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»Langsam, Herr, – langsam!« keuchte der dicke Beamte auf der Treppe.
Ich eilte voraus. Der Major hatte seine Flurtür nur angelehnt. Ich hörte, daß er telephonierte, trat leise näher.
Er hatte jetzt mit dem Polizeipräsidium Verbindung. Nach einem Weilchen hängte er den Hörer weg.
»Eine Kommission wird gleich hier sein,« meinte er.
Der Schutzmann stand nach Luft schnappend vor uns, nahm jetzt seine Pistole aus der Tasche.
Wir stiegen in den zweiten Stock hinab. Der Major berichtete, daß er das Ehepaar Hähnchen wieder nach unten gejagt hätte.
»Sonst wäre ja das ganze Haus zusammengelaufen!« meinte er. »Meine Irmgard hat mich dann auf einen sehr guten Gedanken gebracht. Meister Gottlieb hat sich unten im Hausflur postieren und aufpassen müssen, daß niemand die verwünschte Bude verläßt, – niemand, sei es, wer es sei, denn hier kommt ja jeder als Mörder in Betracht, der sich im Hause befand, als der Schuß fiel.«
Ich erklärte, Hähnchen sehr wohl im Hausflur bemerkt zu haben.
Dann steckte der Major den Schlüssel ins Schloß und öffnete die Tür mit der Visitenkarte »Karl Wehrhut, Kanzleirat a. D.«
Die Tür ging auf, und – Herr von Balting rief:
»Ja – wo – wo ist denn –?!«
Ich rieb mir die Augen, starrte wieder und wieder auf den roten Plüschläufer – Es blieb dasselbe Bild: roter Läufer, – aber auch nichts weiter –
Der Tote war verschwunden –!
»Er wird sich in eins der Zimmer geschleppt haben, wird eben noch nicht tot gewesen sein,« meinte der Schutzmann.
»Da erinnerte ich die beiden leise an das Gesicht, das ich am Fenster gesehen hatte.
»Der Kerl muß ja noch hier sein,« meinte der Major. Dann schloß er die Flurtür von innen ab und steckte den Schlüssel zu sich.
Wir drei waren überzeugt, sowohl den Kanzleirat als auch »das Gesicht am Fenster« bald vor uns zu haben.
Man wird es begreiflich finden, daß wir unter diesen Umständen etwas zögernd die einzelnen Räume hintereinander betraten.
Ich will übergehen, wie wir suchten, – wie genau, wie aufgeregt, wie verblüfft und schließlich wie fassungslos –
Wir fanden keinen Menschen in der Wohnung.
Weder einen lebenden, noch einen verwundeten, noch einen toten –!
Wir standen dann in einem der ärmlich ausgestatteten Vorderzimmer und schauten uns kopfschüttelnd an.
Dann zeigte ich auf das eine Fenster:
»Dort zwischen den Gardinen sah ich das Gesicht –«
»Vielleicht haben sie sich getäuscht!« brummte der dicke Schutzmann.
Ich widersprach lebhaft.
Und der Major meinte: »Ebenso gut wie der Kanzleirat kann auch der andere sich in Luft aufgelöst haben.« Er belächelte aber nur allein diesen schwachen Scherz.
Der Polizist schob seine Pistole in das Futteral zurück. Er war trotz seiner Korpulenz sehr eifrig und sehr »gerissen«, um seine plumpe Schlauheit ebenfalls zu betonen.
Plötzlich ging er dann in den Flur hinaus, und wir folgten ihm unwillkürlich. Er hatte schnell die Gaslampe angezündet, und bei deren Schein rutschte er nun auf den Knien auf dem Läufer herum, bis er sichtlich befriedigt rief: »Hier ist ein frischer Blutfleck!«, wobei er dem Major und mir vielsagend zunickte.
