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Deutsche Gerichtszeitung Jahrgang V, Nr. 21. Der in dem Blatt als vierter Brief veröffentlichte rührt nicht von mir her; ich hatte in meinem ersten Briefe derartige Einschiebsel ausdrücklich verstattet.
Sie haben die Reihe meiner Briefe durch einen vierten unterbrochen, der einen gänzlich heterogenen Gegenstand behandelte. Ich kann mich dadurch in dem systematischen Gang, den ich mir für meine Briefe einmal vorgezeichnet habe, nicht unterbrechen lassen. Ich bin in dieser Beziehung nicht so willfährig, wie jener Rechtshistoriker, der den Eingriff, den der Zufall in Gestalt eines Windstoßes und Stubenmädchens in die systematische Anordnung seiner römischen Rechtsgeschichte vorgenommen hatte, genehmigte und adoptierte. Kennen Sie die Geschichte? Es sei Ihre Strafe für Ihren Eingriff in meine Briefe, daß Sie dieselbe abdrucken lassen müssen.
Es war in den großen Ferien. Der Professor war verreist, und das Stubenmädchen hatte sein Studierzimmer von dem gelehrten Staub zu reinigen, der sich darin angesammelt hatte. Türe und Fenster waren gegeneinander aufgestellt, das Mädchen war nach verrichteter Arbeit hinausgegangen. Da will das Unglück, daß ein starker Wind sich erhebt, ein mächtiger Stoß dringt ins Zimmer und zwischen die ihren Ferienschlaf haltenden Hefte. Institutionen, Pandekten, Civilprozeß, römische Rechtsgeschichte – alles gerät in Bewegung und Aufregung, und namentlich bohrt und wühlt der Wind mit satanischem Behagen in die ganz besonders exponierte Rechtsgeschichte. Ein starker Stoß – – und die ganze römische Rechtsgeschichte wirbelt wie ein Staubregen in der Luft herum, das prätorische Edikt im Kampf mit den 12 Tafeln, das jus gentium mit dem jus civile, die Senatuskonsulte mit den kaiserlichen Konstitutionen, Labeo und Capito, die unversöhnlichen Gegner, umgekehrt eng umschlungen, Coruncanius und Aelius über Ulpian und Paulus liegend, Justinian's Kompilation hoch über allen – kurz ein wildes Durcheinander, eine Zersprengung aller Bande der römischen Rechtsgeschichte, man hätte glauben mögen, daß eine rechtshistorische Auferstehungsscene dargestellt werde, – alles, was in den Gräbern ruht, wird lebendig, erhebt sich! In diesem entscheidenden Momente erscheint das Dienstmädchen – der Danae gleich überschüttet mit einem rechtshistorischen Goldregen. Auf der Höhe des Hauptes ließ sich, ihrem Rang entsprechend, die legis actio sacramento nieder, etwas tiefer auf der Brust die pignoris capio, die manus injectio fiel in die Schürze, die judicis postulatio wählte sich die Füße, nur der Formularprozeß als jüngere Formation verspürte noch kein Bestreben, sich abzulagern, die klassischen Juristen senkten in sympathischer Regung sich zu ihr nieder und schlossen schwebend einen Reigen um sie.
Welche Situation! Ein Dienstmädchen mitten in dem systematischen Sturm und Strudel der römischen Rechtsgeschichte, berufen, diesen Sturm zu beschwichtigen und die Ordnung wieder herzustellen!
