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An einem Frühjahrsmorgen des Jahres 1995 fuhr Arnold Woolf von seinem Laboratorium oben auf dem Friedenshügel in die Ebene hinunter. Er fuhr sehr langsam und bedacht und hielt oft an, um über die Landschaft zu schauen. Aber er sah sie garnicht. Seine Augen waren nach innen gerichtet. Er sprach mit sich selber und hielt immer wieder einen Zeigefinger nachdrücklich und belehrend vor sich hin. Er war ersichtlich mit irgend etwas unzufrieden. Ihn beschäftigten Gedanken, die er nicht ordnen konnte, und er hatte zu dem alten, bewährten Mittel gegriffen, das ihm so oft geholfen hatte: dem Laboratorium den Rücken zu kehren und ohne Plan in das Land hineinzufahren.
Er wiederholte heute die Erfahrung, die er schon so oft gemacht hatte: das Land war stärker als er. Für kurze Zeit konnte er sich mit seinen Gedanken und seinem Nachdenken dagegen behaupten. Dann strich ihm der Hangwind ins Gesicht, die Sonne fuhr ihm über die Augen, die Farben von Wolken und Bäumen und Feldern füllten seinen Blick aus, und er begann langsam nachzugeben, sich auszuliefern, sich zu entspannen, bis sich die Furchen auf seiner Stirne glätteten und alles, was ihn bedrängte, ruhevoll vergessen war. Irgendwo oben auf dem Friedenshügel lag das Laboratorium, dem er den besten Teil seiner Kraft geopfert hatte. Jetzt atmete er auf, als habe das Land ihn von der nie aussetzenden Arbeit erlöst.
Der Weg vom Friedenshügel wand sich in langsam abfallenden Spiralen bis zu den Dörfern an seinem Fuße. Aber an jeder Wegbiegung verschwanden diese Dörfer dem Blick und es enthüllte sich ein völlig anderer Ausschnitt der Landschaft. Zum Osten hin war besiedelte Landschaft, dicht angefüllt mit Dörfern, bebauten Feldern und Gärten und Wegen. Aber zum Westen hin entfaltete sich eine völlig entgegengesetzte Landschaft, eine, die seit einem halben Jahrhundert von keinem Menschen betreten und von keiner Menschenhand bearbeitet war. Hier hatte man der Natur freies Spiel gelassen. Man zahlte ihr ein wenig von dem zurück, was die Technik des Menschen an ihr gesündigt hatte. Alle Wege waren zerstört worden, alle Zugänge vernachlässigt, und ein strenges Verbot hielt alles fern, was die Pflanzungen beschädigen oder die Tiere stören könnte. Darum nannte man diese Landschaft im Volksmunde die Paradiesheide.
Arnold Woolf liebte diese Landschaft, die er nie betreten hatte, mehr als die kleinen gepflegten Dörfer jenseits. Sie rochen ihm zu sehr nach Fleiß und Emsigkeit und mühsamer Zivilisation. Und er empfand der Zivilisation seiner Zeit gegenüber immer ein leises Mißtrauen. Zwar arbeitete er selber mit daran, sie durch zahllose Erfindungen zu vertiefen, aber er wußte doch, daß diese Zivilisation des 20. Jahrhunderts ein ungebändigtes Tier war. Er hatte es in seiner Kindheit selber erlebt, wie sie ausbrach. Er war als junger Mensch in jene Zeit des Wahnsinns hineingewachsen, da der große Krieg in seinen letzten Zuckungen lag und mit bösartigem Beharren nach einen Stück Erdoberfläche suchte, das er noch nicht zerstört und zerfetzt und mit in den allgemeinen Abgrund hineingezogen hatte. Er hatte in seiner frühesten Jugend zu jenem Kreis der Revolutionäre gehört, der sich über den ganzen Erdball spannte und der sich ein unerbittliches Ziel gesteckt hatte: den Terror in die Reihen der Führer und Diktatoren und Kriegsherren und Wahnsinnigen des Völkerhasses zu tragen, bis sie aus panischer Angst um ihr nacktes Leben sich vom Schauplatz des Geschehens zurückzogen. Er hatte erlebt, wie unter den Schlägen und Streichen dieser jungen Revolutionäre die Kriegslust jäh zusammenbrach und die Völker wie aus einem Albdruck aufwachten, um rückschauend das Entsetzen wahrzunehmen, das sie angerichtet hatten.
Er war auch mit unter den tausend Studenten gewesen, die das große Zelt bewachten, das man an der Stelle des zerstörten Völkerbunds-Palastes aufgerichtet hatte. In dieses Zelt hatte man die Delegierten aller Völker zusammengetrieben, damit sie die Grundlagen des Friedens für die Welt festsetzten und in eine bindende Form brächten. Und die Delegierten wußten, daß sie zerniert und isoliert waren, daß sie keine Verbindung mit der Außenwelt hatten, nicht durch Telefon und nicht durch Radio. Sie wußten, daß sie sich nicht auf Kommissionen stützen konnten, um die Verhandlungen zu verschleppen; daß sie nicht Rückfrage halten konnten, um den Abschluß zu sabotieren. Sie wußten noch mehr: daß sie dieses große Zelt nicht lebend verlassen würden, wenn es ihnen nicht gelang, in zehn Tagen zu einem Einverständnis zu kommen. Sie wußten: tausend junge Menschen, jeder eine Waffe in der Hand, standen als Boten der Völker rings um das Zelt ...
