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Man kann die Säugetiere nicht studieren, ohne eines Mannes zu gedenken, der sie mehr als jeder andere im Lande, ja in der ganzen Welt kannte und ihre Abstammung festgestellt hat, ein Name von internationalem Rang unter den Zoologen, sonst fast unbekannt.
Herluf Winge war vierzig Jahre lang am Zoologischen Museum in Kopenhagen, dem düsteren roten Gebäude hinter der Universität, angestellt, das einem Gerichtsgebäude gleicht und einen bald an einen Kürschnerladen, bald an einen Kirchhof oder eine Reihe Katakomben unter der Erde erinnert, mit ausgestopften Tieren, Schädeln und sauber abgeputzten Skeletten in all den finsteren Etagen, für die meisten wohl eine Naturaliensammlung mit kuriosen Dingen, Riesenschmetterlingen und Muscheln, im Keller Wale und ein Meer von Gestank, für den Naturforscher aber ein Archiv, wo für ihn gut ein Leben verstreichen kann, das ihm sogar noch zu kurz erscheint. Länger als ein Menschenalter war Herluf Winge hier zu finden, als Geist der Stätte, ein kleiner weißer Mann im Kittel, schmal wie ein Kind, stets mit Laden und Kisten voller Knochen hantierend.
Und noch ist die Luft im Museum wie von ihm erfüllt, man erwartet, ihm in den langen dämmerigen Korridoren zu begegnen, wo es so physisch nach Tieren in Spiritus, Naphthalin und Gerbsäure duftet, ein schwerer, süßer Geruch, der an die Tropen, an Mangroven, die Wochenstube des Lebens, und an den Kompost erinnert, wo der Abfall gärt. Aber er kommt nicht mehr zu einer Tür heraus mit Knochen und Kästen im Arm und einem leisen Funkeln der Brille, ein freundliches Scheinwerferlicht auf Personen im Korridor gerichtet, Herluf Winge starb im Jahre 1923. Das Heinzelmännchen im Zoologischen Museum ist selbst zu seinen Knochen gegangen, aufgelöst in der Natur, die er kannte und liebte wie kein anderer. Er erlosch wie ein Licht im Zugwind; er war ja nie eine Fackel gewesen, die auffallend im Tivoli sprühte, nur ein Flämmchen, aber feinfühlend wie das stille Sternenlicht im Äther.
Wenige wußten überhaupt, wer er war, als die Nachricht seines Todes in den Zeitungen stand, ein unbekannter Weltname ist ja soviel wie gar kein Name, seine Bedeutung und sein Ruf lagen innerhalb eines über die Welt verbreiteten Kreises von Namen, Osteologen, Paläontologen, die auch niemand kennt. Er war nicht Professor, brauchte nicht Lehrer zu sein, er war von Anfang an ökonomisch unabhängig, konnte seine Zeit seiner Wissenschaft allein opfern, machte nicht einmal seinen Doktor; er war und blieb einfach Magister der Zoologie. Die bescheidene Stellung am Museum behielt er wohl, um den Sammlungen nahe zu sein.
In wissenschaftlicher Beziehung ist der Name Winges an die Bearbeitung der P. V. Lundschen Sammlungen im Zoologischen Museum geknüpft, die aus den Knochenhöhlen in Lagoa Santa in Brasilien geschickt wurden – ein zoologisches Märchen für sich und ein Gebiet, auf dem dänische Naturforschung den großen Grundplan, darauf die internationale Wissenschaft errichtet ist, berührt. Die Wege Darwins und Lunds liegen an einem Punkt nahe beieinander.
Zur Bestimmung, zum Nachweis der Entwicklung hat man in den Sammlungen Lunds einen hinreichenden Apparat; Winge führte diese Arbeit in ihrer Konsequenz aus. Unter Glas, für sich in der Museumshalle stehen die Skelette der merkwürdigen ausgestorbenen Riesenfaultiere aus Brasilien, die P. V. Lund hervorholte, in zoologischer Beziehung ein Schatz, desgleichen wenige Länder haben. Phantastischer als das Volksmärchen, für ein geübtes Auge die Entwicklung selbst, der Schlüssel für ihre Gesetzmäßigkeit trotz allen Fabeln und Launen. Das ist jedoch nur die große Parade, die fürstliche, unverlierbare Sammlung des Museums von ausgestorbenen Zahnlückern; P. V. Lund schickte Knochen von allen anderen ausgestorbenen Säugetierformen; Winge bearbeitete das Material in seinem großen, lateinisch abgefaßten Werk: E Museo Lundii. Das Resultat dieser und anderer Abhandlungen faßte er in einem dreibändigen, in dänischer Sprache geschriebenen Werk, Säugetiergeschlechter, zusammen, von dem der erste Band vor, die beiden letzten nach seinem Tode erschienen. Die Arbeit Lunds fällt in die zwanziger und dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts; ein kleines Jahrhundert hat es also gedauert, bis man fertig damit wurde, diese Knochenreste aus abgelegenen Kalksteinhöhlen im fernen Südamerika zu bearbeiten, zwei Generationen haben daran gearbeitet.