In einer halben Stunde war sie mit der Aufgabe fertig. Die römische Rechtsgeschichte war neu geordnet. Das Format, die Farbe, das Alter des Papiers, die Seitenzahlen, soweit sie vorhanden waren, und andere äußere Merkmale wurden redlich berücksichtigt, im übrigen aber ließ die Ordnerin ihren Genius frei walten und ordnete nach »eigenem System«. Dasselbe war jedenfalls höchst originell. Die 12 Tafeln kamen ungefähr ans Ende, weit hinter die Juristen, die sie behandelt hatten, weit hinter alle Gesetze, Senatuskonsulte u. s. w., die ihnen gefolgt waren und sich auf sie bezogen, die Magistrate der Republik mit ihren Edikten hatten im dunklen Loyalitätsdrange den Kaisern mit ihren Konstitutionen den Vorrang eingeräumt u. s. w. Den Verlauf der Geschichte erzähle ich kurz. Der Herr kam aus den Ferien zurück, las die angekündigte römische Rechtsgeschichte, ganz als wenn nichts mit ihr vorgefallen, indem er täglich den nötigen Bedarf von Heftblättern zu sich steckte, und kam so, ohne es zu wissen und zu wollen, immer tiefer in die ihm oktroyierte neue Ordnung hinein, bis er zuletzt nicht mehr zurück konnte und sich schließlich auch mit ihr befreundete. Ob er dieses sein neues System in Form eines Grundrisses, wie es ja jetzt Mode ist, veröffentlicht oder auf andere Weise mitgeteilt hat, ist mir unbekannt, kurzum Tatsache ist, daß die angegebenen eigentümlichen Umstellungen in der römischen Rechtsgeschichte sich in einem der neuesten Lehrbücher befolgt finden. Rudorff, Römische Rechtsgeschichte, 2 Bände 1857 und 1859. Dies Werk enthält in meinen Augen die ärgste Mißhandlung, welche die römische Rechtsgeschichte je erfahren hat, einen gänzlichen Verzicht auf allen und jeden Nachweis der geschichtlichen Entwicklung des Rechts – einen Haufen Bausteine statt eines Gebäudes! Und der Verfasser zählte sich zu den Hauptvertretern der historischen Schule. Ein Seitenstück auf dogmatischem Gebiet hat er in seinem Werke über die Vormundschaft geliefert, in dem das Zerreißen des Zusammengehörigen und das Zusammenstellen des heterogenen auf die Spitze getrieben ist.
Seitdem ich diese Geschichte erfahren, ist mir über manche wunderbare systematische Erscheinungen in unseren juristischen Werken, wie man sagt, ein Licht aufgegangen, was in dem obigen Fall sich ereignete, kann es sich nicht auch in anderen Fällen wiederholt haben? Kann der Wind nicht auch einmal zwischen die Institutionen und Pandekten fahren und den sogenannten allgemeinen Teil ans Ende und z. B. die Ehe, Adoption und Legitimation in die ersten Paragraphen des Systems jagen, an eine Stelle, wo von dem Begriff eines Rechts und Rechtsverhältnisses überall noch nicht die Rede gewesen ist? Der Wind und Stubenmädchen sind unberechenbar, und was kein Verstand der Verständigen sieht, kann vielleicht durch das Spiel des Zufalls herbeigeführt werden. Darum sollten Wind und Stubenmädchen, wie ich meine, zu Manuskripten und Heften immer freien Zutritt haben.
Ich schloß meinen dritten Brief mit einem Satz, der, so leicht er sich hinschreiben läßt, doch erst auf langsamem, mühsamem Wege von mir gewonnen werden mußte, mit dem Satze: daß man erst den Glauben an die Theorie vollständig verloren haben muß, um ohne Gefahr sich ihrer bedienen zu können. Wieviele Fälle müßte ich berichten, wenn ich den Weg bezeichnen wollte, auf dem ich zu diesem Satze gelangt bin. Sie endeten ebenso wie der früher mitgeteilte. Trotz oder richtiger gerade wegen meines festen Anklammerns an die Theorie fand ich mich jedesmal schmählich aus dem Sattel gehoben und in den Sand geworfen. Ich kam mir vor, wie ein Tierarzneibeflissener, der, nachdem er mit größtem Fleiß die Vorlesungen über die Anatomie des Pferdes besucht, im Vertrauen auf diese seine wissenschaftliche Bekanntschaft mit dem Pferde sich auf einen wilden Schimmel gewagt hat und im Chausseegraben Muße erhält, darüber nachzudenken, daß ein Pferd zu reiten und seine Anatomie zu kennen zweierlei ist.
Ich will die wertvollen Spalten Ihrer Zeitschrift nicht mit diesen Fällen anfüllen, aber zwei derselben, welche für meine juristische Entwicklungsgeschichte epochemachend geworden sind, müssen Sie mir schon erlauben Ihnen mitzuteilen. Sie haben meinem Glauben an die Theorie jenen Stoß versetzt, der mich schließlich mit unwiderstehlicher Gewalt zu jenem Punkt hindrängte, auf dem ich jetzt stehe, und von dem aus ich in meinen folgenden Briefen unsere heutige Theorie beurteilen werde. Urteilen Sie, ob dieselben einen andern Erfolg ausüben konnten, als meinen Glauben gründlich zu erschüttern!
