Karl Kautsky
Thomas More und seine Utopie
Karl Kautsky

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Drittes Kapitel. Die Kirche.

1. Die Notwendigkeit und Macht der Kirche im Mittelalter.

Die in den vorigen Kapiteln angedeuteten Klassengegensätze nahmen im Laufe der Entwicklung die verschiedensten Gestalten an, sie wechselten von Zeit zu Zeit und von Ort zu Ort und kombinierten sich je nach den äußeren Einflüssen, den historischen Traditionen, dem Stande der Erkenntnis und den augenblicklichen Interessen in der mannigfachsten Art. Aber wie verworren dadurch die Geschichte des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts auch erscheinen mag, ein roter Faden zieht sich klar erkennbar durch sie und gibt dieser Zeit ihre Signatur: der Kampf gegen die päpstliche Kirche. Man verwechsle nicht die Kirche mit der Religion. Von dieser werden wir später handeln.

Die Kirche war die vorherrschende Macht der Feudalzeit gewesen: mit dem Feudalismus mußte auch sie zusammenbrechen.

Als die Germanen in das römische Weltreich eindrangen, da trat ihnen die Kirche entgegen als Erbe der Cäsaren, als die Organisation, die den Staat zusammenhielt, als der Vertreter der Produktionsweise des Ausgangs der Kaiserzeit. So erbärmlich auch dieser Staat war, so herabgekommen auch die Produktionsweise, beide waren den politischen und ökonomischen Zuständen der barbarischen Germanen weit überlegen. Diese überragten moralisch und physisch das verkommene Römertum, aber es nahm sie gefangen mit seinem Wohlleben, seinen Schätzen. Der Raub ist keine Produktionsweise, wenn auch manche Ökonomen das zu glauben scheinen. Die bloße Plünderung der Römer konnte die Germanen auf die Dauer nicht befriedigen, sie fingen an, nach Art der Römer zu produzieren. Je mehr sie das taten, desto mehr aber gerieten sie unvermerkt in die Abhängigkeit von der Kirche, denn diese war ihre Lehrmeisterin; desto notwendiger wurde eine dieser Produktionsweise entsprechende staatliche Organisation, die wieder keine andere Macht schaffen konnte, als die Kirche.

Die Kirche lehrte die Germanen höhere Formen des Landbaus – die Klöster blieben bis spät ins Mittelalter die landwirtschaftlichen Musteranstalten. Geistliche waren es auch, die den Germanen Kunst und ausgebildetes Handwerk brachten; unter dem Schutze der Kirche gedieh nicht nur der Bauer, sie schirmte auch die Mehrzahl der Städte, bis diese stark genug waren, sich selbst zu schützen. Der Handel wurde von ihr besonders begünstigt.

Die großen Märkte wurden meist in oder bei Kirchen abgehalten. In jeder Weise sorgte die Kirche dafür, Käufer zu solchen Märkten heranzuziehen. Sie war auch die einzige Macht, die im Mittelalter für die Erhaltung der großen Handelsstraßen sorgte und durch die Gastfreundschaft der Klöster das Reisen erleichterte. Manche derselben, zum Beispiel die Hospitze auf den Alpenpässen, dienten fast ausschließlich der Förderung des Handelsverkehrs. So wichtig erschien dieser der Kirche, daß sie sich zu dessen Belebung mit dem zweiten Faktor verbündete, der neben ihr die Kultur des untergegangenen römischen Reiches in den germanischen Staaten vertrat: dem Judentum. Die Päpste haben dieses lange Zeit hindurch geschützt und gefördert. Überhaupt wurden die Juden zur Zeit, als die Deutschen noch unverfälschte Germanen waren, als Bringer einer höheren Kultur freudig aufgenommen und eifrig herbeigezogen. Erst als die christlich-germanischen Kaufleute selbst das Schachern ebensogut verstanden wie die Juden, wurden sie Judenverfolger.

Daß das ganze Wissen des Mittelalters allein in der Kirche zu finden war, daß sie die Baumeister, Ingenieure, Ärzte, Historiker, Diplomaten lieferte, ist allbekannt.

Das ganze materielle Leben der Menschen und damit auch ihr geistiges war ein Ausfluß der Kirche: kein Wunder, daß sie auch den ganzen Menschen gefangen nahm, daß sie nicht nur sein Denken und Fühlen bestimmte, sondern auch all sein Tun und Lassen. Nicht nur Geburt, Ehe, Tod gaben ihr Anlaß einzugreifen, auch die Arbeit und die Feste wurden von ihr geregelt und kontrolliert.

Die ökonomische Entwicklung machte aber die Kirche nicht nur notwendig für den einzelnen und die Familie, sondern auch für den Staat.

Wir haben schon darauf hingewiesen, daß der Übergang der Germanen zu einer höheren Produktionsweise, zum entwickelten Ackerbau und zum städtischen Handwerk, auch die Entwicklung eines ihr entsprechenden Staatswesens notwendig machte. Aber der Übergang der Germanen zur neuen Produktionsweise ging zu rasch vor sich, namentlich in den romanischen Ländern Italien, Spanien, Gallien, wo sie sie fertig und bei der eingeborenen Bevölkerung fest eingewurzelt vorfanden, als daß es ihnen möglich gewesen wäre, die neuen Staatsorgane aus ihrer urwüchsigen Verfassung zu entwickeln. Der Kirche, die sich schon im verfallenden Kaiserreich zu einer politischen Organisation entwickelt hatte, die den Staat zusammenhielt, fielen jetzt die staatlichen Funktionen fast ausschließlich zu. Sie machte den Germanenhäuptling, den demokratischen Volksvorsteher und Heerführer zum Monarchen: aber mit der Macht des Monarchen über das Volk stieg auch die Macht der Kirche über den Monarchen. Er wurde ihre Puppe, die Kirche aus einer Lehrerin zur Herrscherin.