Arnold Woolf hatte dann sein Stadium in jener Zeit beendet, in der ein wahres Fieber des Aufbaus und der Organisation und der Neuordnung die Völker ergriffen hatte. Der alte Lehrsatz, daß nach einem Kriege eine Generation ohne Ideale und ohne Halt und ohne Bindung heranwachse, schien sich nicht zu bestätigen. Woolf war überzeugt, es sei nach der anderen Seite ausgeschlagen. Er sah sich umgeben von einer Schar junger Menschen, die alle nach Bildung und Wissen hungrig waren. Alle wollten irgend etwas leisten und zum Wohl der Welt beitragen. Der Typus des Menschen, der nur durch Aussicht auf Gewinn zu Leistungen angespornt wird, schien im Aussterben begriffen. Es war eine sehr starke Tendenz nach einem einfachen und anspruchslosen Leben vorhanden, und in den kleinen Dörfern, die am Fuße des Friedenshügels lagen, wohnten durchaus nicht nur Bauern. Viele waren Gelehrte, Kaufleute, Beamte. Sie waren alle Gegner der Stadt mit ihrem mechanischen Hang zum Luxus und zur Mechanisierung der Kultur.
Arnold Woolf fuhr diesen Dörfern entgegen. Da die Paradiesheide ihrer Ausbreitung eine Grenze setzte, zogen sie sich in langen Schleifen bis zum Fluß hin. Aber sie griffen über den Fluß nicht hinaus, Jenseits des Flusses begann die Getreidezone des Landes, unabsehbare Flächen von grünen Wogen, in denen, weit verteilt über das Gelände, in regelmäßigen Abständen Schuppen und Getreidespeicher standen. Aber diesseits des Flusses, hinter Deichen geborgen, lag eine Reihe kleiner Siedlungen, in denen Fachleute und Liebhaber Fischzucht betrieben. Kleine schimmernde Teiche reihten sich wie Spiegel aneinander.
Woolf fuhr in diese Siedlungen hinein. Gleich in der ersten Dorfstraße sah er hinter einer Gartenhecke einen alten Mann mit wallendem Bart stehen. Das war Adam, sein Freund aus der frühesten Kindheit her. Woolf schwenkte vergnügt die Hand: »Grüß dich Gott, Poseidon!« Aber Adam schien durchaus nicht zum Scherzen aufgelegt. Er winkte ihm mit aufgeregten und verstohlenen Gebärden und legte den Finger auf den Mund, als dürfe kein lautes Wort gesagt werden. Woolf bremste den Wagen dicht neben der Hecke und beugte sich verwundert vor. »Was gibt es denn?« fragte er leise.
»Komm einen Augenblick herein« flüsterte Adam. »Ich muß dir etwas zeigen.«
Er führte ihn durch den Garten zu einem hölzernen Schuppen, der neben seinen Fischteichen lag. Er schloß die Türe sorgfältig hinter ihnen ab. Dann holte er einen Eimer, der mit einem Sack bedeckt war, unter dem Tisch hervor. In dem Eimer lag ein großer Karpfen. Adam holte ihn vorsichtig mit einer Holzkelle heraus und warf in auf den Tisch. »Da, schau dir das Biest an. Das ist schon der dritte in dieser Woche. Aber faß ihn nicht an. Ich glaube, es ist eine Pest unter den Fischen ausgebrochen. Und sag um Gotteswillen niemandem etwas davon. Ich will nichts mit dem Gesundheitsamt zu tun haben.«
Arnold Woolf beugte sich über den Fisch. Er lebte noch, aber sein Körper schien merkwürdig uneben und rauh. Die Schuppen lagen nicht glatt an, sondern schienen gekräuselt und verkümmert. Als er mit einem Stückchen Holz vorsichtig die Kiemen öffnete, sah er, daß die Innenseite nicht frisch und rot war, sondern grau und merkwürdig verquollen. Die Kiemenspalten schienen zu einer formlosen Masse erweitert und verwuchert.
