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Am nächsten Morgen gegen neun Uhr erschien ein Mann, der den Hauswirt der Gasleitungen wegen zu sprechen wünschte.
Meister Hähnchen brachte ihn zu uns herauf. Wir saßen gerade beim Frühstück.
»Die Gasmesser sollen in Unordnung sein, Herr Malwa,« erklärte Gottlieb Hähnchen.
»Ich werde selbst mit dem Kontrolleur die Wohnungen besuchen,« meinte ich freundlich. »Lassen Sie sich ja in Ihrer Arbeit nicht stören.«
Der Kontrolleur saß nachher mit bei uns am Kaffeetisch. Er hatte mit Märker nicht die geringste Aehnlichkeit. Selbst die von scharfen Getränken rauhe Stimme verdiente Anerkennung.
»Beeilen wir uns,« meinte der Kommissar und reichte Hosea ein flaches Paket. »Hier sind zunächst die Strafakten Percy Marville. Ich habe sie selbst noch durchgeblättert, aber nichts gefunden, was irgendwie mit den jetzigen Ereignissen in Zusammenhang zu stehen scheint.«
»Wollen sehen. Danke jedenfalls,« erwiderte der Menümaler. »Haben Sie etwas von Wehrhut entdeckt?«
»Nein. Sowohl er als auch Herbst sind spurlos verschwunden – spurlos! Nur: auf eine telegraphische Anfrage bei der Münchener Kunsthandlung ist gestern abend der Bescheid eingetroffen, daß man dort keinen Aufkäufer namens Herbst kennt.«
»Natürlich nicht!« sagte Hosea achselzuckend und seine Vorderhauer zeigend. »Was gedenken Sie nun mit Marville und Merling zu tun?«
»Wozu raten Sie? – Es liegt kaum noch ein Grund vor, die Verhaftung aufrecht zu erhalten. Höchstens der Blutfleck an des Malers Oberärmel.«
»Nur ein Beweis, daß Wehrhut doch noch recht schwach auf den Beinen war, als er zu Marvilles hinabging, und daß Merling ihn gestützt hat, wobei der Fleck entstanden ist.«
»Und der andere Mord, der Raubmord? – Marville hat doch fraglos den Blitzableiter zum Eindringen in diese Wohnung hier benutzt. Die runden Gummistempel beweisen das. Auf faulen Pfaden ist er also doch zweifellos mal gewandelt.«
»Sagen wir ›auf heimlichen Pfaden‹. – Ich rate, die beiden Herren noch zu belassen, wo sie sind. Auch Fräulein Marville wünscht das.« Und er erzählte, was ich gestern bei Schellhorn und dann bei Doris erlebt hatte.
Märker schüttelte den Kopf. »Fräulein Marville und der neue Mieter so vertraut? – Ja, was heißt denn das wieder?!« Er war ganz ratlos.
»Wird sich schon noch aufklären. – Sie wollten doch aber noch der Einbruchsdiebstähle wegen mir etwas mitteilen?«
»Ja. – Berliner Geldschrankknacker, und zwar offenbar erstklassige Spezialisten dieser Art haben Palmburg schon häufiger einen Besuch abgestattet, ebenso auch anderen Städten der Provinz. Das geht schon seit Jahren so. Wir sind hinter diesen unwillkommenen Gästen aufs eifrigste her gewesen, – stets ohne Erfolg. Nur scheint bei manchen dieser Raubzüge eine Frau mitbeteiligt gewesen zu sein. Wir haben hin und wieder am Tatort Frauenhaare aufgefunden, lange rostbraune Härchen, einzeln, auch mehrere, – jetzt wieder! – Ist das nicht merkwürdig?«
»Vielleicht eine absichtliche Irreführung –«
»Die näheren Umstände sprechen dagegen. – Wir haben diese Tatsache auch nach Berlin berichtet. Die dortige Kriminalpolizei, die doch von einem weiblichen Geldschrankspezialisten fraglos schon gehört hätte, antwortete verneinend: »Hier nichts bekannt.« – Wollen Sie mich nicht mal auf dem Präsidium besuchen, Herr Garblig. Ich möchte Ihnen gern das Ermittlungsmaterial über diese Einbrüche vorlegen.«
»Sehr gern. – Weshalb haben Sie mir eigentlich nichts von der »Nichte« bei Sauerbiers gesagt?«
»Haben Sie etwa keine Heimlichkeiten vor mir? – Uebrigens geschah es auf Helmbachs Wunsch hin. Ich halte sehr viel von ihm.«
»Hat die Agentin etwas festgestellt?«
»Nichts – leider! Sie ist ja auch erst so kurze Zeit im Hause gewesen. – Sie haben ja sehr bald gemerkt, was hinter »Fräulein Helmbach« steckte, Herr Garblig!«
Märker verabschiedete sich gleich darauf. »Wir werden jetzt wenigstens zum Schein noch die übrigen Wohnungen besuchen müssen, Herr Malwa,« sagte er noch zu mir.