Stöhnend richtete er sich wieder auf und erklärte, er würde die Wohnung nochmals durchsuchen. Wir halfen ihm. Wäre auch nur eine Maus hier versteckt gewesen, wir hätten sie jetzt gefunden. Der Beamte prüfte auch sämtliche Fensterverschlüsse – es waren überall, der Jahreszeit entsprechend, Doppelfenster vorhanden – und sagte dabei zu uns: »Man kann sich ja auch an einem Strick hinablassen oder an einer Dachrinne entlangklettern.« Die Fenster waren jedoch sämtlich fest zu.
Das Rätsel wurde immer dunkler.
Der Major schloß jetzt die Flurtür auf, wir verließen die Wohnung, und der Schlüssel wurde von außen nach zweimaliger Umdrehung im Schlüsselloch gelassen. Der Beamte, er hieß Friedrich Lanser, blieb auf dem Treppenflur, und der Major und ich gingen hinunter zu Meister Hähnchen.
Dieser hatte sich einen Schafpelz und dicke Filzgaloschen übergezogen und schritt im Hausflur auf und ab, indem er als Spazierstock und Waffe einen langen Kavalleriesäbel in der Hand hielt.
In diesem winterlichen und kriegerischen Kostüm hatte ich ihn bereits gesehen, als ich mit dem Schutzmann das Haus betreten hatte.
Er sagte uns: »Die Herren können überzeugt sein, daß niemand unbemerkt an mir vorübergekommen ist.« Sein Gesicht strahlte vor Eifer.
Als der Major ihm nun erzählte, daß die Wohnung Wehrhuts leer wäre, bekam er einen großen Schreck, ließ sein kriegerisches Instrument fallen und rief: »Nicht möglich!«
Immer wieder fragte er, ob wir auch genau gesucht hätten.
Uns fror ebenfalls in dem kalten Flur, aber ihm bebten jetzt vor Aufregung die Kinnladen, so daß er kaum sprechen konnte.
Dann kam die Kriminalpolizei: zwei Kommissare, ein Arzt und zwei Geheimschutzleute, alle in Zivil. Ihr Auto hielt draußen vor der Gartenpforte.
Palmburg ist eine Seestadt mit regem Schiffsverkehr und vielen Fabriken, und ihre Polizei wurde, wie ich später merkte, allgemein gelobt. Besonders der ältere der Kriminalkommissare, ein Herr Arthur Märker, wurde geradezu in den Himmel gehoben.
Und diesen Märker lernte ich jetzt schon am ersten Tage meiner Anwesenheit in Palmburg kennen und schätzen.
Unten im Flur gab der Major ihm einen kurzen Ueberblick über die Vorgänge, die mit dem seltsamen Verbrechen zusammenhingen. Märker beließ dann Hähnchen auf seinem Türhüterposten, gab den beiden Geheimschutzleuten leise einige Befehle und ging mit uns nach oben. Die beiden Kriminalbeamten folgten als letzte des Zuges, der sich nun die Treppen aufwärtsbewegte, blieben jedoch im ersten Stock zurück und läuteten bei Marville an.
In demselben Zimmer, in dem ich den Mann am Fenster beobachtet hatte, vernahm Märker die Hausbewohner, nachdem er sich in der Wohnung sehr genau umgesehen und den Major und mich durch sein beharrliches Schweigen schwer enttäuscht hatte. Wir hatten eben gehofft, daß er wenigstens eine Andeutung fallen lassen würde, was er von dem Verschwinden des Verletzten halte.
Zuerst wurden die Personen verhört, die den Schuß deutlich vernommen hatten: der Major, Irmgard von Balting, Frau Hähnchen und ich.
Es war ganz klar, daß es sich nur um eine einzige schußähnliche Detonation handelte, die wir vier zu derselben Zeit gehört hatten.
