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VII.
Der Vormund der Völker.

Auf Island, nahe der Stadt Reykjavik, auf einem Felsen, dessen gelber Glanz vom toten Grau der Umgebung abstach, erhob sich ein Turm, ein hoher, vierkantiger Würfel, gebaut aus ungefügen Blöcken. Diese Blöcke waren aus dem bläulichen Lavagestein des Hochlandes herausgebrochen. Um diesen Turm brausten die Winde vom Meere und die Sandstürme von der Höhe her, und wenn die schweren Nebel über das Land zogen, krochen sie am Fuße des Turmes entlang, sodaß, wie aus einem Meer von Schaum auftauchend, ein dunkler, drohender Würfel dort zu schweben schien.

In diesem Turm hielt der Vormund der Völker seine Sitzungen ab.

In der Institution »Vormund der Völker« hatten die Nationen, die alle aus den Kriegen der Mitte des 20. Jahrhunderts in tiefster Erschöpfung hervorgegangen waren, sich ein Instrument geschaffen, das einzig in der Geschichte der Menschheit war. Man hatte erkannt, daß es nicht mehr möglich war, die Völker von einander zu isolieren. Die Interessen waren schon allzu sehr verfilzt, die Gebiete der Wirtschaft, der Technik, des Verkehrs, der Produktion überschnitten sich zu sehr. Und doch standen in dieser Überschneidung alle Völker in einem bösartigen, hinterlistigen, skrupellosen Wettbewerb mit einander. Was in jedem Kulturlande einen Einzelnen an den Galgen gebracht hätte, wurde von den Staaten selber ungehemmt und mit dem Anspruch auf Legitimität getan und mit allen Mitteln beschützt.

Diese Erkenntnis hatte schon früher einmal zu einem Kompromiß geführt, nach jenem vorbereitenden Kriege aus dem zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Ein wenig Angst und ein wenig Idealismus, ein wenig kluge Berechnung und ein wenig kaltes Pathos hatten dazu geführt, daß eine Reihe von Staaten einen Völkerbund errichtete. Er hatte die Umstände seiner Geburt nicht lange überlebt. Aber aus seinem völligen Versagen erkannten die Denkenden unter den Völkern, wo der Fehler lag: es war eine Versammlung von Interessenten gewesen, die alle – auch wenn sie noch so gutwillig waren – das Interesse ihres Volkes und ihres Staates über alles stellten. Sie konnten nicht objektiv sein. Wenn ein Entschluß nicht ihre Billigung fand, schmollten sie und traten aus dem Verein aus. Und die Verbleibenden hatten kein Mittel, ihre Beschlüsse zu erzwingen. Und imgrunde wollten sie solche Mittel auch nicht, weil sie sich eines Tages auch gegen sie selbst richten konnten. Darum beschlossen die Staaten, von der Revolution der Millionen gezwungen, diese beiden Fehlerquellen ein für alle mal zu beseitigen. Und das Ergebnis war der Vormund der Völker.

Diese Institution hatte bis zu ihrer vollen Entwicklung mehr als zwei Jahrzehnte gebraucht, da sie durch ein vorbereitendes Stadium, durch eine Art von Regentschaft gehen mußte. Denn woher sollte man die Menschen nehmen, die geeignet waren, Vormünder zu sein? Wer ist ganz frei von der Bindung an sein Volk? Wer bleibt ein gerechter Richter, wenn Völker aufstehen und Ideen, Ideale, Vorwände, Gläubigkeiten und Lügen aufeinander stoßen? Kann es nicht sein, daß sich unter den Vormündern einer befindet, der den Wirbelstaub der zeitgebundenen Ideale liebt? Und schon empfängt die Waage falsches Gewicht und neigt sich zum Unrecht. Also mußte man Menschen finden, die von alledem frei waren, und wenn sie im Anfang nicht vorhanden waren, so mußte man sie ... erzeugen. Und diese Zeugung war geschehen.