Die mittelalterliche Kirche war wesentlich eine politische Organisation. Ihre Ausdehnung bedeutete die Ausdehnung der Staatsmacht. Die Gründung eines Bistums in einem heidnischen Lande durch einen Monarchen bedeutete nicht etwa bloß, daß damit die Mittel verstärkt wurden, den Heiden alle möglichen Glaubensartikel und Gebete beizubringen: um eines solchen Zweckes willen hätte weder Karl der Große die fränkischen Bauern ruiniert und unzählige Sachsen erschlagen, noch hätten die Sachsen, in Glaubenssachen tolerant, wie meist die Heiden, dem Christentum den jahrzehntelangen zähen Widerstand bis zur äußersten Erschöpfung entgegengesetzt. Die Gründung eines Bistums in einem heidnischen Lande bedeutete die Verbreitung der römischen Produktionsweise daselbst und seine Einverleibung in den Staat, der das Bistum gründete.

Je mehr die Produktionsweise der Germanen die Stufe erklomm, auf die sie im Römerreiche zur Zeit seines Sturzes herabgesunken war, desto unentbehrlicher wurde die Kirche für Staat und Volk. Sie war für beide nützlich, damit ist aber nicht gesagt, daß sie ihre Stellung im Interesse der von ihr abhängigen Elemente und nicht im eigenen Interesse benutzt hätte. Sie ließ sich ihre Dienste teuer bezahlen: die einzige allgemeine Abgabe, die das Mittelalter kennt, der Zehnte, floß ihr zu. Die wichtigste Quelle von Macht und Einkommen war aber im Mittelalter, wie wir bereits gesehen, das Grundeigentum. Die Kirche entwickelte den gleichen Hunger nach Land und Leuten wie der Adel, suchte, so wie dieser, Land zu erwerben und untertänige Leute zu gewinnen. Den Grundbesitz, den die Kirche im römischen Reich besessen hatte, ließen ihr meist die germanischen Einwanderer; wo nicht, wußte sie ihn bald wieder zu gewinnen, und oft noch etwas dazu. Die Kirche bot den gleichen, ja oft noch größeren Schutz als der Adelige, daher gaben sich ihr viele Bauern zu eigen. Die Kirche führte die Staatsverwaltung, Geistliche waren die Räte der Könige. Kein Wunder, daß diese sich oft beraten ließen, aus dem Krongut das Eigentum der Kirche zu mehren. In eroberten heidnischen Landen war die reichliche Ausstattung von Klöstern und Bistümern mit Grundeigentum geradezu ein Gebot der Notwendigkeit. Überdies war die Kirche die einzige Macht, welche das Königtum dem Adel entgegensetzen konnte; wurde dieser zu übermütig, dann wußte jenes keinen anderen Rat, als ihn dadurch zu schwächen, daß es ihm einen Teil seines Grundbesitzes entzog und der Kirche als eigen oder als Lehen gab. Und wo die Kirche konnte, da wartete sie nicht, bis es Bauern, König und Adel beliebte, ihren Grundbesitz zu mehren, sondern nahm, was sie nehmen konnte und rechtfertigte, wenn zur Rede gestellt, den Raub durch eine gefälschte Schenkungsurkunde. War doch die Geistlichkeit allein des Schreibens und Lesens kundig! Urkundenfälschungen waren im Mittelalter ein ebenso gewöhnliches Mittel zur Legitimierung einer Grunderwerbung als heute wucherische Darlehen, Prozesse und dergleichen. Der Benediktiner Dom Veyssière im achtzehnten Jahrhundert behauptete, unter 1200 Verleihungsurkunden, die er in der Abtei Landevenecq in der Bretagne untersuchte, seien 800 entschieden falsch. Er getraute sich nicht zu sagen, wieviel von den 400 anderen echt seien.

Es schien, als sollte die Kirche der alleinige Grundeigentümer in der ganzen Christenheit werden. Indessen war dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wuchsen. Der Adel war der Kirche immer feind; wuchs deren Grundbesitz zu sehr, dann bekam auch das Königtum Angst vor ihrer Übermacht und suchte sie mit Hilfe des Adels einzuschränken. Auch die Einfälle von Heiden und Mohammedanern schwächten in erster Linie die Kirche. Drastisch hat Montesquieu dieses Auf- und Abwogen der Kirchenmacht, dieses wechselnde Ausdehnen und Zusammenschrumpfen der Kirchengüter in Frankreich beschrieben: »Die Geistlichkeit bekam so viel, daß man ihr unter den drei französischen Dynastien (Merowinger, Karolinger und Capetinger) mehrere Male alte Güter des Königreichs geschenkt haben muß. Allein wenn die Könige, der Adel und das Volk Mittel fanden, den Geistlichen alle ihre Güter zu schenken, so fanden sie deren nicht minder, sie ihnen wieder zu nehmen. Die Frömmigkeit bewirkte unter den Merowingern die Stiftung einer Menge von Kirchen; allein der kriegerische Geist veranlaßte ihren Übergang in den Besitz der Kriegsleute, welche sie wieder unter ihre Kinder verteilten. Wie viele Ländereien büßte nicht die Geistlichkeit in dieser Weise ein! Die Karolinger taten gleichfalls ihre Hände auf und setzten ihrer Freigebigkeit weder Maß noch Ziel. Da kommen aber die Normannen, rauben und plündern, verfolgen vor allem die Priester und Mönche, suchen die Abteien auf und sehen sich überall um, wo sie irgend einen geweihten Ort finden können. ... Wie viele Güter mußte nicht die Geistlichkeit bei solchem Stande der Dinge einbüßen! Kaum waren noch Geistliche übrig, um ihr Eigentum zurückzufordern. Der Frömmigkeit der Capetinger blieb also wieder Gelegenheit genug, Stiftungen zu machen und Ländereien zu verschenken. ... Die Geistlichkeit hat immer erworben, immer wieder herausgegeben und erwirbt noch jetzt.« (Montesquieu, Geist der Gesetze, 31. Buch, 10. Kapitel.)