Woolf schüttelte den Kopf. »So etwas habe ich noch nicht gesehen. Das ist keine Pest, Adam. Das scheint mir eine Vergiftung zu sein. Wir werden einmal deinen Brunnen untersuchen.«
»Das hat nichts mit dem Brunnen zu tun« sagte Adam. »Aus dem Brunnen nehme ich schon lange kein Wasser mehr. Ich leite es aus dem Fluß in die Teiche.«
Woolf ereiferte sich. »Wie kannst du nur so leichtsinnig sein!! Du weißt doch, wieviel Abwässer in den Fluß gehen. Das muß doch die Fische vergiften!«
Adam verteidigte sich. »Ich benutze ja deinen Filter. Den Filter, den du selber erfunden hast. Der kann doch nichts Giftiges durchlassen, nicht wahr? Und es blieb mir keine andere Wahl. Der Brunnen gab immer weniger Wasser her. Es ist, als ob es über Nacht weggesickert wäre. Auch die anderen klagen, daß der Wasserstand in den Brunnen fällt. Also muß ich Flußwasser nehmen.«
Woolf sprach leise vor sich hin. »Wenn das Brunnenwasser wegsickert, dann muß doch drinnen in der Erde etwas geschehen sein, nicht wahr? Das Wasser muß irgendwo abfließen. Und mein Filter läßt nichts durch, nicht einmal Dinge, die kein Mikroskop sehen kann. Es kann nur eines durchlassen: Gas!«
Adam hob die schweren, weißen Augenbrauen. »Wie kommt Gas in das Flußwasser? Was hat Gas im Fluß zu suchen?«
»Das eben werde ich untersuchen« sagte Woolf. »Hol mir eine Flasche Wasser aus deinem Teich. Und verkorke sie unter Wasser.«
Während Adam zum Teich ging, beugte sich Woolf noch einmal über den Fisch. Das Tier, das bislang ruhig auf dem Tisch gelegen hatte, begann plötzlich hart und zuckend mit dem Schwanz zu schlagen. Es waren nur wenige Sekunden. Dann lag es wieder still da. Woolf berührte es mit dem Stück Holz. Seltsam: jede Elastizität war aus dem kleinen Körper entwichen. Er fühlte sich an wie eine starre, harte Masse. Er wandte ihn um. Er fiel auf die Seite mit dem Geräusch eines Steines. Woolf wollte ihm noch einmal die Kiemen öffnen. Aber es gelang ihm nicht. Sie waren unnachgibig wie kleine Stahlplatten. Es war, als hätte sich der Körper im Augenblick seines Todes in eine starre, anorganische Masse verwandelt. Es lag etwas Unheimliches in dieser plötzlichen Verwandlung.
Adam kam mit der Flasche zurück. »Was hältst du davon« sagte er, »wenn ich etwas Siegellack über den Korken gieße? Wenn wirklich Gas drin ist, könnte es ja auch durch den Korken entweichen.«
»Gut. Sehr gut« sagte Woolf. »Und den Fisch gib mir auch mit.«
Adam griff nach dem Fisch. Plötzlich ließ er ihn fallen, spreizte die Hände und wich zurück. Sein Gesicht drückte Staunen und Furcht aus. »Woolf, was ist das? Das ist ja ... ein Stein! Woolf, da ist etwas geschehen!«
Woolf legte die Hand auf den Mund. »Schweig! Schweig und sag keiner Menschenseele etwas, bis du wieder von mir hörst. Um Gotteswillen, schweig!«
Adam flüsterte: »Du vermutest etwas?« Aber Woolf gab ihm keine Antwort. Die Flasche in der einen Hand und den versteinerten Kadaver in der anderen ging er durch den Garten, sprang in seinen Wagen und fuhr davon. Er fuhr ohne Gefühl für die Richtung und ohne die Wege zu sehen. In ihm arbeitete der Motor der Gedanken in einem wilden Rhythmus. Er sah nicht, wie die Menschen ihm von den Häusern aus nachstarrten. Er spürte nicht, daß er immer wieder im Kreise durch die gleichen Ortschaften fuhr. Irgend jemand rief ihn an, aber er nahm es nicht zur Kenntnis. Alle seine Sinne konzentrierten sich auf die eine Frage: das Gas, das Gas!
Dann, an einer Wegbiegung, hörte er einen Schrei, der die Kette seiner Gedanken durchbrach. Er schaute auf. Ein Mann lief neben seinem Wagen her, atemlos, vorgebeugt, ohne Hut, mit Haar, das ihm feucht auf der Stirne klebte. Er schrie noch einmal, so laut, so erregt, so schreckerfüllt, daß es Woolf kalt über den Rücken lief. Er bremste den Wagen. Da erkannte er Persing, den jungen Arzt. Er sah erschreckend aus. »Mann, was ist mit Ihnen?« rief Woolf.
Dr. Persing hielt sich am Wagen fest, die Augen halb geschlossen, keuchend. »Ich suche den ganzen Morgen nach Ihnen. Sie müssen mir helfen, Woolf. Ich habe die ganze Nacht um zwei Menschenleben gekämpft, um das Leben von Kindern. Jetzt bin ich am Ende. Wenn Sie mir nicht helfen ...«
Woolf zog ihn in den Wagen. »Erzählen Sie ganz ruhig, was geschehen ist. Vielleicht findet sich noch ein Rat.«
Dr. Persing stützte den Kopf in die Hand. »Sie kennen Owen, den Geologen? Er hat zwei Jungen, Zwillinge. Gestern Abend hat er zu mir geschickt. Die Kinder sind krank. Seit zwei Tagen schon ...«
»Warum hat er nicht früher geschickt?«
»Das habe ich auch gefragt. Er hatte Angst. Die Kinder haben etwas Verbotenes getan. Sie sind in die Paradiesheide eingedrungen.«
»Was hat die Krankheit mit der Paradiesheide zu tun?« fragte Woolf verwundert.