Der Held meines ersten Falles, welcher die Lehre von den Generalhypotheken betraf, war ein liebenswürdiger, leichtsinniger Musikus, dem schon sein Name einen Anspruch auf eine gewisse Excentricität gegeben hatte, er hieß nämlich Sausewind. Obschon Musiker mit Leib und Seele, verspürte er doch mitunter einen unwiderstehlichen Drang in sich, mit der praktischen Jurisprudenz in nähere Berührung zu treten, indem er nämlich das Mißverhältnis zwischen Ausgaben und Einnahmen, das er auf andere Weise vergebens herzustellen bemüht gewesen war, mittelst der praktischen Verwertung der Theorie des Darlehns auszugleichen versuchte, wozu seine Gläubiger noch die des Pfandrechts hinzufügten, indem sie den Schuldscheinen den Zusatz sub hypotheca omnium bonorum hinzufügten. Nachdem er mit der Theorie des Darlehns nebst angrenzenden Materien: Schuldscheinen, Wechseln, Zinsen und Zinseszinsen u. s. w. zur Genüge vertraut geworden war und auch bereits mit dem Civilprozeß eine gewisse Bekanntschaft gemacht hatte, wandte er sich einer processualischen Materie zu, die ihm bis dahin noch völlig fremd geblieben war, indem er nämlich seine Gläubiger ersuchte, an Stelle ihrer bisherigen Solovorträge, wie er in musikalischer Sprache sich ausdrückte, ihre Kräfte zu einem gemeinsamen prozessualischen Symphoniesatz zu vereinigen, den der Jurist in seiner Sprache Konkurs nennt.
Das Thema, das hier nicht sowohl kontrapunktisch als kontradiktorisch behandelt ward, war echt musikalischer Natur, es bestand in verschiedenen Streich- und Blas-Instrumenten, einem Fortepiano und den erforderlichen Musikalien. Das Liquidationsverfahren hatte gar keine Schwierigkeiten, um so größere aber das Prioritätsverfahren, namentlich in Bezug auf die verschiedenen Generalhypotheken, die von dem Kridar successiv bis acht an der Zahl bestellt worden waren. Zwar ihr Altersverhältnis war klar und unbestritten, jede Generalhypothek trug ihren Geburtstag an der Stirn, sie folgten sich ganz in demselben Verhältnis wie die Buchstaben des Alphabets A, B bis H, mit denen ich ihre Innehaber bezeichnen will. Aber den Streitpunkt bildete die objektive Bestimmung dieser Hypotheken, ob nämlich als Gegenstand derselben das ganze Vermögen oder die einzelnen Stücke desselben betrachtet werden sollten. Im ersteren Fall erhielt vom Gesamterlös desselben zuerst der A seine Befriedigung, dann der B und so fort. Im zweiten Fall hatte A die erste Hypothek bloß an denjenigen Sachen, die zur Zeit ihrer Bestellung im Vermögen des Schuldners gewesen, an den später erworbenen hingegen hatte er mit allen anderen Gläubigern, die damals bereits eine Generalhypothek erhalten hatten, ein gleichzeitiges Pfand; in diesem Fall kam mithin alles auf den Moment an, in welchem diese einzelnen Stücke ins Vermögen gekommen waren.
Jene erste Ansicht hat jahrhundertelang in der Praxis gegolten, allein unsere heutige Theorie hat ziemlich allgemein das Verdammungsurteil über sie gesprochen, und es wird niemand wunder nehmen, daß ich im vorliegenden Fall die zweite Ansicht, welche von Männern wie Puchta, Vangerow, Sintenis u. a. verteidigt ward, meiner Beurteilung zu Grunde legte. Die Anwendung derselben war freilich mit großen Schwierigkeiten verbunden. Denn ihr zufolge bestimmte sich die Prioritätsfrage nicht lediglich nach dem Datum der Pfandbestellung, sondern zugleich nach dem des Eintritts der einzelnen Gegenstände in das Vermögen, und dies Datum muß bekanntlich von dem, der es behauptet, bewiesen werden.
