backenzähne und das klangvolle Arbeiten des Atems im Balg. Die hohen Bäume am Waldsaum erhoben sich aus dem Morast des Grundes, aus umgestürzten Stämmen, Fäulnis und Schlinggewächsen und wölbten ihre schwellenden, freien Kronen oben in der Sonne. Aus den Wiesen stieg ein heller, gedämpfter Ton von geschäftigen Bienen; Lichtungen und Weiden waren wie übersät mit Blumen, ganze Nebel von Blau, Rot und Gelb, Heere von wilden Blumen, und in jedem Blütenbecher eine Biene. Es summte, kaute im Walde, stille Hitze, langsam bewegten sich die Schatten in dem zunehmenden Tage. Mitten auf dem Rasen bildete sich wie von selbst ein kleiner schwarzer Haufen von frischer, dampfender Erde; der Maulwurf war unten an der Arbeit, und wenn ein neuer Haufen in die Höhe schoß, dann war soundso viel Zeit vergangen.

Jedes Tier war mit seiner Arbeit beschäftigt, die meisten stumm, und solange sie schwiegen, war alles gut. Das Wildschwein schmatzte auf dem Grunde des Dornen- und Blumengehölzes, wo kein Tier außer dem Igel einzudringen vermochte. Auch die beiden Menschenkinder waren irgendwo im Walde, im Himbeergebüsch oder auf einem Baum; auch sie waren stumm; im Walde sprach man lieber nicht laut, denn ein Chor von Geistern pflegte immer aus allen Geheimkammern des Waldes zu antworten und sich über ihre Stimmen lustig zu machen. Warum auch im Walde sprechen?

Der Bussard hing über den Baumwipfeln, und hoch, hoch oben, wo der Himmel wie eine blaue Mauer war, segelten Störche, weiß wie Feuer unter den schwindelnd hohen Wolken, segelten in mächtigen Spiralen, ohne die Flügel zu bewegen, als ob sie sich durch Willensanspannung allein in den Äther hinaufhoben.

In den Mittagsstunden war es vollkommen still, dann ließen sich im Walde nur Fliegen und Bienen hören. Am Fuße einer Eiche sah man die fächelnden Ohren einer Hindin, die sich dort in der Dunkelheit zur Ruhe gelegt hatte. Die Waldtauben schwiegen, Enten trieben zwischen dem Schilf, den Kopf unter den Flügeln verborgen. In einem morschen Baum saß eine Eule und schlief, das blinde, gefiederte Gesicht dem Tagmonde zugewandt.

Gegen Abend aber, wenn es anfing kühl zu werden, lebte der Wald wieder auf, es trippelte und schlich auf den Tierpfaden, die den Wald durchkreuzten; jetzt wurde es Zeit, sich zu den Trinkstellen am Bache zu begeben, wohin die Tiere seit Jahrhunderten ihren Pfad gehabt hatten. Der Marsch fand unter allerhand Spielen und Sprüngen statt; es war, als ob der Tag mit einigen Minuten der Sorglosigkeit enden wollte, bevor die gefährliche Nacht ihren Anfang nahm. Auf den Weiden, unter den hohen Bäumen, wo die Abendsonne spielte und die Stämme rot färbte, sprangen die Hirschkälber in übermütigem Stelzentanz um die Hindinnen, die sie mit rauhen Stimmen riefen. Die jungen Füchse ließen aus fernen, unzugänglichen Holmen im Moor ihr Gebell hören, während sie sich vor dem Bau balgten, und Mutter Fuchs sah mit feuchten Augen zu, einen Gänseflügel im Maul.

Die Vögel fanden andere Töne beim Sonnenuntergang als am Tage, saßen auf den höchsten Wipfeln der Bäume, die von dem schwindenden Licht vergoldet wurden, während unten schon Dämmerung brütete, und sangen der Sonne mit dunklen, stillen Tönen ein Abschiedslied.

Und schließlich ging die Sonne unter. Durch die Dämmerung klang aus weiter Ferne, aus der Tiefe der Wälder, langgezogenes, einsames und düsteres Geheul, das aus allen vier Himmelsrichtungen auf einmal zu kommen und von überall her Echo zu geben schien, der Chor aller verfluchten Geister des Waldes, der die ganze Welt erfüllte, sich mit der Dunkelheit vermengte und zu den neu entfachten, kühlen Sternen hinaufbellte; es waren die Wölfe, die die Nacht und ihre Taten anmeldeten. Jetzt war aller Frieden im Walde gekündigt.