»Das eben weiß ich nicht« sagte Persing verzweifelt. »Aber es muß ein Zusammenhang bestehen. Ich habe die Kinder gefragt, ob sie dort etwas gegessen haben. Nein, nichts. Ob ein Tier sie gestochen oder gebissen hat. Nein, auch nicht. Sie haben dort nur gespielt. Irgendwo haben sie ein dickes Rohr aus dem Boden herausragen sehen, fast wie ein Brunnenrohr. Da haben sie Echo gespielt. Sie haben hineingerufen, und dann haben sie gelacht, wenn das Echo zurückkam. Wie sie hineingingen, war ihnen beiden schwindlig. Sie torkelten, und auch darüber haben sie gelacht. Abends haben sie nichts essen mögen. Am anderen Morgen sahen sie aus wie gedunsen. Die Zunge ist dick, die Nasenschleimhäute sind schwammartig aufgequollen, die Mandeln liegen dick und hart wie Steine ...«
Woolf fuhr auf. »Wie Steine, sagen Sie? Ich muß die Kinder sofort sehen, sofort.« Er gab Vollgas und fuhr wie ein Sturm durch die Straßen.
Owen wartete schon in der offenen Haustüre. Er wies mit einer müden Handbewegung in das Haus hinein. »Da, schauen Sie sich an, was die Natur aus ihren eigenen Geschöpfen macht ...«
Das Bild, das Woolf entgegentrat, ließ ihn fast erstarren. Da lagen zwei unförmige Bündel menschenähnlicher Wesen, wie von einer Elephantiasis aufgetrieben. Sie atmeten leise und röchelnd. Woolf hielt minutenlang die Hand über die Augen und ließ seine Gedanken arbeiteten. Dann lief er zum Telefon und rief das Laboratorium auf dem Friedenshügel an. Seine Stimme war barsch und befehlend, jene gefürchtete Stimme, mit der er Assistenten, die keine wirkliche Leistung aufzuweisen hatten, aus dem Laboratorium entfernte. »Sofort zwei Flaschen Heliumgas in die Villa von Owen schicken! Den schnellsten Wagen nehmen!« Dann ging er wieder zu den Kindern zurück und prägte sich das Bild dieser leidenden Kreaturen unvergeßlich ein.
Persing näherte sich zögernd. »Sie wissen, was es ist?« – Woolf schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich habe eine Vermutung.« Und wie für sich selbst, mit halber Stimme, setzte er hinzu: »... eine böse Vermutung.«
Zwei Stunden pumpten sie aus den großen roten Bällen Heliumgas in die Atmungsorgane der Kinder. Dann wurden die reglosen Glieder lockerer, das graugedunsene Aussehen wurde leblafter, durchbluteter, und die Schwellung schien nachzulassen.
Woolf trat aufatmend zurück. Owen packte seine Hände, aber er entzog sie ihm. »Das war nur ein Versuch. Ich kann noch nichts versprechen. Ich taste noch ... im Ungewissen. Ich werde jetzt gehen. Persing soll mich anrufen, wenn irgend eine Veränderung eintritt. Es ist jetzt zehn Uhr. Bis drei Uhr erreichen Sie mich im Laboratorium. Von drei bis acht Uhr machen Sie keinen Versuch, mich anzurufen. Ich werde dann nicht da sein. Abends erreichen Sie mich bei der Sitzung der Kommission für Erfindungen.«
Dann fuhr er zum Friedenshügel zurück. Sein privates Laboratorium lag von den anderen Gebäuden abgesondert. Es war durch einen gedeckten Gang mit seiner Wohnung verbunden. Er nahm sich nicht erst die Zeit, seinen Wagen in die Garage zu bringen. Er ließ ihn am Anfang des gedeckten Ganges stehen, schwang sich durch einen der offenen Gewölbebogen in den Gang hinein und ging auf die eiserne Türe zu, die sein Laboratorium gegen die Außenwelt abschloß. Zu diesem Raum gab es nur zwei Schlüssel. Den einen hatte er, den zweiten hatte Shellhammer, der begabteste seiner Schüler, derjenige, in dem alle seinen dereinstigen Nachfolger sahen und der sein unbegrenztes Vertrauen besaß. Er war sein ständiger Mitarbeiter bei all den umwälzenden Erfindungen, durch die Woolf sich in der Welt einen Namen gemacht hatte.
Als Woolf vor der Türe stand, zögerte er einen Augenblick. In der einen Hand trug er die versiegelte Flasche, in der anderen den Fisch. Er wußte noch nicht, welches Geheimnis die Untersuchung enthüllen würde, aber seine Ahnung war dunkler und unheimlicher als je. Vielleicht war es nicht gut, irgend einen Dritten, nicht einmal Shellhammer, einzuweihen. Ob Shellhammer im Laboratorium war? Von einer plötzlichen, übermäßigen Vorsicht getrieben, stieg er wieder in den Hof und ging unhörbar leise an eines der vergitterten Fenster heran. Er duckte sich und spähte durch die Scheibe. Der Raum war leer. Nein! In der äußersten Ecke, wo sein Schreibtisch stand, bewegte sich ein weißer Flecken. Er sah schärfer hin. Da stand ein Mann über den Tisch gebeugt. Er hatte ein blankes Werkzeug in der Hand und machte sich am Schloß des Schreibtisches zu schaffen, an jenem Tisch, in dessen Auszügen alle geheimen Aufzeichnungen lagen, die Woolf sich über seine Experimente und Pläne machte. Wer war der Mann? Die schmalen, gesenkten Schultern verrieten ihn: Shellhammer.
Woolf nickte vor sich hin. Diese Entdeckung gehörte in den Kreis der dunklen Ahnungen hinein, die ihn bedrückten. Er schlich sich wieder in den Gang zurück und näherte sich jetzt mit lauten, hallenden Schritten der Türe.