Die Ausdehnung eines so wechselnden Eigentums in einer Zeit, die von statistischen Aufzeichnungen keine Idee hatte, ist schwer zu bestimmen. Im allgemeinen kann man sagen, daß im Mittelalter ein Drittel des Grundbesitzes in den Händen der Kirche war.

In Frankreich wurden Aufzeichnungen über die Kirchengüter während der französischen Revolution gemacht. Diesen zufolge war die Kirche besonders reich in den seit 1665 annektierten Provinzen. Sie besaß an Grundeigentum im Cambrésis 14/17, desselben, im Hennegau und Artois drei Vierteile, in der Franche-Comté, Roussillon und dem Elsaß die Hälfte, in den anderen Provinzen ein Drittel oder mindestens ein Viertel des Grundbesitzes (Louis Blanc, Histoire de la revolution française. Brüssel 1847. 1. Band, S. 423.) Seit der Reformation hatte sich der Grundbesitz der Kirche in den französischen Ländern kaum erheblich verändert.

Die kolossale Ausdehnung des kirchlichen Grundbesitzes in Deutschland kann man daraus ersehen, daß noch 1786 die reichsunmittelbaren geistlichen Territorien 1424 Quadratmeilen umfaßten. Die ausgedehnten Besitzungen der Kirche in weltlichen katholischen Staaten, wie Bayern und Österreich, sind da ebensowenig gerechnet wie die, welche in den protestantischen Ländern säkularisiert worden waren.

Der Grundbesitz der Kirche war ein Ergebnis ihrer ökonomischen und politischen Machtstellung. Er führte seinerseits wieder eine Erweiterung dieser Macht mit sich.

Wir haben schon früher darauf hingewiesen, welche Macht der Grundbesitz im Mittelalter verlieh. Alles das darüber Gesagte gilt in verstärktem Maße für die Kirche. Ihre Güter waren die bestangebauten, die dichtestbevölkerten, ihre Städte die blühendsten, das Einkommen und die Macht, die sie aus beiden zog, daher größer, als ein gleich großer Grundbesitz dem Adel oder dem Königtum verlieh. Aber dies Einkommen bestand großenteils in Naturalien, was mit diesen anfangen? So wohl sich's auch die Herren Mönche und sonstigen Kleriker geschehen ließen, alles, was ihnen zufloß, konnten sie nicht verzehren. Wohl hatten Äbte und Bischöfe im Mittelalter Fehden auszufechten, gleich weltlichen Herren, wohl mußten sie gleich diesen ein reisiges Gefolge halten und sehr oft auch Lehensdienste leisten, aber so kriegerisch war die Kirche doch selten, daß der größte Teil ihrer Einkünfte von ihrer streitbaren Macht aufgezehrt worden wäre. Das Mittel, womit sie siegte, war weniger ihre physische als ihre geistige Überlegenheit, ihre ökonomische und politische Unentbehrlichkeit. Sie hatte für Kriegszwecke weniger auszugeben als der Adel, sie nahm mehr ein als dieser. Nicht nur war ihr Grundbesitz ergiebiger, ihr fiel auch der Zehnte zu von dem ihr nicht unterworfenen Grundbesitz. Sie hatte daher ein geringeres Interesse als der Adel, die Ausbeutung ihrer Untertanen übermäßig hoch zu schrauben. Sie war im allgemeinen milde gegen diese: unter dem Krummstab war es wirklich gut wohnen, wenigstens besser als unter dem Schwerte eines kriegs- und jagdlustigen adeligen Herrn. Trotz dieser verhältnismäßigen Milde verblieb den verschiedenen kirchlichen Institutionen doch noch ein Überschuß an Lebensmitteln, und diesen wußten sie nicht anders zu verwenden als zur Armenpflege.

Die Kirche hatte hier, wie in vielen anderen Punkten, nur an ihre Traditionen aus der Kaiserzeit anzuknüpfen. Im sinkenden Römerreich war der Pauperismus immer mehr und mehr angewachsen, die Armenunterstützung eine immer dringendere Aufgabe für den Staat geworden. Aber der alte, heidnische Staat war auf deren Lösung nicht eingerichtet; sie fiel der neuen, von den veränderten Verhältnissen hervorgerufenen und ihnen entsprechenden Organisation zu, der Kirche. Die Armenpflege, wie sie der ökonomische Zustand gebot, wurde zu einer ihrer wichtigsten Funktionen, und ihr hatte sie nicht zum mindesten das rasche Anwachsen ihrer Macht und ihres Reichtums zu verdanken. Die immer notwendiger werdenden und immer wachsenden wohltätigen Stiftungen von Privaten, Gemeinden, des Staates selbst wurden der Geistlichkeit zur Verwaltung überwiesen oder direkt geschenkt. Je mehr die Masse der Besitzlosen zunahm, desto größer der Besitz der Kirche, desto größer die Abhängigkeit der Besitzlosen von ihr, und da diese einen immer größeren Teil des Volkes ausmachten, desto größer ihr Einfluß auf das gesamte Volk.

So wie die Schenkungen hatten auch die regelmäßigen Abgaben an die Kirche zum großen Teil den Zweck, der Armenunterstützung zu dienen. Beim Zehnten war es ausdrücklich vorgeschrieben, daß er in vier Teile zu teilen sei: einer solle dem Bischof, einer der niederen Geistlichkeit zufallen, einer für den öffentlichen Gottesdienst und einer zur Erhaltung der Armen verwendet werden.