 

Eines Nachts sonderte sich ein alter, schlottriger Wolf von der Schar ab und begab sich allein auf Entdeckungsreisen. Lautlos kam er durch eines der Seitentäler auf den Bach zugehinkt, von einer dämmernden Erinnerung in seinem Wolfsgehirn getrieben: ein Paar hellrote, halberwachsene Menschenkinder, die er einst in dieser Gegend angetroffen. Und ganz richtig, je näher er dem Bach kam, desto mehr wohlriechende Spuren fand er.

Er war furchtbar hungrig, obgleich es noch gar nicht so lange her war, seit er etwas gefressen hatte; er war immer hungrig, Hunger war sein eigentliches Wesen, sein Leben lang war er auf den Pfoten gewesen, um sich selbst zu fressen, ein gefallenes Geschöpf, das selbst nicht begriff, warum sein unstillbarer Hunger immer größer wurde, je mehr es fraß. Eine Stimme in seinen immer brennenden Gedärmen gaukelte ihm vor, daß er sich noch heute nacht an frischem Menschenfleisch gütlich tun sollte.

Als er aber in vollem Lauf war, die Nase voll frischer Fährte, so daß er vor Eifer geiferte, geschah etwas Unbegreifliches: die Erde entschwand plötzlich unter seinen Pfoten, er schwebte und stieß sich tüchtig, als er wieder festen Boden faßte; als er sich nach dem Kopfsprung erholt hatte, merkte er, daß er sich in einem Loch mit steilen Erdwänden an allen vier Seiten befand. Er versuchte herauszuspringen, doch glückte es ihm nicht, denn das Loch war so tief wie ein Schacht.

Die ganze Nacht mußte er in dem Loch sitzen, mit einem Viereck des Sternenhimmels über sich, bis es Morgen wurde und das Viereck sich blau färbte. Da wurde der Wolf unruhig, drehte sich viele Male im Loch und wurde so hungrig, daß er einen Extrawolf in seinem Leibe zu spüren meinte; zwei Wölfe waren sie jetzt und träumten den wachen Traum noch einmal: von zwei hellroten Menschenkindern, nicht so groß, daß sie gefährlich waren, aber dennoch zwei ganz gute Bissen für einen Wolf. Zweimal schon hatte er seine Nase mit dem leckeren Fleischgeruch gefüllt; eines Nachts, als die beiden Kinder sich gutgläubig zum Schlafen ins Gras gelegt hatten, nur hatten sie damals leider so furchtbar geschrien, daß jeder anständige Wolf glauben mußte, er hätte es mit Heerscharen von Menschen zu tun; das Geschrei war dem Wolf in die Beine gefahren, und er hatte die sichere Mahlzeit im Stich gelassen. Das zweitemal hatten die beiden Kinder oben in einem Baum gesessen und waren zu feige gewesen, um herunterzukommen. Der Wolf war so hungrig und träumte so lebendig, daß er den ersehnten Anblick fast leibhaftig vor sich sah.

Was aber war das? Sah er sie nicht wirklich dort oben am Rande der Grube? Sie lagen auf dem Bauch und guckten herab; die Haare hingen ihnen über die Augen, und sie lachten, während sie sich unhöflich die Nase zuhielten.

Sie erkannten ihn sofort, sahen, daß es der alte Graubein war, der sie damals zum Spielen verleiten wollte; jetzt lief er wie ein Schatten um sich selbst herum, schielte lichtscheu nach oben, und sie sahen, daß er vor Angst unten im Grabe eine gelbe Flüssigkeit von sich gab. Denn es war dem alten Mörder nie eingefallen, daß er selbst einmal einen gewaltsamen Tod erleiden sollte. Sie lachten ihn aus, und als Antwort setzte er sich auf seinen Schwanz und heulte in der Hoffnung, daß ihnen die Haare zu Berge stehen und der Mut sie verlassen würde. Sie aber lachten nur noch lauter über den Schinder, der sich seine eigene unheimliche Leichenrede hielt.

Pil aber bekam wieder eine Halskette. Die Zähne waren sehr lang, aber halb verfallen; der Alte hatte einen ungesunden Kiefer gehabt. Das Fell stank und war räudig, bis man aber ein besseres und jüngeres bekam, konnte es immerhin gute Dienste leisten. Die Nächte wurden jetzt schon kalt, man gebrauchte etwas anderes als Heu und Bastmatten, um sich zuzudecken.

Aus den Därmen des Wolfes aber verfertigte Gast seinen ersten richtigen Bogenstrang, hart und zäh, wie im Feuer gehärtet, federnd und dennoch so stark, daß keine menschliche Kraft ihn zerreißen konnte. Weder der Wolf noch ein anderes Tier waren mehr vor Gasts Geschoß sicher. So ging es zu, daß der Appetit des alten Wolfes gestillt wurde, während Gast sich für Pils und seinen eigenen Unterhalt keine Sorge mehr zu machen brauchte.


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