Aus allen Ländern, die es auf der Welt gab, hatte man drei Kinder ausgesucht, die im Alter von einem Jahre standen. Bei der Auswahl hatte man nur darauf geachtet, daß sie körperlich gesund waren, und daß sie von Eltern stammten, in deren Ahnenreihe niemals ein Politiker, ein Staatsmann, ein Beamter oder ein Dichter existiert hatte. In den Ländern Asiens und Afrikas und auch in der Neuen Welt fiel die Auswahl leicht. In Europa war sie weit schwerer, und am schwersten in den Ländern der ehemaligen Demokratien, weil dort der exzessive Verbrauch von Politikern nur in wenigen Familien einen reinen Stammbaum hinterließ.

Diese Schar von Kindern – es waren mehr als fünfhundert – wurden nach Island gebracht. Dort war für sie in einem Fjord der Südküste, wo der Golfstrom dem Klima einen milden Ausgleich gab, ein großes Kinderheim errichtet worden. Isländische Pflegerinnen sorgten für sie. Vom ersten Tage an hörten sie nichts als die isländische Sprache. Von ihrer Muttersprache blieb ihnen kein Laut und keine Erinnerung. Als Fremdsprache lernten sie Esperanto. Man wollte ihren Geist nicht einmal mit der Sympathie für die Sprache irgend eines Volkes beschweren.

Man beschwerte sie in den ersten Jahren überhaupt mit nichts. Sie lebten in einer freundlichen, sehr einfachen Atmosphäre, und spielten sich groß. Nur Kinderlieder lernten sie nicht. In Kinderliedern liegen urtiefe Bindungen, und Bindungen sollten sie nicht haben.

Vier Jahre ließ man sie ungehemmt aufwachsen, aber in diesen Jahren war ihnen ein Gesetz unermüdlich eingeprägt worden: auf den Anderen Rücksicht zu nehmen. Wenn sich im Laufe der Zeit herausstellte, daß ein Kind kleinlich, selbstsüchtig, zänkisch war, dann wurde es stillschweigend in seine Heimat zurückgesandt. Dadurch wurde eine natürliche Auslese erzielt. Es war im Ergebnis eine doppelte Auslese, denn es stellte sich heraus, daß man viel mehr Kinder aus den Ländern des Westens als des Ostens der Welt zurückschicken mußte. Die Kinder des Westens zeigten viel öfter den Trieb, eigensüchtig, eigenbrödlerisch, eigensinnig zu sein. Die Kinder des Ostens waren schmiegsamer, nachgibiger, verständnisvoller und achtsamer. Sie waren Individualitäten, während die Kinder des Westens nur Individualisten waren.

Es lag aber nicht im Plan der Erziehung, uniforme Menschen zu züchten. Im Gegenteil: die Erzieher – die Weisen aller Völker, die von der Bildfläche abzutreten hatten, wenn das Werk der Erziehung vollendet war – wollten einen ganz eigenen Schlag von Individuen züchten. Das wurde sichtbar, sobald die Kinder das sechste Lebensjahr überschritten hatten. Dann begannen sie, das Land kennen zu lernen, und zwar nicht als eine geographische Tatsache, sondern als ein großes Symbol, das ihnen einmal ihre Aufgabe erleichtern sollte.

Sie wurden hinaufgeführt auf die Hochebene des Landes. Da lernten sie kennen, was Starre des Lebens ist, eisige Schicht des Unfruchtbaren, beißender Wind des Bösen. Da lernten sie die Wüste des Daseins kennen: Felder, überstreut mit Geröll und Felsblöcken, harte Nutzlosigkeiten, in Furchen aufgerissenes leeres Nichts. Sie erlebten auch, wie es unten, in den Tiefen, im unsichtbar Verborgenen, plötzlich zu gären begann. Gluten brachen aus dem unbefriedeten Urgrund der Erde. Die starre, eisige Decke zermürbte und zerschmolz unter dem Anhauch des Unterirdischen, des Höllischen. Ruhendes zerfloß zu ungebändigten Strömen, die hinunter schwollen in die Täler. Sie wurden zu Wassern der Unfruchtbarkeit, der Zerstörung. Sie dienten niemandem. Nicht einmal fruchtbare Erde trugen sie in die Niederungen hinein, sondern Felsblöcke, die über die schmalen Grasstreifen taumelten, die die bescheidenen Hütten zerschmetterten, die Menschen und Tiere hineinschwemmten in die großen Wasser, die nicht wieder hergeben, was sie einmal empfangen haben.