In demselben Maße, in dem die Germanen sich die römische Produktionsweise aneigneten, erwuchsen auch deren notwendige Folgen: das Privateigentum und die Eigentumslosigkeit. Das Gemeineigentum an Wald und Weide und unbebautem Land, das sich neben dem Privateigentum an bebautem Land noch erhielt, hemmte die Verarmung der Bauern. Aber gerade in den Anfängen des Mittelalters traten oft Ereignisse ein, die ganze Landstriche in Not und Elend stürzten. Zu den ewigen Kriegen und Fehden der Feudalherren und der Fürsten kamen die Einfälle unsteter Horden, die für seßhafte Ackerbauvölker so verderblich werden, Nomaden oder Seeräuber, Normannen, Ungarn, Sarazenen. Mißwachs endlich war eine häufige Ursache der Not.

Wenn das Unheil nicht eine solche Höhe erreichte, daß es der Kirche selbst Verderben brachte, dann war sie der rettende Engel in der Not. Sie tat ihre großen Vorratshäuser auf, in denen ihr Überfluß aufgespeichert lag, und spendete den Bedürftigen. Und die Klöster waren große Versorgungsanstalten, in denen gar mancher herabgekommene, verarmte, von Haus und Hof vertriebene oder erblose Adelige seine Zuflucht fand. Durch Eintritt in die Kirche gelangte er zu Macht, Ansehen und Wohlleben.

Es gab keinen Stand der feudalen Gesellschaft, der nicht ein Interesse an der Erhaltung der Kirche gehabt hätte, – wenn auch nicht jeder in gleich hohem Maße. Die Kirche in Frage stellen, hieß im Mittelalter die Gesellschaft, das ganze Leben in Frage stellen. Wohl hatte die Kirche heftige Kämpfe mit den anderen Ständen zu bestehen, aber in diesen handelte es sich nicht um ihre Existenz, sondern nur um ein Mehr oder Minder an Macht oder Ausbeutung. Das ganze materielle und natürlich ebensosehr das geistige Leben wurde von der Kirche beherrscht, sie verwuchs mit dem ganzen Volksleben, bis schließlich im Laufe der Jahrhunderte die kirchliche Denkart zu einer Art Instinkt wurde, dem man blindlings folgte, wie einem Naturgesetz, dem entgegenzuhandeln als eine Unnatürlichkeit empfunden wurde, bis alle Äußerungen des staatlichen, gesellschaftlichen und Familienlebens in kirchliche Formen gekleidet wurden. Und die Formen des kirchlichen Denkens und Handelns erhielten sich noch lange fort, nachdem die materiellen Ursachen verschwunden waren, von denen sie hervorgerufen worden.

Naturgemäß entwickelte sich die Macht der mittelalterlichen Kirche am frühesten in den Ländern, die ehemals dem Römerreiche angehört hatten, in Italien, Frankreich, Spanien, England, später in Deutschland, am spätesten im Norden und Osten des europäischen Abendlandes.

Diejenigen germanischen Stämme, die es während der Völkerwanderung versuchten, im Gegensatz zu der römischen Kirche ihre Staaten auf den Trümmern des Römerreiches zu begründen, welcher Gegensatz dadurch Ausdruck erhielt, daß sie sich der dem Katholizismus feindlichen Sekte der Arianer anschlossen, diese Stämme sind entweder untergegangen, wie die Ostgoten und Vandalen oder sie retteten sich vor dem drohenden Untergang nur durch ihre Unterwerfung unter die römische Kirche, durch ihren Übertritt zum Katholizismus.

Demjenigen Stamm aber fiel die Vorherrschaft im Abendlande zu, der von Anfang an sein Reich im Bunde mit der Kirche der Römer begründete, dem Stamm der Franken. Der König von Franken im Bündnis mit dem Haupt der römischen Kirche begründete die Vereinigung der abendländischen Christenheit zu einem Gesamtkörper mit zwei Köpfen, einem weltlichen und einem geistlichen, eine Vereinigung gegen die von allen Seiten andringenden Feinde, die durch die Verhältnisse dringend geboten war. Aber weder den Königen der Franken noch ihren Nachfolgern aus dem sächsischen Stamme gelang es, diese Vereinigung auf die Dauer durchzuführen. Die römischen Päpste haben vollführt, was die römischen Kaiser deutscher Nation vergeblich angestrebt, die Zusammenfassung der Christenheit unter einem einzigen Monarchen. Kein feudaler König, welchen Stammes immer, war der Aufgabe gewachsen, zu deren Bewältigung nur eine Organisation ausreichte, die mächtiger war als die des Königtums, die zentralisierte Kirche.

2. Die Grundlagen der Macht des Papsttums.

Der Bischof von Rom war schon vor der Völkerwanderung das Haupt der abendländischen Kirche geworden; er war der Erbe der römischen Kaiser als Vertreter der Stadt, die noch immer die tatsächliche Hauptstadt des westlichen Reiches war, wenn sie auch aufgehört hatte, die Residenz der Kaiser zu sein.