Wir gingen. Borwin aber fuhr nach Palmburg, um für Hosea die Einkäufe zu erledigen.
Als ich wieder nach oben kam, saß der Menümaler am Schreibtisch im Wohnzimmer und hatte jenen Brief in der Hand, den Wehrhut damals an den Auktionator Levisohn geschrieben hatte, den Brief, der morgens geschrieben sein sollte und doch erst am anderen Morgen Levisohn erreichte. Auf der Schreibtischplatte aber lag die schriftliche Erklärung Doktor Schellhorns.
Inzwischen war es zehn Uhr geworden, wir hatten uns für den Vormittag mit den Damen verabredet, und es war Zeit, uns sportmäßig anzuziehen. Vorher aber erklärte Hosea noch:
»Ich gehe heute abend ins Palmburger Schauspielhaus. Es gibt Hauptmanns Diebskomödie »Der Biberpelz«. Leider habe ich für Euch beide keine Billets mehr bekommen können.«
Ich war überrascht. – Hosea wollte ins Theater! Dahinter steckte wieder etwas. Aber – zu fragen wagte ich nicht! –
Gegen elf erschien der dichtende Kommißbock auf der Rodelbahn. Ich wurde also »sechstes Rad am Wagen«, schützte Geschäftsbriefe vor und wanderte nach Hause.
Unterwegs überlegte ich mir mancherlei. – Um mich herum war's so friedlich, so still, so winterlich-schön. Ich hatte absichtlich einen weiten Bogen gemacht, der mich schließlich dorthin führte, wo wir, Hosea und ich, damals von dem Feldweg auf den festgetretenen Fußpfad gelangt waren.
Allerlei überlegte ich mir –
Ich hatte Hosea heute sehr genau beobachtet. Er war zart und aufmerksam zu Lore wie zu einem geliebten Schwesterlein. Seine Stimme war weich, wenn er zu ihr sprach, seine Augen schienen das blühende, lebensprühende, reizende Geschöpf zu streicheln –
Sollte Hosea etwa hier sein Herz verloren haben?! – Undenkbar! Ich kannte seine Ansichten über die Frauen. Trotz seiner 28 Jahre war er bereits Junggeselle aus Ueberzeugung.
Ich wurde wieder einmal nicht klug aus ihm. Er gab den Menschen ja ständig Rätsel auf –
Und Irmgard von Balting, die es doch anfänglich offenbar auf den »reichen« Maler Hosea Garblig abgesehen gehabt hatte?! – Nun, diese »Leidenschaft« war sofort verraucht, als Borwin von Bock-Palluck auftauchte, Oberleutnant, Freiherr und Millionär.
Aber – Irmgard, dieser seelenlose Schmetterling, der Merling so schnell davongeflattert war, als die ersten rauhen Winde diese Liebe – nein, nicht Liebe – diese Verstandesspekulation trafen, hatte bei unserem lieben Kommißbock wenig Glück.
Der fühlte sich mehr zu Asta hingezogen. Vielleicht, weil sie schriftstellerte, weil sie für seine Gedichte und Novellen, die er im Selbstverlag mit einigen zehntausend Mark Unkosten hatte erscheinen lassen und die nun in den Kaufhäusern in den Kisten: »Jedes Buch nur 90 Pfennig« verkauft wurden, sofort das größte Interesse gezeigt hatte und er mit ihr über seine weiteren schöpferischen Absichten sprechen konnte –
Ich stutzte plötzlich. Ich stand an jener Stelle, wo mich Hosea damals auf den festgetretenen, schmalen Pfad aufmerksam gemacht hatte.
Der Pfad! – Ihn waren die sechs Männer entlanggekommen, die Hosea damals in jener Nacht beobachtet und verfolgt hatte –
Damals hatte es geschneit – die ganze Nacht durch. Bruchstücks Futterplatz für seine gefiederten Lieblinge war verschwunden gewesen, verschwunden waren alle Fußtapfen im Schnee, – alles hatte eine glatte, weiße, reine Fläche gebildet –
Also hätte auch der Pfad im Schnee begraben sein müssen, – noch heute, – wenn eben nicht dieselben Leute schon wieder des öfteren denselben Weg hin und zurück gemacht hatten –
Der Pfad war da. Nicht der frühere. Nicht so festgestampft von schweren, häufigen Schritten. Ein neuer war's, der etwa in derselben Richtung verlief –
Bald stand ich auf jener Anhöhe, von der aus ich meinen Besitz und die Umgebung überblicken konnte.