Sie lernten auch über die Felder aus Lava gehen, über die Gluten von ehemals, die kalt geworden sind und an denen kein Leben sich mehr entzündet. Sie standen vor den Kratern, den kegelförmigen und den kuppenförmigen, vor den stummen, gleichmütigen Mündern, die einmal etwas gesagt hatten. Aber niemand wußte, ob sie nicht noch einmal sprechen würden, Zeugen für etwas, das noch niemand weiß. Sie lagerten auch an den stillen, kleinen, kühlen Bergseen, den ernsten, offenen Augen der Landschaft, die still und bescheiden dem Leben zuschauen, das an ihren Rändern und auf ihrer Fläche atmet.

Sie gingen die Täler hinunter, die sich zu den Fjorden absenken, zu den mageren Steppen und den armen Wiesen, den Heideflächen und den niedrigen, geduckten Birken. Da nimmt die Natur den Dienst des Menschen an und ernährt ihn, wenn er treu ist, wenn er fleißig ist, wenn er weiß, wie man zu dienen hat. Dann brachte man sie hinunter auf den schmalen Streifen des Küstenlandes, wo der Mensch schon auf das ewig feindliche Element des Meeres hinausgreifen muß, um zu leben. Sie wurden auf die Fischerkutter gebracht und die schweren Motorboote, wo Mann neben Mann stehen und einer für den anderen da sein muß.

Drei Jahre lernten sie so das Land kennen. Dann hatten sie in ihre jungen Seelen einen Eindruck aufgenommen, der sich eines Tages, wenn sie zum selbständigen Denken kamen, zu einer Erkenntnis verdichten konnte: das Leben ist hart, voll von Gefahren und von Unsichtbarem, das jeden Augenblick aus der Tiefe ausbrechen kann. Und der Mensch lebt nur auf einem schmalen, von Vulkanen immer bedrohten Raum, und seine Arbeit muß vorsorglich und gewissenhaft sein. Er darf nicht sein wie der leblose Felsblock, der herumtaumelt und die Wiesen der Armen zerstört. Er muß wie der gebändigte Strom sein, der dient. Und wenn er zum Dienst nicht willig ist, müssen Ufer und Deiche, Dämme und Wehre, Schleusen und Mauern ihn zum Dienst zwingen, um seiner selbst willen, um der Erde willen, und um derer willen, die auf der Erde leben.

Auch ihre Lebensweise war ein Symbol. Sie litten keinen Mangel. Aber sie hatten grundsätzlich von dem zu leben, was der Boden der Insel hervorbrachte. Sie selbst sollten die Gier nicht kennen lernen, die die Menschen dazu zwingt, um des noch unbekannten Genusses, des noch nicht verspürten Reizes willen über die Grenzen hinauszugreifen, um andere zu zwingen, ihr Eigentum herzugeben.

Der alte Chinese, der sie in der Lehre des Kung-fu-tse unterrichtete, sagte ihnen: »Es war einmal eine Zeit, da gingen Händler in fremde Länder. Und wenn die Bewohner schwach waren und es sich lohnte, ihnen ihre Güter zu nehmen, dann sandte man ihnen Kanonen und Krieger nach, um sich dagegen zu verteidigen, daß der Eingeborene so schwach war und so gute Dinge besaß. Und wenn man in diesem Verteidigungskampf gesiegt hatte, besaß man eine Kolonie.«

Sie hatten genug zu leben: die zahlreichen Fische der Ströme und der umgebenden Meere, die Wasservögel an den Bergseen, die Schafe auf den kärglichen Wiesen, die Blaubeeren, die weißen und schwarzen Johannisbeeren, die überall wild wuchsen, und das wenige Gemüse, das in den wärmeren Tälern und an der Küste gezüchtet wurde. Fruchtbäume gab es im Lande nicht. Korn gedieh dort nicht.