Als er eintrat, stand Shellhammer an einem Mikroskop und war in den Anblick von irgend etwas versunken. Er war totenbleich und seine Hand an der Schraube zitterte. Er sah auf, als habe seinen Meister noch nicht zurück erwartet. Mit einem höflichen Lächeln sagte er: »Ich habe gedacht ...«
Seine Haltung, seine Gebärde, sein Lächeln zerrissen plötzlich einen Schleier vor Woolfs Augen, und er sah etwas mit der Schärfe einer Vision. Er schnitt ihm mit einer schroffen Handgebärde das Wort ab. Er ging zu seinem Schreibtisch und beugte sich darüber. An dem Patentschloß sah er deutlich Spuren eines scharfen Instruments. Er wandte sich zu Shellhammer mit einer harten, eiskalten Stimme. »Ich habe auch gedacht. Ich habe nämlich gedacht: was bezahlt man dem Shellhammer eigentlich dafür, daß er seinen Freund und Lehrer verrät und verkauft?«
Shellhammer wich zurück. Er klammerte sich an den Tisch und bemühte sich, zu sprechen. Aber von den harten Augen, die auf ihn gerichtet waren, war er wie gelähmt. Die Stimme hämmerte weiter auf ihn ein. »Bekommen Sie Geld dafür? Oder hat man Ihnen versprochen, daß Sie mein Nachfolger werden sollen? Zu solcher Nachfolge, mein lieber Shellhammer, braucht man viel geistige Selbständigkeit. Daß man sich an die Notizen anderer Leute heranmacht, genügt nicht. Aber hören Sie zu, Shellhammer: da ich Sie nun einmal so weit gebracht habe, wie Sie heute sind, will ich weiter für Sie sorgen. Geben Sie mir den Schlüssel heraus. Ich will Sie davor bewahren, daß Sie ein kleiner Dieb werden. Man kann nämlich nicht Gelehrter sein ... und zugleich ... ein Lump!«
Mit steifen, abgemessenen Bewegungen zog Shellhammer einen Schlüssel aus dem weißen Kittel und warf ihn auf den Tisch. »Sie werden noch Gelegenheit haben, Ihre Worte zu bereuen.«
Woolf antwortete nicht. Er wies nur mit der Hand auf die Türe. Dann sperrte er hinter Shellhammer ab und machte sich an seine Arbeit. Der steinerne Fisch lag auf dem Tisch und sah ihn aus kalten, höhnischen Augen an. Woolf nickte ihm zu. »Ich werde dir dein Geheimnis schon entreißen« knurrte er vor sich hin. »Wir wollen uns nur erst mal dein Element näher anschauen.«
Er hielt die Flasche gegen das Licht. Das Wasser war ziemlich klar. Es hatte nur eine ganz leichte Trübung. Aber die konnte auch von irgend einer mechanischen Unreinheit kommen. Er nahm einen Korkzieher, um die Flasche zu öffnen. Als er gegen das Siegellack schlug, um es abzuklopfen, gab es einen merkwürdig hellen Ton. Der Lack war sehr fest. Er nahm ein grobes Messer und schlug mit der Schneide dagegen. Die Schneide wurde schartig. Er runzelte die Stirne. Er wurde nervös und schlug mit einem Meißel dagegen. Da brach der Flaschenhals, aber der Siegellack blieb ein ganzes Stück. Er hatte sich in eine steinerne, unzerbrechliche Masse verwandelt.
Woolf sprang zum Tisch, den Meißel noch in der Hand, und schlug aus allen Kräften auf den Fisch. Der Meißel sprang zurück und flog ihm aus der Hand. Auf dem Fisch war weder eine Schramme noch ein Eindruck zu sehen. Er war ein unzerbrechlicher Körper geworden. Einen Augenblick stand Woolf nachdenklich, alle Kräfte seines Geistes gesammelt. Dann wußte er, daß er auf dem richtigen Wege war. Er machte sich daran, das Wasser zu untersuchen.
Am frühen Nachmittag hatte er die Untersuchung beendet. Das Ergebnis war erstaunlich, aber es war nur zur Hälfte befriedigend. Er hatte keinen Zweifel mehr daran, daß er es hier mit der Wirksamkeit jenes Gases zu tun hatte, das er selber entdeckt hatte, jenes Gases, das er Gamma-Gas nannte und das zu jenen vollkommenen Gasen gehörte, dessen Existenz sowohl die Chemiker wie die Physiker bisher geleugnet hatten. Dieses Gas hatte die Eigenschaft, daß es sich mit keinem Mittel verflüssigen ließ, und daß seine Ausdehnung so ungeheuer war, daß kaum wahrnehmbare Spuren den weitesten Raum ausfüllten. Hinter dieser Ausdehnung stand eine Kraft, die er bislang selber nicht vermutet hatte. Sie drang in mikroskopisch kleine Räume ein und trieb sie auf, daß sie wie Schwamm wurden. Und die winzigen Gasbläschen, die sich so in dem soliden Material festsetzten, waren jedem Druck gegenüber so unnachgibig, so starr, so absolut unveränderlich, daß davon der ganze Gegenstand den Charakter von Stein bekam. Wenn man – so überlegte er – dieses Gas etwa in flüssigen Stahl leitet, müßte eine Masse entstehen, die jedem Angriff von außen spottet und an der Granaten wie Spielbälle abspringen müssen.