Märker, ein schlanker Mann in den Dreißigern, blond und bartlos, im Aeußeren etwas an einen Offizier in Zivil erinnernd, schrieb sich jede Antwort genau auf. Ich hätte das nicht nötig gehabt. Mein Gedächtnis ist vorzüglich. – Mich fragte er unter anderem:
»Sie nehmen mit aller Bestimmtheit an, Herr Malwa, daß Sie nicht das Opfer einer Sinnestäuschung geworden sind, als Sie einen Männerkopf zwischen den Gardinen dieses Fensters dort zu erblicken wähnten?«
»Von Sinnestäuschung kann keine Rede sein. Ich mag Schriftsteller sein, gewiß, – aber ich bin in vielem ein sehr kühlabwägender, nüchterner Mensch.«
»Können Sie das Gesicht beschreiben?«
»In großen Zügen ja. – Der Mann war blond, hatte starkes, gescheiteltes Haar und einen kurzgehaltenen Spitzbart.«
Der Major warf mir einen erstaunten Blick zu. Märker entging dies nicht.
»Fällt Ihnen bei diesen Angaben Herrn Malwas etwas auf?« fragte er Balting.
Der wurde ein wenig verlegen, »Hm – hier im Hause –,« er hüstelte, – »ja, hier im Hause wohnt ein Kunstmaler, hm –, und auf den –«
»– paßt Scheitel und Kopfhaar,« ergänzte Märker. »Wie heißt der Betreffende?«
»Heinz Merling.«
»Ah, – etwa der, der unlängst in Berlin die silberne Medaille für sein Bild »Fischerkutter im Mondlicht« erhielt?«
»Derselbe.«
Inzwischen war mir eingefallen, daß ich meiner Aussage noch etwas hinzufügen konnte.
»Der Mann am Fenster trug fraglos zu dem weißen Stehkragen eine schwarze, große Schleife,« sagte ich zu Märker, der darauf nur mit einem »Danke!« antwortete und sich dann mit seinem Kollegen flüsternd besprach. Dieser ging jetzt schnell hinaus.
»Ich möchte noch etwas erwähnen,« meinte ich zögernd. »Ob diese Kleinigkeit von Belang ist, weiß ich allerdings nicht. Gerade unter diesem Fenster dort stand ein Stockwerk tiefer eine junge Dame hinter den Scheiben und schien mich zu beobachten – schien!«
Märker schrieb und fragte: »Aeußeres?«
Ich überlegte und gab dann sehr genau an, was ich von der Dame, die ich auf der Treppe sah, als ich den Schutzmann holen ging, im Gedächtnis behalten hatte.
»Das ist Fräulein Doris Marville,« erklärte der Major.
Märkers Bleistift flog im Eiltempo über das Papier.
Der andere Kommissar kehrte zurück und flüsterte wieder mit Märker, der dann laut sagte: »Es ist noch hell genug. Machen wir den Versuch!« Und mir sich zuwendend: »Wollen Sie bitte nach der Gartenpforte gehen und wieder nach diesem Fenster hinschauen.«
Ich eilte davon. Ich wußte, was für ein Versuch hier angestellt werden sollte.
Inzwischen war es doch schon ein wenig dämmerig geworden. Trotzdem genügte dann ein Blick auf das Haus – mein Haus: dort am Fenster stand jetzt derselbe Mann – blond – schwarze Schleife. –
Als ich das Vernehmungszimmer wieder betrat, schaute mir Märker fragend entgegen. Vor ihm am Tische saß jetzt auf meinem Stuhl Heinz Merling.
»Es war dasselbe Gesicht«, sagte ich fest und deutete mit der Hand auf den Maler.
Dieser zuckte die Achseln. »Ich wiederhole nochmals: ich kenne den Kanzleirat kaum. Jedenfalls war ich heute nicht in dieser Wohnung.« Das klang sehr ruhig und zuversichtlich.
Märker verzog keine Miene.
»Aber Sie geben zu, den Kanzleirat Wehrhut immerhin persönlich gekannt zu haben?« fragte er.
»Ja – aber ganz flüchtig.«
Märker schaute den sehr sympathisch aussehenden Künstler prüfend an.
»Wohin haben Sie Wehrhut gebracht? – Ich denke, Sie räumen am besten alles ein,« sagte er dann schnell.