Mit dem römischen Reiche zerfiel vorübergehend auch die Macht der römischen Päpste, die kirchlichen Organisationen der verschiedenen germanischen Reiche wurden von ihnen unabhängig. Aber die Päpste erlangten bald ihre frühere Stellung wieder, ja erweiterten sie. Wie herabgekommen Italien auch sein mochte, es war immer noch das höchstkultivierte Land des europäischen Westens. Die Landwirtschaft war dort noch auf einer höheren Stufe als in den anderen Ländern, die Gewerbe nicht ganz erstorben; noch gab es städtisches Leben und einen, wenn auch kümmerlichen, Handel mit dem Osten. Die Schätze, aber auch die Produktionsweise Italiens waren die Sehnsucht der Halbbarbaren jenseits der Alpen. Sie wurden um so reicher und erlangten um so viel mehr Wohlleben, je enger ihre Verbindung mit Italien. Die Mächte, welche an dieser Entwicklung ein besonderes Interesse hatten, weil sie ihnen zugute kam, das Königtum und die Kirche eines jeden christlichen Landes des Okzidents, mußten daher die Verbindung mit Italien möglichst fördern. Italiens Mittelpunkt war aber Rom. Je abhängiger in ökonomischer Beziehung die Länder des Abendlandes von Italien wurden, desto abhängiger wurden ihre Könige und Bischöfe von Rom, desto mehr wurde der Mittelpunkt Italiens der Mittelpunkt der abendländischen Christenheit.

Die ökonomische Abhängigkeit von Italien und der Einfluß Roms auf Italien (soweit sich dieses überhaupt im Bereich des Katholizismus, nicht der griechischen Kirche und des Islam befand) waren jedoch kaum jemals so überwältigend, um die enorme Macht zu erklären, die das Papsttum erlangte. Sie erklären bloß, warum die Leitung und Wegweisung der Christenheit zu den Päpsten kam. Die Wegweisung wird aber zum Befehl, wenn im Kampfe geübt; der Berater vor der Schlacht wird zum Diktator während der Schlacht. Sobald sich Kämpfe entspannen, welche die ganze Christenheit bedrohten, mußte das Papsttum als der einzige Faktor, der von allen Völkern derselben als Leiter anerkannt wurde, notwendig die Führung, die Organisierung des Widerstandes übernehmen, und je länger die Kämpfe dauerten, je gewaltiger sie wurden, desto mehr mußte der Wegweiser zum unumschränkten Herrn, desto mehr mußten ihm alle die Kräfte dienstbar werden, die gegen den gemeinsamen Feind aufgeboten wurden.

Und solche Kämpfe kamen. Der Zusammenbruch des Römerreichs hatte nicht nur die Germanen in Bewegung versetzt, sondern auch alle die zahlreichen, anscheinend unerschöpflichen Stämme halb oder gar nicht seßhafter Barbaren, die dem römischen Reiche und den Germanen benachbart waren. In demselben Maße, in dem die Germanen nach Westen und Süden vordrangen, drängten ihnen andere Völkerschaften nach. Die Slawen setzten über die Elbe; die Steppen Südrußlands entsendeten ein wildes Reitervolk nach dem anderen, Hunnen, Avaren, Ungarn (diese zu Ende des neunten Jahrhunderts), die längs der ungeschützten Donau und über diese hinaus ihre Plünderungszüge bis jenseits des Schwarzwaldes, ja des Rheins und jenseits der Alpen nach Norditalien ausdehnten. Aus Skandinavien, dieser vagina gentium, entströmte ein Zug kühner Seeräuber nach dem anderen, die Normannen, denen kein Meer zu breit war, es zu befahren, kein Reich zu groß, es anzugreifen. Sie beherrschten die Ostsee, bemächtigten sich Rußlands, setzten sich auf Island fest, entdeckten Amerika, lange vor Kolumbus; was aber für uns das wichtigste, sie drohten seit dem Ende des achten Jahrhunderts bis ins elfte Jahrhundert die ganze, mühsam entwickelte Kultur der seßhaft gewordenen deutschen Stämme zu vernichten. Nicht nur die Küstenländer an der Nordsee verödeten gänzlich infolge ihrer Plünderungszüge, mit ihren kleinen Schiffen fuhren sie auch die Flüsse hinauf bis tief ins Land hinein; sie fürchteten aber auch nicht die Gefahren langer Seefahrt, begannen bald Spanien anzugreifen und dehnten schließlich ihre Raubzüge bis nach Südfrankreich und Italien aus.

Der gefährlichste Feind der seßhaft gewordenen deutschen Stämme waren jedoch die Araber, oder besser gesagt, die Sarazenen, wie die Schriftsteller des Mittelalters alle jene orientalischen Völker nannten, die sich auf den Anstoß der Araber hin und infolge der durch diese erzeugten Umwälzung in Bewegung setzten, um in Ländern höherer Kultur Beute und Wohnsitze zu erlangen. Dies schließt natürlich nicht aus, daß die Sarazenen diese Kultur im Laufe der Zeit aufnahmen und weiter verbreiteten, so daß die den Ägyptern gegenüber barbarischen Araber den Deutschen gegenüber »Kulturträger«, das heißt Verbreiter einer höheren Produktionsweise wurden, wie diese, die den Italienern als Barbaren erschienen, »Kulturträger« waren für Slawen und Ungarn.

Im Jahre 638 brachen die Araber in Ägypten ein und eroberten rasch die ganze Nordküste Afrikas, erschienen im Anfang des achten Jahrhunderts in Spanien und bedrohten nicht ganz hundert Jahre nach ihrem Einfall in Ägypten das Frankenreich. Karl Martells Sieg rettete dieses vor dem Schicksal des Reiches der Westgoten; aber die Sarazenen waren damit keineswegs unschädlich gemacht. Sie blieben in Spanien, setzten sich in Süditalien und verschiedenen Punkten Norditaliens und Südfrankreichs fest, besetzten die wichtigsten Alpenpässe und unternahmen ihre Raubzüge bis in die Ebenen am Nordabhang der Alpen.