Nun war zwar die Reihenfolge, in der dieser Eintritt stattgefunden, im allgemeinen leicht zu konstatieren. Das Fortepiano war zuerst dagewesen, ihm hatte sich eine Violine angeschlossen, die bald an einer Bratsche und beide wiederum an einem Cello Succurs erhalten hatten. Dann folgte die Periode der Blasinstrumente: Sie begann mit einer A-Klarinette, die nicht lange nachher an der ihr so nahe verwandten B-Klarinette eine Gesellschafterin gefunden hatte; und, einmal ins Blasen hineingekommen, hatte der Kridar sodann im unaufhaltsamen Fortbildungsdrange es auch mit der Flöte versucht, die aber bald dem Waldhorn hatte Platz machen müssen. Bei den vielversprechenden Studien auf diesem Instrumente überraschte ihn der Konkurs, das decretum de aperiundo concursu fiel gerade in die Schlummerarie und der Gerichtsdiener ganz bezeichnend in die von dem Kridar selbst komponierte und eingelegte Schluß-Kadenz hinein. Die bloße Konstatierung jenes relativen Zeitverhältnisses konnte aber begreiflicherweise nicht genügen; sie würde es nur unter der Voraussetzung gekonnt haben, daß der Kridar mit Instrumenten und Gläubigern gleichen Schritt gehalten hätte, z. B. den D zwischen die Bratsche und das Cello, den E zwischen letzteres und die A-Klarinette u. s. w. geschoben, kurz auf jedes neue Instrument ein neues Darlehn und einen neuen Gläubiger gesetzt hätte. In der Tat scheint der Kridar diesen Parallelismus zwischen der Ausdehnung seiner musikalischen Studien und seiner Schulden beobachtet zu haben, denn er selber hatte in seinem Humor die neuen Instrumente jedesmal nach dem vorhergehenden Gläubiger benannt, und seine Klarinetten z. B. trugen daher nicht den Namen der A- und B-Klarinette, sondern der Schmul- und Itzig-Klarinette. Von dieser Voraussetzung aus stellte sich das Schema des Prioritätsverhältnisses (auf den Kopf gestellt) folgendermaßen:
Generalhypotheken am | |||||||||
Waldhorn: | H | G | F | E | D | C | B | A | |
Flöte: | G | F | E | D | C | B | A | ||
B-Klarinette: | F | E | D | C | B | A | |||
A-Klarinette: | E | D | C | B | A | ||||
Cello: | D | C | B | A | |||||
Bratsche: | C | B | A | ||||||
Violine: | B | A | |||||||
Klavier: | A |
Allein processualisch bewiesen war jene Annahme in keiner Weise, das Prioritätsurteil konnte mithin nicht auf sie fußen, es bedurfte des Beweises der einzelnen Erwerbs tage. Selbst die Monate genügten nicht, denn auf den Juni 1850 fiel unbestritten z. B. als neuer aktiver Bestandteil des Vermögens die A-Klarinette, als neuer passiver die Schuld an den E; allein, ob erstere vor oder nach dem 13. Juni, dem Tage der Bestellung des Pfandes an den E, ins Vermögen gekommen, war völlig zweifelhaft und unter den Gläubigern bestritten.
So blieb denn in der Tat nichts übrig, als den 8 Gläubigern rücksichtlich aller Instrumente mit Ausnahme des Fortepianos den Beweis der Zeitpunkte aufzulegen, wann sie ins Vermögen des Kridars gekommen waren. Rücksichtlich der Musikalien mußte ganz dasselbe eintreten; jedes Streichquartett von Mozart, jede Sonate von Beethoven, ja jeder Walzer von Strauß: »Mein schönster Tag in Baden«, »Die blaue Donau« etc. bildete möglicherweise den Gegenstand von so und so viel Generalhypotheken.