In den Trümmern der Ruine bemerkte ich zwei Gestalten –
Ich habe sehr gute Augen – sehr gute –
Es waren Hähnchen und – Doris –
Ich begann zu traben. Natürlich nur, weil ich warm werden wollte. – Sehr bald konnte ich Doris dann begrüßen, auch Meister Gottlieb, der sich zum Glück sofort verabschiedete und in seine Werkstatt ging. Wir beide aber hatten so allerlei zu besprechen. Ich wollte gern von Doris selbst hören, weshalb ihr Vater damals verurteilt worden war. Mit aller Zartheit berührte ich das heikle Thema. Sie war sofort bereit, mir jene Vorfälle zu schildern.
»Die unselige Geschichte ist bald erzählt,« begann sie ohne Scheu. »Im Provinzialmuseum in Palmburg werden in einem kleinen Raume wertvolle, hier in der Provinz gemachte antike Goldfunde – Spangen, Ringe, Haarpfeile und anderes, aufbewahrt. Als wir noch in Palmburg wohnten, wo mein Vater eine Kunsthandlung besaß, pflegte er sehr häufig das Museum zu besuchen. Er arbeitete damals an einem Werke über altgermanische Waffenschmiedekunst. – Eines Nachmittags wurde mein Vater dann verhaftet, und zwar unter der Beschuldigung, am Vormittag aus dem sogenannten Goldzimmer durch Zertrümmern der dicken Glasscheibe eines der Kästen antiken Schmuck im Werte von einigen tausend Mark entwendet zu haben. Später bekundeten dann zwei Zeugen, Handwerker, die außen am Fenster des Goldzimmers eine Reparatur vorgenommen hatten, daß sie beobachtet hätten, wie mein Vater den Diebstahl begangen hätte. Sie beschworen dies auch in der Hauptverhandlung. Außerdem wurde mein Vater aber noch dadurch schwer belastet, daß bei einer Haussuchung bei uns in einer großen Vase versteckt zwei der geraubten Goldringe aufgefunden worden waren, die natürlich nur absichtlich von dem wirklichen Diebe oder einem Helfershelfer dort hingelegt sein konnten. – Das ist der Sachverhalt. – Trotz seines tadellosen Rufes und trotz seiner angesehenen Stellung wurde mein Vater auf jene sogenannten Beweise hin verurteilt, wobei die Richter ihm sein hartnäckiges Leugnen so sehr verargt haben, daß die Strafe recht hoch ausfiel. Die Strafkammer, vor der der Prozeß stattfand, nahm an, daß mein Vater in blinder Sammlergier zum Diebe geworden wäre. – Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis kannten wir beide, Vater und ich – meine Mutter starb aus Gram über dieses Verhängnis! – nur ein Ziel: den wahren Schuldigen zu ermitteln. – Aber das hielt schwer, sehr schwer. Und nun wohnen wir bereits fünf Jahre hier im Spukhause; die Menschen weichen uns aus; wir leben nur für uns. – Einzig und allein Ihre Tante, Herr Malwa, hat nie an der Schuldlosigkeit meines Vaters gezweifelt. Ich vermisse sie sehr. Sie war mir eine aufrichtige mütterliche Freundin.«
»Das höre ich gern, gnädiges Fräulein, sehr gern!«
»Sie hat auch hin und wieder von Ihnen gesprochen, Herr Malma. Ich kenne auch das Zerwürfnis, das zwischen Ihren Eltern und Fräulein Löckner bestand. Selbst das weiß ich, daß Herr Garblig einmal Ihre Tante besucht hat.«
»So – auch das?! Nun, der arme Hosea hat damals wohl sehr vagabundenmäßig ausgesehen. Ihm fehlte das Reisegeld, und er fuhr als Viehtreiber im Güterzuge nach Palmburg.«
»Hat er Ihnen das erzählt?«
Ich wurde aufmerksam.
»Allerdings. Meinen Sie, daß er etwa wieder mal aus irgendeinem Grunde geflunkert hat –?«
Sie schaute zur Seite.
»Ersparen Sie mir die Antwort, bitte – Jedenfalls war er hier und hat an Ihnen als wahrer Freund gehandelt, – leider nichts erreicht. Ihre Tante sprach mit mir darüber ganz offen.«
Wir machten jetzt kehrt.
Ich war schweigsam geworden. Bei dieser Geschichte, dieser Reise Hoseas nach Palmburg zur Tante Hermine stimmte wieder etwas nicht. Aber was –?!
Mit freundlichem Lächeln verabschiedete Doris sich dann vor dem Hause von mir.