Zur Bestimmung von Knochen brachte Herluf Winge besondere Voraussetzungen und Anlagen mit; und hier ist denn übrigens auch eine Seite seiner Tätigkeit, die sich an einen anderen Kreis von Kundigen, an Archäologen und ihre Wissenschaft, wandte und ihn einer etwas größeren Allgemeinheit bekannt machte. Winge war Knochenexpert bei Ausgrabungen und als solcher seiner Finesse und Unfehlbarkeit wegen berühmt wie ein zweiter Sherlock Holmes. Man gab ihm einen Knochen, ein Stück von einem Knochen, der vielleicht unkenntlich gemacht war, indem ein Steinzeitfischer einen Pfriem aus ihm verfertigt hatte, und nachdem Winge seinen Blick darauf hatte ruhen lassen, fiel das Urteil: Otter, Reh oder Wildschwein, junges oder altes Tier!
Aber er wußte ja viel mehr; einen Knochen oder einen Zahn eines ausgestorbenen, von keinem Menschen je gesehenen Tieres bestimmte er und wies dem Tiere einen Platz in System, Entwicklungsstufe, Zwischenform, Übergang von einer Art zur anderen an; sich in den Umfang seiner Fähigkeiten, seiner Umgebung und seines Gedächtnisses hineinzuversetzen, ist einem gewöhnlichen Menschen unmöglich.
Er begann früh, die Begabung machte sich bereits in der Kindheit geltend, unter Umständen, die wie eine Vorausbestimmung, wie eine kleine zoologische und archäologische Mythe klingen. Im väterlichen Heim, einem Landsitz, der damals vor Kopenhagen lag, wo sich jetzt Østerbro befindet – Fröhlich erwähnt die Winges in seinen Erinnerungen – gruben die Knaben, mit ihm ein etwas älterer Bruder, der früh verstorbene Oluf Winge, auch Zoologe, nach Knabenart im Garten und stießen auf alte Knochen, in deren Bestimmung sie sich übten. Die Stelle war ein Bauplatz; wo der Garten lag, war seinerzeit ein Fjord vom Oeresund hereingegangen, und hier hatten die Steinzeitmenschen ein Lager gehabt. Mehrere dieser Art sind in der näheren Umgebung Kopenhagens aufgedeckt worden. Über die Niederlassung, die in Winges Kindheitsgarten lag, ist die Stadt mit ihren Straßen und Kasernen hinweggeschritten. Dafür machte die Erweiterung der Stadt den stillen Gelehrten durch das Steigen der Grundstücke zu einem vermögenden Manne, nicht sinnlos. Wie Darwin brauchte Herluf Winge nicht an sein Auskommen zu denken. Er wurde sozusagen der Wissenschaft geschenkt. Wird das noch einmal geschehen? Wird noch einmal einem Manne ein solches Leben gegönnt werden?
Nun wird nicht jeder Knabe Zoologe werden, weil er in einem alten Kökkenmödding Knochen ausgräbt; Winge wurde es, eine besondere Eingebung, Ordnungssinn, Formgefühl muß ihm im Blut gelegen haben. Ein gewisses Alter muß in ihm gesteckt haben, das ihn alte Dinge wiedererkennen ließ; Jugend kann man es ebensogut nennen, Placierung in der Zeit, von vornherein gegebener Überblick, Sammlerdrang und systematische Fähigkeit, Ausdauer, Abneigung gegen Spektakel; auf jeden Fall war er der geborene Wissenschaftler.
Schon im Jahre 1882 veröffentlichte Winge eine Abhandlung über die Zähne der Säugetiere, die bahnbrechend wurde, ein System, nach dem der Platz jedes vorhistorischen oder noch lebenden Säugetiers in der Entwicklungsreihe nach den Zähnen allein bestimmt werden kann, um so wichtiger, als oft nur die Zähne oder ein einzelner Zahn von ausgestorbenen Tieren erhalten ist. Amerikanische Forscher haben später das System nach demselben Prinzip erweitert und den Vorteil einer allen zugänglichen Sprache gehabt, aber es herrscht Einigkeit darüber, daß Winge der erste war, der mit seiner kleinen dänischen Abhandlung die Entdeckung machte.