Welche Schwierigkeiten mir die richtige Formulierung dieser Beweissätze gemacht hat, darüber lassen Sie mich schweigen. Das Traurigste kommt zuletzt. Als ich meinem Amtmann – Sie erinnern sich noch jenes alten wackern, aber derben Justiz-Paschas von meinem dritten Briefe her – meinen Entwurf vorlegte, sah er nach beendigter Lektüre mich drei Minuten starr an, dann überfiel ihn aber ein Lachkrampf, der gar nicht enden wollte. Ein Waldhorn Gegenstand von 8 Generalhypotheken, eine Flöte von 7, eine Klarinette von 6 u. s. w.; ein Strauß'scher Walzer als Kampfpreis eines Prioritätsstreites – dieser Gedanke hatte etwas so Überwältigendes für ihn, daß er trotz aller Zuneigung zu mir aus dem für mich so peinlichen Lachen gar nicht herauskommen konnte. Um das Ende kurz zu machen, so warf er meinen Entwurf nicht, wie ich erwartet hatte, in den Papierkorb, sondern er nahm ihn als unschätzbares Kuriosum zu sich, und bei seinem Tode wird man ihn noch unter seinen Papieren finden. Was er bei der Gelegenheit über die Theorie äußerte, darüber lassen Sie mich schweigen; dagegen verdient die Art, wie er die alte Praxis juristisch rechtfertigte, allerdings der Mitteilung. Er meinte: wenn einmal nichts dagegen zu erinnern sei, daß man ein Warenlager als universitas mehrmals verpfände, d. h. mit der Wirkung, daß an allen Stücken, welche sich im Moment der Ausübung des Pfandrechts auf dem Lager befinden, einerlei wann sie hineingekommen, der A die erste, der B die zweite Hypothek erhielte, daß man dann auch dem Willen der Parteien es überlassen müsse, ein ganzes Vermögen ganz in derselben juristischen Weise zu behandeln; ob der zweite Pfandgläubiger von dem Pfandrecht des ersten etwas wisse, könne in diesem Fall ebensowenig etwas relevieren, wie in jenem.
Der zweite Fall, den ich Ihnen berichten will, spielt auf dem Gebiet der Besitztheorie. Daß, nachdem Savigny über den Besitz geschrieben und diese Lehre in das volle Tageslicht der juristischen Klarheit gerückt hatte, mir noch irgend ein Fall aus der Besitzeslehre würde Schwierigkeiten machen können, hätte ich nicht für möglich gehalten. Und welcher Fall war es, der mich eines Besseren belehren sollte! Der einfachste von der Welt! Es überfällt mich ein Grauen, wenn ich mir die Unsicherheit der menschlichen Dinge ausmale, wie sie mir an diesem Fall so recht grell zum Bewußtsein gekommen ist. Man spricht von einem » beatus possessor«, und er selber, der Glückliche, wenn er um sich schaut und seine Blicke weidet an allem, was ihn umgibt, mag sich seines Glückes rühmen und mit Lust ausrufen: »Dies alles ist mir untertänig, gestehe, daß ich glücklich bin!« Glücklich? Ja, so lange, wie es dauert! Ein Besitzprozeß kann Dich um Dein ganzes Glück bringen! – wenigstens, wenn er nach der Savigny'schen Theorie entschieden wird. Hören Sie meinen Fall!
Peter Habermaier – so hieß der Edle – Peter Habermaier war der Bruder von Jürgen Habermaier, beide Nachbarn, beide jenes Mittelding zwischen Bauer und Gutsbesitzer, für das unsere deutsche Sprache keinen Ausdruck hat, und das man daher gezwungen gewesen ist, mit dem Fremdwort Ökonom zu bezeichnen. Im Jahre 1848 hatte Jürgen das Unglück, sich zu tief in die praktische Politik einzulassen, und eines Tages nahm er einen raschen, ergreifenden Abschied von seinen Gänsen, Schweinen, Kühen:
»Lebt wohl, ihr Berge, ihr geliebten Triften,
Ihr Gänse, Schweine, Kühe, lebet wohl!«
sprach sodann mit Peter einige geheimnisvolle Worte und war schnell über alle Berge. Selbigen Tages erschien Peter auf dem verlassenen Gehöft, um dort zu wohnen und zu wirtschaften, erklärte den Leuten, daß sie von jetzt an ihn als Herrn zu respektieren hätten, und nahm sich der verwaisten Gänse, Schweine u. s. w. an. Über den Rechtstitel dazu, oder über die juristische Natur seines Besitzverhältnisses, ob er als curator absentis, fiduciarius, mandatarius, negotiorum gestor oder als antichretischer Pfandgläubiger, Käufer oder Pächter die Wirtschaft übernommen, hatten weder er noch seine Nachbarn sich den Kopf zerbrochen, man respektierte einfach die Tatsache. Unangefochten erntete Peter, was Jürgen gesäet hatte, unangefochten erging sich das Vieh im hohen Grase, und ganz wie zu Jürgen's Zeiten liefen Gänse, Enten, Hühner im unverminderten Gefühl ihrer Rechtssicherheit frei herum.