»Ich habe den Kanzleirat weder lebend noch tot fortgeschafft,« erwiderte der Maler sehr bestimmt.
Heinz Merling gefiel mir ausgezeichnet. Ich nickte ihm daher verstohlen zu, als wollte ich ihm Mut machen. Doch er schaute gleichgültig, sogar etwas hochmütig über mich hinweg.
Dann entließ der Kommissar ihn. »Halten Sie sich aber jederzeit bereit, mir abermals Rede und Antwort stehen zu müssen. Ich ersuche Sie, vorläufig Palmburg nicht zu verlassen.« –
Als nächste mußte Fräulein Doris Marville vor Märker erscheinen.
Selbst diesem liebreizenden Gesicht gegenüber hatte auch ich sehr bald das bestimmte Gefühl, daß Doris Marville mit der Wahrheit hinterm Berge hielt.
Sie war wohl auch ein sehr selbständiger, zielbewußter Charakter, aber dies in anderer Art als Irmgard von Balting. während bei dieser alles auf temperamentvolles Selbstbewußtsein hinauslief, hatte ich hier die abgeklärteste Ruhe mit einem starken Einschlag von herber Melancholie vor mir. Für mich als Schriftsteller war es ein Genuß, zu beobachten, wie Doris Marville die Angriffe Märkers abwehrte, wie sie auch ihn gewissermaßen bezauberte, obwohl es doch ziemlich klar auf der Hand lag, daß sie die Wahrheit verheimlichen wollte. Am liebsten hätte ich Märker zugerufen: »Geben Sie die Sache auf! Diese junge Dame wird nur sprechen, wenn sie will, nicht, wenn Sie es wünschen!«
Doris Marville war zunächst von Märker gefragt worden, ob sie etwa den Schuß auch gehört hätte.
»Ja und nein,« erwiderte sie. »Ich hörte, da ich mich im Flur unter dem des Kanzleirats befand, ein dumpfes Geräusch, dann auch ein Poltern über mir, als ob ein Möbel umfiel. Ob das erste Geräusch ein Schuß war, kann ich nicht sagen.«
»Was taten Sie in dem Flur?« fragte Märker weiter.
»Ich – ich wollte mir noch ein Schränkchen ansehen, das dort stand,« sagte sie. »Mein Vater hat es verkauft. Ich hänge an jedem einzelnen Stück seiner Sammlung.«
»Nachher, als Herr Malwa die Treppe hinablief, um den Schutzmann zu holen, begegnete er Ihnen aber im Treppenflur,« meinte Märker schnell. »Sie zogen sich bei seinem Anblick in die Wohnung zurück. – Was wollten Sie in dem kalten Treppenhaus?«
»Ich hatte nachgesehen, ob sich Postsachen im Briefkasten befanden. Als ich dann oben Stimmen hörte, wurde ich neugierig, trat etwas vor und lauschte.«
Märker richtete nun ganz unerwartet an den Major die Frage, wann hier in der Vorstadt die Post ausgetragen würde.
»Dreimal: morgens gegen acht, mittags gegen halb zwölf und nachmittags gegen sechs,« erwiderte Herr von Balting-Gattary.
Doris Marvilles Augen blieben von den Wimpern bedeckt. Eine feine Röte glaubte ich jetzt ihre zarten Wangen färben zu sehen. Es war im Zimmer aber schon zu dämmerig, um dies mit voller Sicherheit feststellen zu können.
Märker rief dem Kollegen plötzlich zu, die Gaslampe anzuzünden. Es war dies eine ganz billige sogenannte Lyra mit weißer Glocke.
Das Gas puffte auf, und das gelbliche Licht lag jetzt blendend auf unseren Gesichtern und ließ sie sämtlich etwas fahl erscheinen. – Kommissar Halfner zog die Fenstervorhänge zurück.