Zweimal im Jahre wurde jedem Zögling eine besondere Aufgabe gestellt: er hatte sich für die Dauer eines Monats selber seine Nahrung zu beschaffen und seine Kleidung selber herzustellen. Dann hieß es: fertige dir ein Netz, geh zu den Bergseen hinauf und fange dir eine Ente. Mach dir Leine und Angelhaken und geh an die Ströme, einen Lachs oder eine Forelle zu fangen. Oder geh auf das Meer, nachdem du dem Fischer für die Erlaubnis gedient hast, sein Boot zu benutzen, und fange dir einen Kabeljau. Wenn du die Leber verkaufst, wird dir der Bauer vielleicht von seiner Wolle etwas ablassen und wird dich lehren, wie man spinnt und webt. Die Pflegerinnen im Heim werden dir zeigen, wie du den groben, naturfarbenen Stoff zu einem schlichten, derben, warmen Anzug verarbeiten kannst. Und wenn der Fischfang und der Vogelfang dir zu beschwerlich sind, und wenn du nicht begabt bist, dir dürres Moos und trockene Wurzeln oder den Antrieb der Küsten als Brennmaterial zu sammeln, so geh Beeren sammeln, oder verding dich dem Hirten oder dem Bauern, damit er dich für den Lohn ernährt.

So lernten die jungen Menschen ein gewaltiges Problem des Lebens kennen, das Urproblem alles Lebens: sich von seiner Hände Mühe im schlichtesten Sinne des Wortes zu ernähren.

Nur einmal im Jahre wurde dieses Prinzip der Selbstversorgung unterbrochen. Einmal im Jahre bekamen sie Brot zu essen und Kuchen aller Arten. Aber auch hier stand im Vordergrunde das Symbol. Es war eine ernste, wenn auch farbige Zeremonie. Die jungen Menschen versammelten sich im großen Saal des Heims. Sie saßen auf langen Bänken erwartungsvoll da. Dann kam ein seltsamer Zug herein: Mädchen in bunten Kleidern trugen lange, gelbe Ähren in den Armen. Nach ihnen kamen andere, die in hölzernen Schalen Korn trugen: das helle, lange des Weizens, das kurze weißliche des Roggens, das grau-grünliche des Buchweizens, das flachgerundete, rötliche des Mais. Nach ihnen wurde das Mehl getragen, blütenweiß vom Weizen, grau vom Roggen, unscheinbar dunkel vom kaum geschroteten, mit Spelzen durchsetzten Gemisch, wie angeschlemmter, feuchter Sand das Buchweizenmehl, und bäurisch gelb das Maismehl. Darnach wurden große hölzerne Platten hereingetragen. Da lag das weiße milde Brot der Verwöhnten, das graue, simple des Alltags, das dunkle, fast schwarze des Bauern und der hart Lebenden, das grobe, trockene Gemisch der Armen, die das kostbare Mehl mit Mais versetzen müssen. Auf anderen Platten lagen die Backwaren der Länder, die Kuchen und Torten der Gourmands und der Schlecker und der naschhaften Frauen, und jene Gebäcke, die als Tradition der Feste oder der Religionen einen halbsakralen Charakter hatten.

Zuletzt aber erschienen, auf hölzernen Bahren getragen, drei große Wachsfiguren. Die erste war der Hunger. Er wühlte mit spinnendürren Fingern im Abfall der Erde. Und was er hervorbrachte, war ein Stein. Hinter ihm schwankte die Gier. Sie hatte Arme und Beine um einen Haufen von Dingen gepreßt, der auseinander zu fallen drohte, und um den schweren, fleischigen Mund lauerten Begierde und Angst. Und als letzte Gestalt erschien der Krieg. Er war klein und zart und hatte eine hohe, nachdenkliche Stirn. Er war in das Gewand eines Denkers oder Dichters gekleidet und schien mit seinem Blick sich in den heiligen Höhen eines fernen Himmels zu verlieren. Aber in seiner linken Hand – einer großen, bösen Hand – hielt er das Haupt eines Menschen, und unter dem Druck der Finger quoll das Gehirn, der Sitz des Lebens, unförmig heraus.