Dieser friedliche Zustand sollte jedoch bald ein tragisches Ende finden. Kaum ein halbes Jahr war vergangen, als es einem Nachbar einfiel, daß jetzt der Zeitpunkt gekommen sein dürfte, alte Eigentumsansprüche an gewisse zum Hofe des Jürgen gehörige Ländereien zu erneuern, und eines Tages stürzte in wilder Flucht, blökend, grunzend und zum Himmel schreiend über die Freveltat, die an ihnen begangen, ganz wie in der ersten Scene von Reineke dem Fuchs, das ganze Tierreich des Hofes auf letzterem zusammen. Der Rabenheinrich – so nannte man ihn mit seinem Spitznamen – war mit seinen Leuten: seinen Kindern, Knechten, Mägden und allem, was sein war, ausgezogen, gleich als wären die Zeiten des Faustrechts wieder lebendig geworden, und hatte jene Ländereien in Besitz genommen, indem er alles, was an Vierfüßlern und Zweifüßlern sich auf ihnen befand, zum schleunigen Rückzug nötigte. Am folgenden Tage wiederholte sich die Scene. Peter Habermaier, durch das Beispiel seines Bruders gewitzigt, verzichtete darauf, seine Ideen vom Recht durch Gewalt zu verwirklichen, und zog es vor, den Rechtsweg einzuschlagen. Er reichte eine Klage wegen Besitzesstörung ein und bat um Schutz im Besitz. Es ward mir übertragen, den Entwurf des Erkenntnisses ausfzusetzen. Mein alter Amtmann war gerade ins Bad gereist, und der Assessor und ich waren allein zurückgeblieben. Wären wir doch statt seiner ins Bad gereist gewesen! Wie haben wir beide hinterher das Urteil, das ich verfaßt und mein Assessor genehmigt hatte, » ausbaden« müssen. Der Karlsbader Sprudel, den unser alter Herr an Ort und Stelle getrunken, war nichts gegen den, den er gegen uns loszulassen pflegte, wenn die Rede auf jenes Urteil kam. Dies Urteil selber aber war, wie ich noch heutigentages behaupte, theoretisch durchaus korrekt, ganz und gar nach der Savigny'schen Besitztheorie gearbeitet, – aber freilich, ein ordentlicher Praktiker würde sich eher die Finger abgehackt haben, als daß er es unterschrieben hätte. Mein Assessor hat das unterlassen. Schade drum! Es wären manche schlechte Urteile und ungenießbare Abhandlungen von ihm ungeschrieben geblieben. Sie müssen nämlich wissen, daß er zugleich juristischer Schriftsteller war und zwar einer von der gefährlichsten Sorte.