Die seßhaft gewordenen deutschen Stämme hatten während der Völkerwanderung den größten Teil Europas und einen Teil Nordafrikas besetzt; jetzt sahen sie sich auf einen kleinen Raum zusammengedrängt und waren kaum imstande, diesen zu behaupten: Burgund, so ziemlich der geographische Mittelpunkt des katholischen Abendlandes im zehnten Jahrhundert, war den Einfällen der Normannen ebenso preisgegeben, wie denen der Ungarn und Sarazenen. Das Ende der Völker des christlichen Abendlandes schien gekommen.

Und gerade in der Zeit, in der der Andrang der äußeren Feinde am mächtigsten, war die Ohnmacht der Staatsgewalt am höchsten, die Feudalanarchie am schrankenlosesten, das einzige, feste, zusammenhaltende Band die päpstliche Kirche.

Wie manche andere monarchische Gewalt ist auch die päpstliche im Kampfe gegen den auswärtigen Feind so mächtig geworden, daß sie die Kraft erlangte, auch den inneren Gegnern Trotz zu bieten.

Den zum Teil kulturell hoch überlegenen Sarazenen war nur mit dem Schwerte beizukommen: zu der Bekämpfung des Islam hat das Papsttum die ganze Christenheit aufgeboten und organisiert. Die unsteten Feinde im Norden und Osten konnten durch Waffengewalt für den Augenblick vertrieben, nicht aber dauernd gebändigt werden. Sie wurden unterjocht durch dieselben Mittel, durch die die römische Kirche die Germanen unterworfen hatte: sie mußten sich der höheren Produktionsweise beugen, wurden dem Christentum gewonnen, seßhaft und damit unschädlich gemacht.

Seinen glänzendsten Triumph feierte das Papsttum über die Normannen. Es verwandelte sie aus den furchtbarsten der nördlichen Feinde der Christenheit zu ihren streitbarsten und tatkräftigsten Vorkämpfern gegen den südlichen Feind. Das Papsttum schloß mit den Normannen ein Bündnis, ähnlich dem, welches es einst mit den Franken geschlossen. Es beruhte darauf, daß die Normannen noch nicht zur Ruhe gebracht waren, sobald man sie der feudalen Produktionsweise einverleibt hatte. Sie blieben das rastlose Räubervolk, bloß die Objekte ihrer Räuberzüge wurden jetzt andere. Dadurch, daß man sie zu Feudalherren machte, wurde die dem Feudalismus eigenartige Gier nach Land in ihnen erweckt, aus Plünderern wurden sie Eroberer.

Das Papsttum wußte diese Eroberungssucht trefflich zu benutzen, indem es sie gegen seine furchtbarsten Feinde, die Sarazenen, wendete. Das Papsttum hatte durch die Siege der Normannen ebensoviel zu gewinnen, als diese durch die Siege des Papsttums. Die Normannen wurden die Vasallen des Papstes, der sie mit ihren Eroberungen belehnte. Der Papst segnete ihre Waffen, und der päpstliche Segen war im elften Jahrhundert von großer Wirkung, indem er die mächtige Organisation der Kirche in den Dienst des Gesegneten stellte. Mit päpstlicher Hilfe haben die Normannen England und Unteritalien erobert.

Damit, daß das Papsttum die Normannen zu seinen Dienstmannen machte – allerdings zu ziemlich ungebärdigen – indes es gleichzeitig die Slawen und Ungarn bändigte – auch diese wurden Lehensleute des Papstes –, erreichte es den Höhepunkt seiner Macht. Es triumphierte nicht nur über seine inneren Feinde, es zwang nicht nur den deutschen Kaiser zur Demütigung von Kanossa, es fühlte sich stark genug, die Offensive gegen die Sarazenen zu eröffnen: das Zeitalter der Kreuzzüge begann. Folgende Zahlen dürften nicht ohne Interesse sein: Die Bekehrung der Ungarn in größerem Maßstab begann unter Stephan I. (997 bis 1038). Die Normannen setzten sich in Unteritalien fest im Jahre 1016, erhielten die päpstliche Belehnung 1053, eroberten England 1066; elf Jahre später demütigte sich Heinrich IV. in Kanossa und 1095 begann der erste Kreuzzug. Die Päpste waren die Organisatoren der Kreuzzüge, die Normannen ihre Vorkämpfer. Was diese nach dem Osten trieb, war die Ländergier: sie errichteten Feudalstaaten in Palästina, Syrien, Kleinasien, auf Cypern, ja schließlich auch im griechischen Reiche. In letzterem Falle fehlte selbst die Illusion eines Kampfes gegen die »Ungläubigen«.

Neben den Normannen wurde die Hauptmasse der Kreuzfahrer aus Leuten gebildet, denen der soziale Druck in der Heimat unerträglich geworden war, Leibeigenen, die von ihren Feudalherren übermäßig geschunden wurden, niederen Adeligen, welche der Übermacht der großen Feudalherren erlagen, und dergleichen mehr.

Im Ritterheer des ersten Kreuzzugs ragten die Normannen vor allen anderen hervor. Das Bauernheer wurde charakteristischerweise befehligt von mehreren verkommenen Rittern, von denen einer den bezeichnenden Namen führte: Walter von Habenichts. Im blühenden Orient hofften sie zu erreichen, was das Vaterland ihnen versagte: Wohlstand und Wohlleben. Zogen die einen mit der Absicht aus, im eroberten Lande als Herren zu bleiben, so die anderen mit der Absicht, mit reicher Beute heimzukehren.

Es beweist aber die große Macht des Papsttums, daß es auch Elemente zum Kreuzzug zu bewegen, ja zu zwingen verstand, die im Orient gar nichts zu holen hatten. Selbst mancher deutsche Kaiser mußte sich's sehr wider seinen Willen gefallen lassen, zur päpstlichen Armee rekrutiert zu werden, und mußte das päpstliche Feldzeichen, das Kreuz, tragen.