Aber wesentlicher blieb für ihn die Überlegung: wie kommt dieses Gas in den Fluß, und wie kommt es in die Paradiesheide? Denn er zweifelte nicht mehr daran, daß sowohl der Fisch wie die Kinder vom gleichen Gas geatmet hatten. Aus Shellhammer würde er kein Wort und kein Bekenntnis herausbekommen. Den Fluß konnte er nicht absuchen. Aber die Paradiesheide war begrenzt, und dort mußte er das Rohr auffinden können, an dem die Kinder gespielt hatten. Dort mußte des Rätsels Lösung liegen.
Er rief Dr. Persing an. »Was ist mit den beiden Kindern von Owen?«
»Besser als zu erwarten stand« sagte Persing beglückt. »Die Schwellung ist fast ganz zurückgegangen. Die Kinder bewegen Beine und Arme, aber sie können sich nicht aufrichten. Es ist, als ob ihnen das Rückgrat gelähmt sei.«
Woolf horchte auf. »Das Rückgrat gelähmt? Ich glaube, das ist vorübergehend. Betten Sie die Kinder im Freien. Ich komme morgen ...« Er unterbrach sich. »Hören Sie, Persing. Ich komme schon in einer viertel Stunde an Ihrem Hause vorbei. Erwarten Sie mich draußen, denn ich habe keine Zeit zu verlieren. Ich werde Ihnen einen Brief geben. Wenn ich Sie bis morgen früh um zehn Uhr nicht angerufen habe, geben Sie den Brief an den Adressaten weiter. Wollen Sie das für mich tun? Und stellen Sie bitte keine Fragen. Und schweigen Sie zu jedermann!«
Woolf ging in die Gaskammer, holte einige Stahlflaschen und eine Maske und tat sie in einen verschlissenen Lederkoffer. Dann sprang er in seinen Wagen und fuhr, so schnell es der Weg erlaubte, in die Ebene hinunter. Persing wartete schon auf ihn. Er nahm schweigend den Brief entgegen und grüßte ernst. Zehn Minuten später ließ Woolf seinen Wagen unter einem dichten Busch am Rande der Paradiesheide stehen und betrat das verbotene Gelände.
Indem er überdachte, aus welcher Richtung die Kinder gekommen sein mußten und wie weit die kleinen Beine sie getragen haben konnten, grenzte er den Bezirk ab, in dem er zu suchen hatte. Er hatte nicht lange zu suchen. Durch das Fernglas entdeckte er eine geringe Lichtung von ovaler Form. Rings herum standen Bäume, aber merkwürdig still, reglos, als wäre da etwas, was sie zwang, den Atem anzuhalten. Er ging darauf zu, und je näher er der Lichtung kam, desto zögernder wurden seine Schritte. Am Rande blieb er stehen. Das Staunen überwältigte ihn. Alle Bäume im Umkreis der Lichtung waren versteinert. Das Gras zu seinen Füßen waren sperrige Schneiden. Wenn er darauf trat, gaben sie nicht nach, sondern brachen aus dem Boden heraus. Er wußte sofort, daß er hier wieder der Wirkung seines Gamma-Gases gegenüberstand, einer Wirkung, von der er sich nichts hatte träumen lassen.
Jetzt begann der entscheidende Teil seiner Nachforschungen: woher kam das Gas, wer hatte Kenntnis davon, und zu welchem Zwecke war es verwandt worden? Er schnallte sich die Flasche mit Heliumgas auf den Rücken, nahm den Atmungsschlauch in den Mund, legte eine Klammer über die Nasenflügel und näherte sich vorsichtig der Mitte der Lichtung. Und da sah er das Rohr, von dem die Kinder erzählt hatten. Es hatte einen Durchmesser, der breit genug war, einen Menschen hineinsteigen zu lassen. An der Innenseite waren Handgriffe angebracht. Es war also kein Zweifel, daß es als Eingang oder als Ausgang zu irgend etwas diente. Aber wie konnte es dazu dienen, wenn zugleich giftige Gase hindurchgingen? Oder war denen, die sich dieses Eingangs in die Erde bedienten, die Wirkung des Gases nicht bekannt? War vielleicht das Gas nur einmal und nur zufällig von dort entwichen?
Er kauerte sich am Rande des Rohres nieder, entnahm seinem Koffer bunt gefärbte Filtrierpapiere und Reagenzgläser mit wasserklaren Flüssigkeiten, und begann seine Prüfung. Sie verlief negativ. Nicht eine Spur von Gas kam aus dem Rohr heraus. Er versuchte es noch einmal. Dieselbe Reaktion. Da wagte er es, den Atmungsapparat abzulegen und sich über das Rohr zu beugen. Es verlor sich in einer Tiefe, die er mit den Augen nicht abschätzen konnte. Ein Luftstrom stieg nach oben, der rein und gut roch, als sei dort unten irgendwo ein weiter Raum, dem immer frische Luft zugeführt werde. Er neigte den Kopf tief hinein, und jetzt hörte er ein gleichmäßig surrendes Geräusch wie von einem Ventilator, der sich stetig dreht.