»Nach dem Zahn das Tier«, wurde der feste Ausgangspunkt für eine Methode, die nicht wieder verlassen wurde. Sie hing mit der ganzen Betrachtung Winges zusammen, ist als System und in den Resultaten, die sie erzielt, die Entwicklung selbst. Herluf Winge war Evolutionist, neigte stark nach der Richtung, die man von Lamarck ableitet. Er betont das selbst. Die Anpassung, die Formveränderung, die der Übergang der Tiere von einer Art in die andere mit sich bringt, war der Entwicklungsfaktor, dem er seine ganze Aufmerksamkeit zuwandte. Mit einem für ihn bezeichnenden Ausdruck spricht er von der Arbeit der Tiere, ohne doch nachweisbar irgendwo ein Maß primärer seelischer Initiative vorauszusetzen, wofür Lamarckisten neuerer Schule eintreten. Das Wort Arbeit und sein Gebrauch waren in Winges knapper Ausdrucksform hinreichend. Über die Entwicklung selbst philosophierte er nicht, sie war ihm eine Tatsache. Mit der Arbeit der Tiere meinte er wohl etwas Ähnliches wie neuere englische Forscher, die von der activity der Tiere sprechen, nur dachte er ganz unabstrakt. Ein Satz von Säugetiergeschlechtern, das Einleitungskapitel über die Abstammung der Säugetiere von den Kriechtieren, gibt mit seinen eigenen Worten seine Auffassung wieder: »Auf dem Wege vom Kriechtier zum Säugetier geschah es, daß eine Reihe von Veränderungen als Folgen tätigeren Lebens entstand. Freßlust hat die Entwicklung in Gang gebracht; eigene Gefräßigkeit und Furcht vor der anderer haben echsenförmige Kriechtiere ihre Fähigkeiten mit besonderem Fleiß gebrauchen lassen, und sie haben sich zu Säugetieren emporgearbeitet.« Einfach und exakt; der Ausdruck tätigeres Leben traf ins Schwarze.
Das Stück zeigt auch Winges Stil, etwas veraltet, ohne Umschweife, unbearbeitet! Schriftsteller war Herluf Winge nicht, hinreichend klar schreibt er nur der Mitteilung wegen, ohne Form oder Ton in der Sprache, sonderbar, eigentümlich kindlich, äußerst kurz gefaßt, fast als hätte er einen privaten mündlichen Extrakt seiner Gedanken niedergeschrieben. Seine Bücher sind zum größten Teil nur eintönige Aufzählungen und Listen über anatomische Beobachtungen und Zusammenstellungen und konnten auch nicht anders sein nach Art und Umfang dessen, womit er arbeitete. Aber in den kurzen einleitenden Übersichten über die Geschlechter fallen viele ungekünstelte Bemerkungen von entscheidender Wichtigkeit; was aus seiner Werkstatt, von einem Mann mit seiner Einsicht und Autorität kam, beachtet man selbst, wenn es unmonumental dasteht, ohne daß Wert auf die Sprache gelegt ist.
In dem folgenden, rein malerischen, aber nicht unwissenschaftlichen Versuch, in die Entwicklungsgeschichte der Säugetiere einzudringen, folge ich Winge; es kann noch mehr als einmal Gelegenheit sein, ein Wort von ihm anzuführen.
Herluf Winge hatte die Freundlichkeit, den vorliegenden Versuch in einer ersten Form für mich durchzusehen; seinen Berichtigungen und Winken verdanke ich es, daß ich die Aufgabe nach erneutem Durchgang des Materials gründlicher angriff. Der Ausdruck mußte geschärft werden, in evolutionären Fragen hat die Fassung eine entscheidende Bedeutung.
Das zoologische Museum war mir nicht fremd. Ich habe die zum medizinischen Vorbereitungsexamen gehörende Prüfung in Zoologie seinerzeit dort bestanden; Lütken war damals Professor; es dauerte einige Jahre, bis ich zur Zoologie zurückkehrte. Versteht sich, daß ich nie in anderer Weise Zoologe gewesen bin als aus Liebe zur Sache, nie eine Sammlerarbeit verfolgt oder irgendeine originelle Spezialuntersuchung vorgenommen habe, die mich berechtigen könnte, mich einen Zoologen zu nennen. Da die Spezialitäten klar gehalten werden sollen, läßt sich meine Haltung zur Zoologie näher bestimmen als die, welche der Schriftsteller im allgemeinen zu seinem Stoff einnimmt: Er will etwas Lesenswertes daraus machen. In einer literarisch verwässerten Zeit versuchte ich, die Zoologie auf die Schönwissenschaft anzuwenden, wie ich die Anthropologie auf die Kunstgeschichte angewandt habe. Allerhand Spezialitäten, die streng gesondert sind und einander sonst nie sehen, können in der Kunst zur Begegnung gebracht werden. Die Natur ist keine Spezialistin. Vom Zoologen soll man keine dichterische Form verlangen, im Gegenteil, er arbeitet, den Stoff selbst unter den Händen; meine Aufgabe ist es, einen sonst unzugänglichen Stoff in Bilder zu verwandeln, ihn wieder in Natur und Zeit hinauszuführen, ihn mythisch zu machen. Hiermit dürfte der Arbeitsteilung Genüge geschehen sein.