Dann trat der Älteste der Erzieher vor, ein Inder von über neunzig Jahren, und sagte: »Das ist das Korn, das ist das Mehl, das ist das Brot, das in einem Lande der Welt im Überfluß vorhanden ist und im anderen mangelt. Aus dem Mangel kommt der Hunger, und aus dem Überfluß die Gier, und zwischen Hunger und Gier stellt sich der Krieg und würgt sie beide. Ihr habt die Aufgabe, sie alle drei zu töten: den Hunger, die Gier, den Krieg. Schaut sie euch gut an, damit ihr die Feinde kennen lernt, die der Mensch sich selber schafft. Und kostet von den Broten, damit ihr den Geschmack kennen lernt, der den Hunger stillt und der dem Gaumen schmeichelt.«

So ging die Erziehung bis zum 15. Lebensjahre. Dann setzte ein ernsthaftes Studium ein. Sie lernten die Geographie, die Struktur, die Wirtschaft aller Länder. Sie lernten die Bodenschätze und die Industrien kennen, die Verfassungen und Verwaltungen. Sie lernten sehen, was die objektiven Möglichkeiten eines Landes betraf. Von seinen subjektiven Möglichkeiten lernten sie nichts, nichts von ihren Dichtern und Musikern, nichts von ihren Philosophen und Denkern, noch von ihren Politikern oder ihren Parteien. Denn es war nicht ihre Aufgabe, sich mit den Gefühlen und Ideen der Menschen zu befassen. Die waren unkontrollierbar, vulkanisch, aus verborgenen Quellen gespeist. Sie hatten es mit den objektiven Nöten der Völker zu tun: was muß man ihm geben, damit es leben kann, und was darf man ihm geben, daß es nicht auf Kosten anderer lebt? Dadurch war das Gefasel vom Lebensraum eines Volkes auf sein objektives Maß zurückgeführt, und die Idee war aufgegeben worden, daß der Dieb kein Dieb sei, nur weil sein Arm länger war als der des Bestohlenen.

Der alte Nubier, der ihnen über das Thema »Wirklichkeiten und Ideen« Vorträge hielt, sagte ihnen am Ende jeder Vorlesung: »Sollen die Völker ihre Ideen zuhause auskämpfen und die Welt nicht damit belasten. Ihr habt euch um ihr ideologisches Gefasel nicht zu kümmern. Denn jedes Volk schafft sich die Idee erst rückwirkend nach seinem Charakter ... und nach seinen Taten. Der Beißer begründet sein Beißen als ethische Pflicht und der Stinker seinen Gestank als Willen der Vorsehung. Ihr werdet sie nicht daran hindern können, zu denken ... und zu lügen. Aber hindert sie daran, mit ihrem Denken und mit ihren Lügen die Welt unglücklich zu machen.«

Mit zwanzig Jahren war das Ergebnis dieser Erziehung erreicht. Als Auslese derer, die diese schwere Erziehung erdulden konnten, waren einundsiebenzig junge Menschen geblieben, strenge, ernsthafte, gelehrte, fanatische junge Männer. Sie waren um manches gebracht worden, was das Leben einer normalen Jugend reich macht. Und sie wußten es. Aber sie hatten sich dazu durchgerungen, darauf stolz zu sein. Sie wußten, daß sie Opfer zu bringen hatten, um über den Dingen, den Zeitideen, den Leidenschaften stehen zu können. Und so hatten sie sich die Form ihres Lebens selber bestimmt. Sie hatten es an dem Tage getan, als ihre Lehrer und Erzieher von ihnen Abschied nahmen. Da hatten sie das Heim verlassen, in dem sie den ersten Abschnitt ihres Lebens verbracht hatten. Sie waren in die Höhe gegangen, jeder an einen Ort der Felsen und Schluchten nahe dem großen Turm, und hatten sich mit eigenen Händen aus dem dunklen Lavagestein eine Hütte gebaut, eine Zelle, die sich jeder nach seinem Gutdünken einrichtete. Und daraus erwuchs eine Art von mönchischem Leben.