Er ließ alle seine Geräte am Rande liegen und begann, in das Rohr hineinzusteigen, Stufe für Stufe an den Handgriffen hinuntergleitend. Es wurde dunkler. Über ihm stand der Himmel mit einem blassen Kreis. Nach der Zahl der Handgriffe und ihrem Abstand von einander schätzte er, daß er an die fünfzig Meter in die Tiefe gestiegen war, als er plötzlich festen Boden unter sich fühlte. Er tastete um sich. Er stand auf einer schmalen, eisernen Plattform. Aber es mußte von hier aus eine Fortsetzung geben, denn er spürte den Luftstrom jetzt sehr nahe und das Surren des Ventilators war sehr deutlich. Er brannte ein Streichholz an. Es wurde sofort vom Luftstrom ausgelöscht. Aber in dem kurzen Aufflammen sah er am Ende der Plattform eine helle Treppenstufe. Er tastete sich vorwärts, über die Stufe, über eine zweite und dritte. Die Stufen waren auf einer Seite breit, auf der anderen schmal. Er folgerte daraus, daß er sich auf einer Wendeltreppe bewegte.
Dann sah er unter sich Licht. Noch vier, fünf Stufen, und er stand auf einer ebenen Fläche aus Beton. In der Mitte dieser Fläche war eine viereckige Öffnung, und aus ihr kam Licht. Aber zugleich stiegen bläuliche Dämpfe aus der Öffnung, und sie trieben Woolf gerade ins Gesicht. Er grinste vor sich hin. Diese Dämpfe waren ungefährlich. Sie kamen von guten Zigarren, die offenbar da unten irgendwo geraucht wurden. Behutsam zog er seine Stiefel aus und schob sich, lang auf dem Bauch ausgestreckt, zu der Öffnung hin, bis er über den Rand schauen konnte.
Er befand sich über einem Raum, der von Leuchtröhren taghell war. Es war ein behaglicher Raum, mit Teppichen belegt und mit Möbeln aus blankem Stahl ausgestattet. In einer Ecke stand ein schwerer, runder Tisch mit tiefen Sesseln rund herum. In der gegenüberliegenden Ecke stand ein breiter, mit Papieren beladener Schreibtisch. Dahinter saß ein Mann, über eine Lektüre gebeugt, emsig lesend und eifrig rauchend. Woolf sah einen schweren, halbkahlen Schädel, und darunter, über die roten Ohren hervorragend, die goldenen Epauletten einer Uniform.
Uniformen hatte Woolf in den letzten dreißig Jahren seines Lebens nicht mehr gesehen. Dieser Paradespuk einer kriegswütigen Epoche, diese Dekoration von Halbwilden, die sich eine Ideologie zugelegt hatten, war aus dem Alltagsbild der Welt verschwunden. Uniformen wurden nur noch sichtbar, wenn aus Kreta die internationale Polizeitruppe gerufen werden mußte, um gegen einen Staat einzuschreiten, der den beschworenen Völkerpakt gebrochen hatte. Aber im Alltag der Völker gab es keine Uniformen mehr, weil es keine Heere mehr gab. Wie kommt es also, fragte sich Woolf, daß hier, hundert Meter unter der Erde, in einem behaglichen Arbeitsraum, bei Taglichtröhren und Ventilation, ein Vertreter dieser nicht mehr existierenden Armee sitzt?
Woolf schaute auf seine Uhr. Sie zeigte wenige Minuten nach vier. Er streckte sich behaglich der Länge nach über seinem Horchposten aus. Er war grimmig entschlossen, hier zu warten, bis irgend etwas geschah, das ihm diese ungewöhnliche Entdeckung aufhellte. Wo ein solcher Raum ist – so schloß er – da sind noch mehr Räume. Und wo ein solcher Mann in Uniform sitzt, da wird es noch ein Schock davon geben. Und da es nach der Verfassung der Welt solche Menschen nicht geben darf, kann man sie entweder nur leugnen ... oder man muß annehmen, daß sie etwas tun, was das Licht der Sonne zu scheuen hat.
Da unten schnarrte ein Telefon. Der Uniformierte sprach in den Trichter, der neben ihm stand: »Siebenundneunzig.« Aus dem Lautsprecher tönte es zurück: »Hier Z.4. S.H. ist mit frischen Zigarren da und möchte sie vorlegen.« –
»Gut. Bringen Sie ihn herein« rief die Uniform.
Woolf nickte vor sich hin. Also die Leute bedienen sich eines Code, ganz wie geheime Verschwörer. Und auf die Zigarren, die vorgelegt werden sollten, war er weidlich neugierig.
Es dauerte Minuten, bis sich die Türe öffnete. Ein hagerer Mann in Uniform, mit hängenden Schultern und unsicheren Bewegungen trat ein. Woolf sah aus einem Winkel der Öffnung, daß zwei Hände um den Kopf des Eintretenden faßten und im eine Binde von den Augen nahmen. Der Uniformierte grüßte militärisch. »Ich bitte um Verzeihung« sagte er, »daß ich so spät störe.«
Die Stimme riß Woolf hoch, daß er sich vorbeugte und den Rand der Deckenöffnung umklammerte. Er stierte nach unten. Das ... das war doch ... Shellhammer! Also hier saßen seine Auftraggeber! Hier unter der Erde. Er hielt seinen Atem an, damit ihm kein Wort des Gesprächs entging.