Als ich wieder im Zoologischen Museum auftauchte, kam ich mit Winge in Berührung. Ich kannte ihn von früher, es war die Archäologie gewesen, die uns zusammengeführt hatte, zwar ganz zufällig, aber sie hinterließ bei mir eine Spur; Winge war mit bei den Ausgrabungen der Erteböller Ansiedelung im Himmerland, nicht weit von meinem Heimatsort, anfangs der neunziger Jahre, und war auch oft in Farsö, in dessen Krug damals die ihrer Küche wegen berühmte Madame Hansen residierte, eine bezaubernde, zweihundertpfündige lustige Frau. Einen herrlichen Sommer muß die ausgrabende Gesellschaft dort am Ufer des Limfjords, gerade gegenüber Livö gehabt haben, dicht am Molerhang und uralte Strandhöfe, noch mit einer alten Kultur, die entlegene Küste entlang. Winge sah man als einen freundlichen, zurückhaltenden Mann mit schütterem Vollbart, schon ältlich, und als wäre er immer alt gewesen; seine blauen hellen Augen paßten merkwürdig gut zu der weiten Aussicht und dem fernen großen Himmel in Jütland. Er stand damals im Sommer seines Lebens.
Herluf Winge starb unverheiratet. Nicht sein ganzes Leben verging in den Kellern des zoologischen Museums, als eine Klosternatur darf man ihn sich nicht denken. Ein anderes Bild, dessen ich mich von ihm erinnere, ist aus dem Rudersdaler Wald, durch den ich zufällig eines Frühlings, wohl auf dem Fahrrad, kam. Von Herluf Winge sah ich nur einen Schimmer, der aber ist mir bis auf den heutigen Tag in der Erinnerung geblieben. Er saß auf einer Bank am Rande einer Anpflanzung, einige hohe helle Buchen in der Nähe, frisch ausgeschlagen, die jungen Kronen in einem Schwall von Licht; er saß unbequem gerade, ein Notizbuch in der Hand, aber mit erhobenem Haupte, einem einsamen, entrückten Lächeln und glücklichen Augen: der alte Mann lauschte Vogeltönen, war in Vogelgesellschaft, der Frühling schüttete seine Pracht über seinem Haupte aus; so werde ich ihn stets vor mir sehen.
Die Naturgeschichte war ja für ihn keine trockene Beschäftigung, sie kam ihm vom Herzen. Wenn auch die Säugetiere sein Sonderfach waren, so war er doch ebensosehr Ornithologe; auch das war nützlich, er hinterließ hier einen großen bearbeiteten Stoff. Aber alle Geschöpfe besaßen seine Liebe, selbst die Raubvögel, er wollte nicht, daß sie ausgerottet würden, und legte ein gutes Wort für sie ein. Allen Tieren war er ein Anwalt, er verteidigte sie mit fast mütterlichem Gefühl; er konnte laut werden, soweit seine zarte, unendlich behutsame Stimme es erlaubte, ja, ganz bitter, wenn man seiner Meinung nach zu starkes Gewicht etwa auf die Mordgier des Igels legte, der Igel fraß wahrlich in der Hauptsache Schnecken! Seinen Garten in Hellerup hatte Winge bekanntlich als Wildnis, als Freistatt für Vögel und alles andere Getier wuchern lassen, das sich dort ansiedeln wollte, den Igel eingeschlossen, er liebte den Igel, streckte unwillkürlich die Arme aus, wie das Huhn die schützenden Flügel, wenn man sich abfällig über den Charakter des Insektenfressers äußerte. Einen Teil seines Vermögens vermachte er testamentarisch zur Errichtung eines Wildreservats, einer Stätte, die für immer für Vögel und Getier geschützt sein sollte; eine künftige Zeit kann sie als eine Naturinsel inmitten einer steinernen Stadt sehen, wenn Kopenhagen sich einmal über das ganze Land verbreitet hat.