»Fräulein Marville,« fragte Märker dann, indem er sie gleichmütig anblickte, »wenn der Briefträger gegen halb zwölf zu kommen pflegt, wird man doch nicht erst um viertel vier nachsehen, ob der Briefkasten etwas enthält?! – Uebrigens, unsere Palmburger Postbeamten sind wohl sämtlich so aufmerksam, kurz zu läuten, wenn sie etwas in den Briefkasten geworfen haben.«
»Das geschieht hier im Hause auch ganz allgemein,« erklärte der Major unaufgefordert.
Märker nickte ihm dankend zu.
»Lassen wir das jetzt –,« meinte er. »Etwas anderes. Herr Malwa hat Sie, Fräulein Marville, am Fenster bemerkt, als er sich an der Gartenpforte umschaute.«
»Allerdings stand ich am Fenster. Ich sagte ja bereits, daß ich vermutete, es müßte sich hier im Hause wieder etwas ereignet haben. Da Herr Malwa es nun so eilig hatte, wollte ich sehen, ob er etwa im bloßen Kopf irgendwohin laufen wollte.«
»Wieder etwas ereignet haben?« fragte Märker schnell und betonte das wieder.
»Ja – weil doch vor etwa zehn Tagen die Hauswirtin sich durch Gas getötet hat.«
»Richtig – ich besinne mich.« Und nach einer kleinen Weile: »Kennen Sie den Maler Heinz Merling persönlich?«
»Wir verkehren mit niemandem hier im Hause.«
»Ich spreche nicht von Verkehr.«
»Herr Merling grüßt mich, und einige Mal haben wir auch wenige Worte gewechselt.«
»Heute auch?«
»Ja. Er kam zu uns, um von meinem Vater sich einen indischen Schal zu leihen, den er wohl für ein Bild brauchte, als Modell –«
»Wann war das?«
»Kurz nachdem ich nach dem Briefkasten gesehen hatte.«
»Das heißt also, er kam vielleicht, als Sie gerade am Fenster standen und Herrn Malwa nachschauten.«
»Ja.«
»Ist Merling schon häufiger bei Ihrem Vater gewesen?«
»Nein.«
»Wie lange blieb er heute?«
»Sehr kurze Zeit. Mein Vater wollte gerade den verkauften, altertümlichen Schrank ein wenig einhüllen.«
»Hatten Sie den Eindruck, daß Merling besonders aufgeregt war?«
»Er ist immer sehr lebhaft, soweit ich dies überhaupt zu beurteilen vermag.«
»Fräulein Marville hat recht,« bestätigte der Major. »Merling ist nervös und voller Temperament. So das, was man quecksilberig nennt.«
Märker schrieb wieder eifrig. Und ich betrachtete Doris Marville, sagte mir, daß ich selten einer so eigenartigen weiblichen Schönheit begegnet wäre wie ihr, bewunderte ihr volles, in breitem Knoten aufgestecktes dunkelblondes Haar und das Profil mit der ganz wenig gekrümmten Nase, den taufrischen Lippen und dem kräftigen Kinnansatz, dachte dann mit stillem Bedauern, daß diese Lippen meiner Ueberzeugung nach soeben die Unwahrheit in vielen Punkten gesprochen hatten und wartete darauf, daß Märker nun wohl den Maler nochmals verhören würde.
Ich täuschte mich. Er fragte Fräulein Marville nur noch, ob sie heute den Kanzleirat gesehen oder gesprochen hätte, worauf ein kurzes, hastiges »Nein« erfolgte. Dann dankte er ihr und entließ sie.
Jetzt wurde Gottlieb Hähnchen geholt.