Es kam ganz ungewollt über sie. Es lag halb an der Art, in der sie aufgezogen waren. Es lag halb in der Erwägung, daß sie, um ihrem Amt gerecht werden zu können, so viel Störungen wie möglich von sich abhalten wollten. Es waren zuerst wenige, die den Entschluß faßten, sich nie einer Frau zu nähern. Andere schlossen sich dem Beispiel an. Sie faßten nie einen Beschluß darüber, aber es wurde eines Tages für alle eine stillschweigende Regel.

Das, was sie bisher geleistet hatten, war eine Rechtfertigung für ihr Leben und Verhalten. Mehr als einmal hatte das Azoren-Gericht ihnen schwere, mit Unheil geladene Akten übersandt. Sie gingen von einer Einsiedelei zur anderen. Dann kamen sie zu einer gemeinsamen Beratung zusammen, lediglich, um festzustellen, ob alle den Tatbestand richtig erfaßt und verstanden hatten. Erst dann wurde der Staat, dessen Name auf der Akte stand, vorgeladen.

Es war nie vorgekommen, daß ein Staat sich geweigert hätte, zu kommen. Im Hintergrunde stand furchtbar die Drohung von Kreta, jener anonymen Armee, die nur einen einzigen Befehl anerkannte: den des Vormunds der Völker. Wenn er rief, brach die Hölle aus. Aber bis heute war sie noch nicht ausgebrochen. Jeder zog es vor, zur Gerichtssitzung zu erscheinen und das Urteil entgegen zu nehmen.

Diese Urteile waren von höchster Sachlichkeit. Sie durften nicht in der gleichen Sitzung gefällt werden, in der der Staat vernommen wurde. Die Vormünder kehrten erst für einen Tag in ihre Zellen zurück, um in aller Abgeschlossenheit und Ruhe zu bedenken und zu erwägen. Und das Urteil selbst konnte nur mit den Stimmen aller Vormünder gefaßt werden. Und um hier die letzte Sicherheit zu geben, um sogar die Möglichkeit auszuschalten, daß einer vor dem Übergewicht der anderen zurückschreckte, daß er nicht den Mut fand, vor der Majorität zu bestehen und seine abweichende Meinung zu begründen, genügte es, daß er zu der entscheidenden Sitzung nicht erschien. Sobald das festgestellt wurde, stand das Ergebnis fest: Freispruch. Und niemand fragte den Fehlenden nach seinen Gründen.

In diesen Tagen gingen die Dokumente von Hand zu Hand, die das Gericht der Azoren in Demosien und Goethanien aufgenommen hatte. Die Vormünder saßen in ihren Zellen und lasen, und lasen noch einmal. Fragen ergingen an die Archive: hat Goethanien Mangel an Lebensmitteln? Krankt es an einem Mangel an Geld und Geldmitteln? Ist etwa der Güterausgleich mit anderen Ländern zu gering und irgendwo fehlerhaft? Es wurden Statistiken und Bilanzen angefordert, um den materiellen Grund zu erklären, um verständlich zu machen, was da vor sich ging. Denn der Bericht klang wie ein Märchen, dessen Motiv sie nicht verstanden. Es war auch nicht ihre Aufgabe, Märchen zu verstehen, sondern die Wahrheit von Tatsachen festzustellen. Die legten sie auf die Waage ihrer eigenen Gerechtigkeit, sehenden Auges und nicht mit verbundenen Augen. Und eines Tages erging, von einundsiebenzig Männern unterschrieben, die Aufforderung an den Staat Goethanien, sich binnen Monatsfrist vor dem Vormund der Völker zu verantworten. –


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