In dieser Zärtlichkeit, diesem Beschützerdrang, der sich bis auf das Marienkäferchen erstreckte, konnte man einen der Gründe dafür suchen, daß Herluf Winge sich so offen Lamarck anschloß; Darwins Selektionslehre mit ihrem starken Unterstreichen des Kampfes ums Dasein wollte sich gleichsam nicht mit seiner empfindsamen Natur verbinden. Nicht, daß man blind gegen die Unannehmlichkeiten der Natur zu sein braucht, aber man kann seine Aufmerksamkeitssphäre anderswo haben. Die Art von Herluf Winges Arbeit, die rein anatomische Bestimmung mußte ja die Anpassung in den Vordergrund rücken, die Summe seiner Eindrücke beherrschen, wohingegen das Studium der Tiere im Freien die Augen mehr für den Kampf ums Dasein und die Auswahl öffnet.
Sich entweder als Lamarckisten oder als Darwinisten zu erklären, beruht etwas auf dem Geschmack. Für eine evolutionäre Betrachtung können die beiden Vorgänge in Wirklichkeit nicht voneinander geschieden werden. Daß der eine Entwicklungsfaktor den anderen ausschließen sollte, ist ein allgemeiner Irrtum, gang und gäbe selbst bei Aufgeklärten, die mit einer feindlichen Tendenz gern die Bekenner der Entwicklung zersplittert sehen. Selektion und Anpassung schließen einander nicht aus, im Gegenteil, wie der schwedische Forscher Wilhelm Leche ausgesprochen hat, löst gerade die Annahme, daß beide Faktoren wirksam gewesen sind, die Kardinalfrage; und er fügt hinzu, daß Darwin selbst beide Prinzipien anerkannte. Aber über die Entwicklungstheorie später an ihrem Platze. Bei Winge war die Empfindsamkeit ein Extrem, ohne doch etwas Krankhaftes zu haben wie der Schwachsinn, den man von weiblichen Hundebesitzern kennt, Kläglichkeit lag ihm fern; in der Empfindsamkeit wurzelten seine Initiative und die Feinheit seiner Methode.
Scheinbar bestand ein gleicher Gegensatz zwischen der Zartheit des kleinen Mannes und seiner geistigen Kapazität wie zwischen seinem Stil und seinem Stoff; hätte man den Gedanken in sich niedergerissen, daß jeder bedeutende Mensch notwendigerweise Athlet sein müsse, so würde sich der Gegensatz in eine Kausalität auflösen. Gerade weil er empfindsam war wie eine Lichtflamme vor einem Luftzug, nahm er Eindrücke in sich auf, über die andere hinwegschritten, er war ein verfeinertes Instrument. In dem unansehnlichen, wehrlosen kleinen Gelehrten verbarg sich eine starke, virile Gedankentätigkeit, die Eindrücke, die er empfing und die auf haarscharfer Wahrnehmung beruhten, bearbeitete er hartnäckig und lange in einer bestimmten Richtung. Er war der rücksichtsvollste, sanfteste Charakter, aber man kannte ihn kaum, so stieß man schon in seinem zarten, liebenswerten Wesen auf etwas, das unter Umständen Widerstand leistete, etwas Festes und Adamantenes im Grunde, Energie und viel Bestimmtheit; das war die Grundlage, auf ihr beruhte seine Arbeit.
Für die Tiere, für alles, was Leben hat, und für die Formen des Lebens war er das feinste Mikrometer. Solche alliebenden Charaktere sind nicht für den Kampf ums Dasein in einer rohen Form ausgerüstet und machen sich nicht auf dem Markte bemerkbar. Aber ihre Lebenstat erbaut in aller Stille eine Schranke, gefährlich für die gehässige, lärmende Bande der Unwissenheit.
Es ist getan, niemand hat es der Aufmerksamkeit für wert befunden, was der geschäftige Mann mit alten Knochen vorhatte, er hat still die Glieder der Natur zusammengefügt; Klarheit, Wahrheit kann nie ausgerottet werden, ist sie einmal in die Welt gebracht.
Säugetiergeschlechter sind eine solche Hochburg, die Genealogie der Tiere, eine unermeßliche Familie, ausgestorben und lebend, klargelegt von der Wurzel bis zu den äußersten Verzweigungen, wie das eine Glied aus dem anderen kam: Die Entwicklung, wie sie stattgefunden hat, einfach dokumentiert mit Resten der Tiere selbst. Niemand, der sich eine Meinung von der Stellung des Menschen in der Natur bilden will, wird je um sie herumkommen können.