Märker richtete an ihn eine Menge von Fragen, aus denen folgendes hervorging, – alles für mich als Hauseigentümer recht wichtig:
Meine Tante hatte das Grundstück vor zwanzig Jahren erworben. Damals war der Vater Gottlieb Hähnchens bereits Mieter der einen Erdgeschoßwohnung und der Sohn war dann dem alten Hause treugeblieben. Jedenfalls waren Hähnchens diejenigen Einwohner, die den Besitz noch länger als meine Tante kannten. Der jetzige Schlossermeister Gottlieb hatte denn auch das volle Vertrauen meiner Tante besessen und nebenbei Hausverwalter gespielt, besonders wenn die Eigentümerin verreiste, was ziemlich häufig geschah, da das alte Fräulein nichts so sehr liebte als längere Fußtouren. – Die zweitältesten Mieter waren die Sauerbiers, Erdgeschoß links, mit zehn Jahren. Die übrigen Mieter wohnten durchschnittlich bereits fünf Jahre hier, den Kanzleirat ausgenommen, der erst im Januar eingezogen war, nachdem die Wohnung zwei Monate leer gestanden hatte. – Der biedere Hähnchen konnte es nicht unterlassen, eine Andeutung des Spukes wegen zu machen, so daß es nun mit meiner Absicht, dem Hausgeist ohne Voreingenommenheit gegenüberzutreten, vorbei war, da Märker ganz genau wissen wollte, was es mit dem Spuk auf sich hätte.
Der Meister erzählte, daß schon sein Vater zu ihm von diesen übernatürlichen Dingen gesprochen hätte, als er einmal als Knabe die seltsamen Geräusche nachts gehört und nach deren Ursache gefragt hätte. In der Hauptsache handelte es sich um geheimnisvolle Töne, die sehr schaurig klingen sollten, dann aber auch um eine Gestalt, die – freilich sehr selten – im Gemüsegarten hinter dem Hause sich sehen ließe. Major von Balting war dem Gespenst eines Nachts mal auf den Leib gerückt, um es zu entlarven, da er an einen schlechten Scherz geglaubt hatte, den sich einer der Nachbarn leistete. Die Gestalt wäre aber so schnell und lautlos davongeschwebt und in der Ruine verschwunden, daß der Major die Jagd hätte aufgeben müssen.
Jetzt wollte Märker wissen, welche Ruine Hähnchen meine. – Auch ich spitzte die Ohren. Ruine klingt ja stets etwas geheimnisvoll-poetisch.
»Wenn es noch hell genug wäre, konnten die Herren einen Teil des alten Bauwerks sehen,« meinte der Meister. »Aus den Hinterfenstern der oberen Stockwerke, also auch von hier aus, bemerkt man als Abschluß des Gemüsegartens eine kleine Tannenanpflanzung, durch die der Weg nach der hinteren Gartenpforte und nach der Ruine hindurchführt. Diese gehört mit zum Grundstück. Es ist eigentlich nichts weiter als der Rest eines viereckigen Turmes, von dem nur noch zwei etwa mannshohe sehr dicke Mauern erhalten sind. Alles übrige ist nur ein Schutthaufen, bewachsen mit Dornen, wilden Himbeeren und einigen verkrüppelten Tannen. Aber diese Turmreste, sehen ganz malerisch aus. Man hat sie nicht beseitigt, da dies nur durch Sprengung möglich gewesen wäre. Man erzählt sich hier in der Vorstadt, daß der Turm einst zu einer Außenschanze der Palmburger Befestigungswerke gehört hätte, und zwar aus der Zeit des Deutschen Ritterordens. Daher hat das Gemäuer auch diese Stärke, – fast zwei Meter, wie für die Ewigkeit gebaut.«
Mir fiel es jetzt erst ein, daß ja auch die rechte Außenwand an ein Stück alte Mauer sich anlehnte. Auf meine Frage erwiderte Hähnchen, das hätte schon seine Richtigkeit. Die Mauer stamme sicher auch aus einer früheren Zeit, und vielleicht habe der Baumeister des Hauses sie stehen lassen und die Giebelwand daran angeklebt, weil dort doch gerade die Nordseite sei und man so einen Schutz gegen kalte Winde auf billige Art erzielen konnte. –
Märker äußerte sich auch zu dem Gespensterthema in keiner Weise, machte sich nur wieder kurze Notizen und wollte dann von Hähnchen wissen, ob dieser auch ganz bestimmt unten im Hausflur gut achtgegeben hätte, so daß niemand das Gebäude hätte verlassen können.