3. Der Sturz der päpstlichen Macht.

Die Kreuzzüge bedeuteten den Höhepunkt der päpstlichen Macht. Gerade sie waren aber das kräftigste Mittel zur raschen Entwicklung jenes Elements, welches die feudale Welt und ihren Monarchen, den Papst, erschüttern und schließlich stürzen sollte: des Kapitals.

Der Orient wurde durch sie dem Abendland näher gebracht, Warenproduktion und Handel mächtig gefördert. Damit begann die Kirche ein anderes Gesicht anzunehmen. Die oben gezeichnete Entwicklung des Grundbesitzes infolge der Entstehung der ländlichen Warenproduktion ging vielfach auch im kirchlichen Grundbesitz vor sich. Auch hier sehen wir seit dem vierzehnten Jahrhundert zunehmende Belastung der Bauern, Annexion von Gemeindegut und Bauernlegung vor sich gehen. Die erwachende Habsucht bewog aber auch die Kirche, ihre Armenpflege immer mehr einzuschränken. Was man früher gern hergegeben hatte, weil man es selbst nicht verwenden konnte, behielt man jetzt zurück, sobald es eine verkäufliche Ware geworden war, sobald man Geld dafür bekam, das man in Gegenstände des Luxus oder der Macht umsetzen konnte. Die Tatsache, daß Staatsgesetze erlassen wurden, welche die Kirche zur Armenunterstützung zwingen sollten, beweist, daß diese ihrer Pflicht nicht mehr in genügendem Maße nachkam. Bereits unter Richard II. von England wurde ein Gesetz erlassen (1391), welches den Klöstern befahl, einen Teil des Zehnten zur Unterstützung der Armen und der Pfarrgeistlichkeit zu verwenden.

Indes die Kirche das niedere Volk gegen sich erbitterte, weil sie es gegen die Proletarisierung zu wenig schützte, diese oft förderte, zog sie sich die Feindschaft des Bürgertums zu, weil sie immer noch einen gewissen Schutzwall gegen die Verarmung der Volksmassen bildete, deren Proletarisierung nicht rasch genug vorschreiten ließ. Der Besitzlose war dem Kapital nicht auf Gnade und Ungnade überliefert, solange er noch von der Kirche ein, wenn auch dürftiges, Almosen erhielt. Daß diese Tausenden von Mönchen erlaubte, ein müßiges Leben zu führen, anstatt sie aufs Pflaster zu werfen und den Kapitalisten als Lohnsklaven zur Verfügung zu stellen, war in den Augen des aufstrebenden Bürgertums eine Versündigung am Nationalwohlstand. Daß die Kirche an den zahlreichen Feiertagen der Feudalzeit festhielt, trotzdem nach der Maxime der aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft der Arbeiter nicht arbeitet, um zu leben, sondern lebt, um zu arbeiten, das war geradezu ein Verbrechen.

Der zunehmende Reichtum der Kirche erregte den Neid und die Habsucht aller Besitzenden, vor allem des großen Grundbesitzes und der Landspekulanten. Auch die Könige wurden lüstern nach den Kirchenschätzen, um ihre Kassen zu füllen und sich »Freunde« zu erkaufen.

In demselben Maße, in dem infolge der Ausbreitung der Warenproduktion die Habsucht und der Reichtum der Kirche wuchs, in demselben Maße wurde sie überflüssiger in ökonomischer und politischer Beziehung. Eine neue Produktionsweise entwickelte sich in den Städten, die der feudalen überlegen war, und die Städte lieferten die Organisationen und die Männer, deren die neue Gesellschaft und der neue Staat bedurften. Die Geistlichen hörten immer mehr auf, die Lehrer des Volkes zu sein, das Wissen der Bevölkerung, namentlich in den Städten, wuchs über das ihre hinaus, sie wurden einer der unwissendsten Teile des Volkes. Wie überflüssig die Kirche als Grundbesitzer wurde, geht aus dem hervor, was oben über den Grundbesitz im allgemeinen gesagt worden ist.

Aber auch für die Staatsverwaltung wurde die Kirche immer überflüssiger. Allerdings bedurfte der moderne Staat auf dem Lande noch der Pfarrgeistlichkeit und einer diese umfassenden Organisation; heute noch hat die Pfarrgeistlichkeit in zurückgebliebenen Ländern administrative Aufgaben, allerdings ziemlich unbedeutender Natur, zu erfüllen, zum Beispiel die Zivilstandsregister zu führen. Erst zu einer Zeit, als die moderne Bureaukratie hoch entwickelt war, konnte man daran denken, die Pfarrgeistlichkeit als staatliche Institution ganz aufzuheben oder mindestens ihr alle weltlichen Verwaltungsgeschäfte zu nehmen.

Die Pfarrgeistlichkeit war noch notwendig im sechzehnten Jahrhundert; an ihre Beseitigung dachte niemand; aber das moderne, auf der Geldmacht beruhende Königtum wollte und konnte sich ihr und ihren Leitern, den Bischöfen, nicht länger beugen. Die Geistlichen mußten, soweit sie für die Staatsverwaltung notwendig waren, Beamte des Staates werden.

Zwei Elemente der Kirche aber wurden immer überflüssiger in ökonomischer und politischer Beziehung, ja vielfach geradezu ein Hemmschuh, zwei Elemente, die ihre vornehmsten Bestandteile im Mittelalter ausgemacht hatten: die Klöster und das Papsttum.