Siebenundneunzig stand auf. »Macht nichts. Für so gute Lieferanten wie Sie bin ich immer zu sprechen. Packen Sie mal Ihre neuen Zigarren aus.«
»Ich fürchte« sagte Shellhammer, »sie riechen diesesmal nicht gut. Woolf muß mich beobachtet haben, als ich mir an seinem Schreibtisch zu schaffen machte. Er hat mir den Schlüssel zum Laboratorium weggenommen.«
Siebenundneunzig trommelte mit seinen schweren Fingern auf dem Tisch. »Solche Dinge dürfen einfach nicht vorkommen« brummte er. »Sie sind immer noch mehr Gelehrter als ein brauchbarer patriotischer Mitkämpfer. Sie müssen eines begreifen, junger Freund: an sich interessiert uns Ihre ganze Wissenschaft garnicht. Uns interessiert nur, ob da oben in diesem Luxuslaboratorium praktische Dinge erfunden werden, die es sonst nicht auf der Welt gibt und mit denen ich unserem Lande einen Vorsprung sichern kann, wenn diese faule Epoche des allgemeinen Wohllebens einmal zuende geht.«
Shellhammer sagte mit leisem Vorwurf: »Sie haben mir nie deutlich gesagt, an was für Erfindungen Sie eigentlich interessiert sind ...«
»Das geht Sie auch nichts an« unterbrach Siebenundneunzig ihn schroff. »Die Verwendung ist unsere Sache. Sie liefern nur das Material. Aber damit Sie etwas Richtung in Ihren Gelehrtenschädel bekommen: wenn wir zum Krieg, zum Vater aller Dinge, einmal zurückkehren sollten, dann wollen wir so gerüstet sein, daß wir ihn in drei Tagen beenden können ... um der Menschheit überflüssige Schmerzen zu ersparen. Aus reiner Humanität. Die Wissenschaft soll die Leiden der Menschen vermindern, verstanden? Und Sie haben mir solches wissenschaftliches Material zu liefern. Statt das zu tun, lassen Sie sich den Schlüssel wegnehmen, Sie ... Gelehrter!«
Shellhammer stand da und rührte sich nicht. Siebenundneunzig lachte. »Na, nehmen Sie es nicht so tragisch. Ich werde schon einen Weg finden, diesen Woolf für ein par Tage außerhalb des Friedenshügels zu beschäftigen. Ist nirgends ein Kongreß, zu dem man ihn schicken kann?«
Shellhammer schüttelte den Kopf. »In absehbarer Zeit nicht.«
»Macht nichts. Wie kriegen ihn schon weg. Und was ist mit dem Gamma-Gas? Schon ausprobiert?«
Jetzt schien Shellhammer in seinem Element. »Wir haben es ausprobiert. Es ist nicht nur unverwendbar, sondern auch gefährlicher für den, der es anwendet, als für den, gegen den es angewandt werden soll. Wir haben genug damit zu tun gehabt, einen Teil in den Fluß zu leiten und den Rest durch den großen Schacht entweichen zu lassen. Allerdings sind einige Techniker ... wie soll ich sagen ...«
»Draufgegangen« half ihm Siebenundneunzig. »So etwas ist unvermeidlich. Opfer der Wissenschaft und des Vaterlandes. Und was sonst?«
Shellhammer sagte zögernd: »Wenn man es einrichten könnte, daß ich von der ewigen Aufsicht des Woolf befreit werde ... ich spreche natürlich für die Sache und nicht für mich ... dann könnte ich einer Idee nachgehen ... die praktisch ist ... und nicht gelehrt.«
Siebenundneunzig sah ihn scharf an. »Sie wollen ihn beseitigen?«
Shellhammer zuckte mit den Schultern. »Ich möchte ... unkontrolliert arbeiten können. Ich muß gewisse Experimente anstellen können. Ich muß Zugang haben zu den Gaskammern, zu den Strahlenlaboratorien, zu den Munitionswerken, zu den Flugtunnels ...«
Siebenundneunzig ging langsam im Raume auf und ab. Er sagte: »Sie verraten da Kenntnisse, die Ihnen nicht zukommen. Ich habe niemandem erlaubt, Ihnen zu sagen, welche Anlagen wir hier unten haben. Aber nun wissen Sie es einmal. Und ich werde daraus die Konsequenzen ziehen.« Er ging zum Fernsprecher und drückte auf einen Hebel. Eine Stimme meldete sich: »Z 4.«
»Tragen Sie zwei Anweisungen ein. Erstens: S.H. bekommt die Erlaubnis, alle Anlagen unter der Paradiesheide zu betreten. Zweitens: S.H. wird auf die Liste der Verdächtigen gesetzt. Er ist entsprechend zu beobachten.« Siebenundneunzig wandte sich zu Shellhammer. »Jetzt wissen Sie, wo Sie stehen. Berichten Sie mir, sobald Sie etwas zu berichten haben. Guten Abend.«
Shellhammer ging mit gesenkten Schultern hinaus. Siebenundneunzig ließ sich wieder schwer und massiv an seinem Schreibtisch nieder. Oben über der Deckenöffnung kauerte Woolf und legte mit einer müden Gebärde die Hand über die Augen. Sie taten ihm weh. Sein ganzer Körper tat ihm weh. Er fühlte sich, als habe man ihn aus dem Hintergrunde überfallen und erbarmungslos geschlagen. –