Meister Gottlieb lächelte selbstbewußt.
»Ausgeschlossen, Herr Kommissar! Nicht eine Maus wäre unbemerkt an mir vorübergeschlüpft.«
»Haben Sie jemand zurückschicken müssen, der vielleicht sich entfernen wollte?« fragte Märker dann.
»Nein. Nur –«
»Na – nur?«
»Die Sache ist ja kaum von Belang, Herr Kommissar. Der Marville hat nur ein altertümliches Schränkchen weggeschickt.«
Eine Weile blieb es ganz still in dem unfreundlichen Zimmer, das so ärmlich ausgestattet war.
Ich bin gewiß alles andere als für den Detektivberuf begabt, – aber ich glaube, in diesem Moment dachten die beiden Kommissare, die schnell einen Blick ausgetauscht hatten, und ich genau dasselbe.
»So, ein Schränkchen weggeschickt?« begann Märker dann wieder. »Wann war das, Herr Hähnchen?«
Der Meister hatte seine Gedanken offenbar wieder auf anderen Gefilden spazierengeführt, zuckte zusammen und schaute den Beamten etwas blöde an.
Märker mußte seine Frage wiederholen.
Hähnchen entschuldigte sich wegen seiner Zerfahrenheit.
»In diesem Hause muß man Nerven kriegen, weiß Gott!« seufzte er. »Also – wann das war – Nun, vielleicht fünf Minuten später, nachdem Herr Malwa mit dem Schutzmann nach oben gegangen war.«
»Sie sagten, das Schränkchen wäre weggeschickt worden. In welcher Weise geschah dies?«
»Es wurde durch ein Taxameterauto abgeholt. Der Chauffeur ging zu Marvilles nach oben, und der Marville und der Chauffeur trugen das Schränkchen dann ins Auto. Hierbei hielt ich eben den Rentier an und bedeutete ihm, daß niemand das Haus verlassen dürfe. Er erwiderte: »Weshalb denn nicht?« Worauf ich ihn über die Sachlage aufklärte. »Ich helfe ja nur dieses Schränkchen ins Auto bringen und komme sofort zurück,« meinte er. Und so war's auch. – Sonst hat niemand das Haus verlassen wollen.«
Märker winkte seinen Kollegen, der auf einem alten Sofa gesessen hatte, zu sich heran und flüsterte ihm etwas zu. Ich ahnte, welchen Auftrag er ihm gab. Halfner verließ jetzt nämlich das Zimmer und ging sicherlich zu Marvilles hinunter – des Schränkchens wegen, von dem ja auch schon Fräulein Doris gesprochen hatte.
Kaum war Halfner hinaus, als die beiden Geheimschutzleute sich einfanden. Wie sich jetzt herausstellte, hatten sie sämtliche Wohnungen, das ganze Haus vom Dach bis zum Keller, aufs sorgfältigste durchsucht, wobei ihnen noch zwei andere, telephonisch herbeorderte Kriminalbeamte geholfen hatten.
Die doch fraglos mit aller Umsicht und wohl auch Rücksichtslosigkeit gegen die Mieter durchgeführten Nachforschungen nach dem Kanzleirat waren ergebnislos geblieben. Der eine der Geheimen, ein Kriminalwachtmeister, erklärte, der Herr Wehrhut befinde sich weder tot noch lebendig im Hause. Selbst auf dem Dach hätte man gesucht, und in den Kellern sogar die Kartoffel- und Kohlenvorräte durchgeschaufelt.
Ich dachte wieder an das Schränkchen.
Zu meiner Enttäuschung wurden wir, Hähnchen, der Major und ich jetzt höflich weggeschickt.
Märker hielt es nicht für nötig, mir als dem Hausbesitzer gegenüber auch nur ein Wort darüber fallen zu lassen, was er weiter tun wollte, oder was er von dem seltsamen Verbrechen dächte.