Es ist hier nicht der Ort, Ihnen meine Ansicht über die verschiedenen Sorten der juristischen Schriftsteller auseinanderzusetzen. Aber für die gefährlichste Species unter ihnen halte ich die, zu der mein Assessor gehörte, d. h. diejenigen Praktiker, welche sich darum für große Theoretiker halten, weil eine innere Stimme ihnen sagt, daß sie keine Praktiker sind. Sie werden mit mir darin einverstanden sein, daß es viel leichter ist, mit Hilfe der Literatur eine juristische Abhandlung zu machen, die jeder Schriftsteller über die Materie und jeder Kompendienschreiber sich verpflichtet hält zu citieren, als ein gutes Urteil oder eine gute Parteischrift. Auch der Dümmste bringt mit Hilfe der Literatur leicht eine Abhandlung zustande, in der er über alle Schriftsteller, die vor ihm über den Gegenstand geschrieben haben, zu Gericht sitzt; und es gehört bekanntlich nichts dazu, sie in irgend einer unserer gemeinrechtlichen juristischen Zeitschriften zum Druck zu bringen; nimmt das Archiv für civilistische Praxis sie nicht, so nimmt sie das für praktische Rechtswissenschaft; weist von den beiden Dioskuren-Jahrbüchern: den Jahr büchern von Gerber und Ihering und dem Jahr buch von Bekker und Muther, das eine sie zurück, so bleibt immer noch das andere, und reißen alle Stricke, so ist schließlich noch die Zeitschrift für Civilrecht und Prozeß übrig, die das Opus sicherlich nicht ausschlägt, da jeder Beitrag zu derselben ungesehen und ungelesen in die Druckerei wandert – – ein Unterkommen für Obdachlose, in dem jeder Aufnahme findet. Mit einem Urteil oder einer Parteischrift, wenn der Gegenstand einigermaßen intrikat ist, hat es aber gute Wege; da kann man nicht mit fremden Gedanken operieren, sondern muß selber denken. Kein Wunder, daß manche, denen auf diesem Felde keine Lorbeeren beschieden sind, einen Erfolg in der Schriftstellerei suchen, wäre es auch nur, um die Ansichten, mit denen sie abvotiert, die Deduktionen, mit denen sie in allen Instanzen abgewiesen sind, zu Markte zu bringen und von dem beschränkten Urteil der Kollegen und der Gerichte an das erleuchtete und unbefangene des größeren Publikums zu appellieren. Wird, wie es nicht ausbleiben kann, die Abhandlung des Verfassers von irgend einem namhaften Gelehrten, z. B. Vangerow citiert, so ist es in vielen Fällen um ihn geschehen, er zählt fortan zu den »juristischen Schriftstellern« Deutschlands, sein Name gehört so gut wie der von Savigny und Puchta der »Literatur« an: Savigny, Puchta, Vangerow, Hühnerfuß.
» Savigny,« heißt es vielleicht in irgend einer Schrift »stellt die und die Behauptung auf; mit Recht wendet jedoch Hühnerfuß dagegen ein, daß u. s. w., was Kohlmeier (sein Kollege) mit Unrecht bestritten hat.«
Freudestrahlend zeigt Hühnerfuß den Passus seiner Frau, und letztere, die gewohnt ist, das geistige Rangstufenverhältnis danach zu bestimmen, wer »Recht« und »Unrecht« hat, schwelgt fortan in dem glückseligen Gedanken, daß ihr Hühnerfuß einen Mann wie Savigny, den ihr Ehegatte unbedingt über Goethe stellt, und der gleich jenem in Glas und Rahmen bei ihnen aufgehängt ist, berichtigt habe. Er selber aber, der Glückliche, geht am folgenden Tage noch einmal so selbstbewußt in die Sitzung, und passiert es ihm, wie gewöhnlich, daß er abvotiert wird, so entlockt ihm dies nur ein mitleidiges Lächeln über die Unwissenheit seiner Kollegen – »Handwerker, die von der wahren Wissenschaft keinen Begriff haben«.
Nach einigen Wochen oder Monaten erscheint dann eine Abhandlung, worin deren Ansicht als eine »Verirrung« der Praktiker gebührend gezüchtigt wird. Da kann es denn nicht wunder nehmen, daß er auf seine Relationen und Urteile immer weniger Mühe verwendet und sich jedes Mal, wenn er an einer solchen arbeitet, als Pegasus im Joche fühlt.
Ein solcher civilistischer Pegasus war mein Assessor.
Je weniger er bei Anwesenheit unseres Chefs Aussicht hatte, seine »theoretischen Schrullen«, wie letzterer sie nannte, zur Geltung zu bringen, um so erwünschter war ihm die Gelegenheit, zu jenem Zeitpunkt, wo er das Reich für sich allein hatte, der Theorie die Ehre zu geben.
Peter Habermeier sollte erfahren, was das hieß!
Der Beklagte hatte die gewaltsame Dejektion und den faktischen Besitz in der Person des Klägers zugestanden, allein er bestritt ihm den juristischen Besitz, oder specieller: das Moment, welches nach der Savigny'schen Theorie letzteren von ersterem unterscheidet: den animus domini.
Da vom Kläger verkehrterweise nicht das Summariissimum, sondern das possess. ordinarium angestellt war, so blieb nichts übrig, als dem Kläger den Beweis seines juristischen Besitzes, in specie des animus domini aufzulegen; eine Präsumtion des letzteren zu Gunsten des Besitzers war und ist mir nicht bekannt. In diesem Sinne faßte ich denn das Beweisinterlokut ab, »daß Kläger die Grundstücke quaest. in der Absicht wie ein Eigentümer besessen habe; mein Assessor genehmigte den Entwurf – und so ward denn das Urteil publiziert. Kläger appellierte zwar dagegen, unglücklicherweise aber ließ er das Rechtsmittel desert werden; das Beweisinterlokut ward rechtskräftig.
So hatte denn Peter Habermaier seinen animus domini zu beweisen, und erst jetzt, als es an den Beweis ging, merkte ich, was ich angerichtet hatte. Da ich für Juristen schreibe, so habe ich wohl nicht nötig, auszuführen, daß und warum der Beweis mißlingen mußte. Beweise mal einer, wenn ein Bauer seinen Acker bestellt, ob er dies animo domini getan. Sehen Sie es jenen beiden Fudern Mist, Heu u. s. w. an, ob das eine von einem detentor, das andere von einem possessor gefahren wird? Soll das Erfordernis des animus irgend einen Sinn, soll es praktische Wahrheit haben, so muß der Besitz mit ihm stehen und fallen. Wie nun, wenn ein Pächter gegen alle Theorie sich erdreistet, den animus domini haben zu wollen, und umgekehrt ein wirklicher juristischer Besitzer sich fälschlich diesen animus abspricht? Da wird die Theorie sagen: das gilt nicht! Aber wenn's nicht gilt, wenn jeder faktische oder juristische Besitzer immer den Besitzwillen hat, den er dem Recht nach haben muß, wozu dann das ganze Erfordernis des animus domini? Dann scheint mir derselbe nichts zu sein, als der willenlose Begleiter des juristischen Besitzes – sein bloßer Schatten, und von ihm das Dasein oder Nichtdasein des letzteren abhängig zu machen, scheint mir denn um nichts besser zu sein, als wenn man sagen wollte: ob ein Geschöpf zweibeinig oder vierbeinig ist, entscheidet sich danach, ob sein Schatten zwei oder vier Beine hat – wenn die Sonne nur immer schiene, möchte es noch allenfalls darum sein!
So bin ich denn durch jenen Fall in meinem Glauben an den animus domini für immer kuriert worden. Dem Peter Habermaier kostete diese Kur freilich 373 Tlr. 17-1/2 Sgr.; denn daß er schließlich den Prozeß nebst Kosten verlor, brauche ich nicht zu erwähnen.
Für mich aber ist diese Summe nicht vergebens verausgabt worden, und ich hoffe, daß auch noch der eine oder andere Ihrer Leser davon gut haben wird, so daß also schließlich das Geld doch nicht nutzlos verausgabt sein wird. Es ist einmal ja so eingerichtet in der Welt, daß die Juristen und Ärzte die Erfahrungen machen und die Parteien und Patienten sie bezahlen, – damit muß man sich trösten, es kommt der Menschheit und der Wissenschaft zugute.
Die vielen unangenehmen Stunden, die mir jener Fall trotzdem gemacht hat, sind für mich reichlich aufgewogen durch den Nutzen, den er mir gestiftet, denn ihm, muß ich sagen, verdanke ich es, daß ich die Sklavenketten der Theorie gänzlich und für immer gesprengt habe. Dazu hat freilich mein alter Amtmann das Seinige redlich beigetragen, denn er ließ fortan keine Gelegenheit vorübergehen, um mich an jenen Fall zu erinnern, und es bedurfte, wenn ich je noch die geringste Anwandlung von ungesundem Theoretisieren verspürte, aus seinem Munde nur der Frage: »Wollen Sie wieder einmal habermaiern?« Diesen Ausdruck habe ich seit der Zeit von ihm adoptiert, und so pflege ich auch die ganze Periode meines Lebens, die in diesem Habermaier-Fall ihren Abschluß gefunden, nur als meine Habermaier-Periode zu bezeichnen. Wer keinen besseren Ausdruck für die Sache findet, dem schlage ich den meinigen vor.