Wieso die ersteren überflüssig wurden, ist aus dem Gesagten bereits zu entnehmen: sie wurden überflüssig für die Bauern, wie jeder Feudalherr; überflüssig für das Volk als Lehrer; überflüssig als Schützer der Armut, der sie die Almosen entzogen; überflüssig als Bewahrer von Kunst und Wissenschaften, die in den Städten kräftig erblühten; überflüssig für den Zusammenhalt und die Verwaltung des Staates; sie wurden endlich überflüssig infolge der Überflüssigkeit des Papsttums, dessen kräftigste Stütze sie gewesen. Ohne jegliche Funktionen im gesellschaftlichen und politischen Leben, unwissend, träge, roh, dabei unermeßlich reich, versanken die Mönche immer tiefer in Gemeinheit und Liederlichkeit und wurden ein Gegenstand allgemeiner Verachtung. Boccaccios Dekamerone zeigt uns besser, als es die gelehrteste Abhandlung vermöchte, die Verkommenheit des Mönchswesens des vierzehnten Jahrhunderts in Italien. Im folgenden Jahrhundert wurde es nicht besser. Die Ausdehnung der Warenproduktion verpflanzte die moralische Verpestung der Klöster bis nach Deutschland und England.

Ebenso überflüssig, wie die Klöster, wurde die päpstliche Gewalt. Ihre hauptsächlichste Funktion, die Einigung der Christenheit gegen die Ungläubigen, wurde beseitigt durch die Erfolge der Kreuzzüge. Wohl gelang es den Abenteurern aus dem Abendland nicht, ihre Eroberungen in den Ländern des Islams und der griechischen Kirche zu halten. Aber die Kraft der Sarazenen wurde durch die Kreuzzüge doch gebrochen. Sie wurden aus Spanien und Italien vertrieben und hörten auf, eine Gefahr für das Abendland zu bilden.

An Stelle der Araber und Seldschucken trat freilich eine neue orientalische Macht auf, die Osmanen, die das griechische Reich vernichteten und das Abendland bedrohten. Aber der Angriff kam diesmal von einer anderen Seite; nicht vom Süden, sondern vom Osten; er richtete seine Wucht nicht gegen Italien, sondern gegen die Länder an der Donau.

Die Angriffe der Sarazenen hatten geradezu die Existenz des Papsttums in Frage gestellt. Dieses wurde im Interesse seiner Selbsterhaltung gezwungen, die Kräfte der ganzen Christenheit gegen die Ungläubigen aufzubieten. Von den Türken dagegen hatten die päpstlichen Gebiete wenig zu fürchten, solange die Venetianer und Johanniter ihnen im östlichen Becken des Mittelmeers Widerstand leisteten. Wohl aber wurden in erster Linie die Ungarn von den Türken bedroht, nachdem diese die Südslawen niedergeworfen hatten, in zweiter Linie Süddeutschland und Polen. Der Kampf gegen die Türken war keine Angelegenheit der ganzen Christenheit, sondern eine lokale Angelegenheit ihrer östlichen Bollwerke. Wie der Kampf gegen Heiden und Sarazenen die ganze Christenheit zur päpstlichen Monarchie zusammengeschweißt hatte, so wurden jetzt durch den Kampf gegen die Türken die Ungarn, Tschechen, Südostdeutschen in einem Staatswesen vereinigt, der habsburgischen Monarchie. Und daß die Inhaber dieser Monarchie die berufenen Schützer des deutschen Reiches vor den Türken waren, trug wohl am meisten dazu bei, daß die Kaiserkrone dauernd zu ihnen gelangte.

Bereits gegen das Ende des vierzehnten Jahrhunderts begannen die Streifzüge der Türken nach Ungarn und veranlaßten den König dieses Landes, Sigmund, gegen sie zu ziehen. Er erlitt eine furchtbare Niederlage bei Nikopolis im Jahre 1396. Eine zweite, ebenso große Niederlage erlitten die vereinigten Polen und Ungarn unter König Ladislaus bei Varna (1444). 1453 fiel Konstantinopel in die Hände der Türken. Damit wurde die Türkengefahr brennend. Von 1438 an blieb die Kaiserwürde dauernd bei den Habsburgern, solange sie überhaupt noch bestand, das heißt bis 1806. Die Türkengefahr hat vielleicht auch dazu beigetragen, daß Bayern und Polen während der Reformation kaiserlich und päpstlich gesinnt, das heißt katholisch blieben.

Eine Zeitlang hielt das Papsttum noch an seiner Tradition fest, obwohl diese immer gegenstandsloser wurde, und tat so, als wolle es auch die Aufgabe übernehmen, den Widerstand gegen die Türken zu organisieren. Aber es war ihm selbst immer weniger ernst damit, und immer mehr wurden die Hilfsmittel, welche die Päpste von den Völkern der Christenheit zum Kampfe gegen die Türken sammelten, zum Privatnutzen der Päpste selbst verwendet. Die Macht des Papsttums und der Glaube an seine Mission, die bis ins zwölfte Jahrhundert Mittel waren, die Völker der Christenheit zu retten, wurden seit dem vierzehnten Jahrhundert zu Mitteln, sie auszubeuten.

Die Zentralisation der Kirche hatte deren Machtmittel sämtlich in den Dienst des Papsttums gestellt. Dessen Kraft war damit enorm gewachsen, aber sein Reichtum wurde nur wenig vermehrt, solange die Warenproduktion noch schwach und unentwickelt blieb. Solange der bei weitem größte Teil der Einkünfte der Kirche in Naturalien bestand, konnte das Papsttum daraus keinen erheblichen Nutzen ziehen. Es konnte sich nicht von Fürsten oder Bischöfen Korn, Fleisch, Milch über die Alpen senden lassen. Geld war aber bis tief in die Zeit der Kreuzzüge hinein ein seltenes Ding. Allerdings erlangten die Päpste mit der Stärkung ihrer Gewalt auch das Recht der Verleihung kirchlicher Ämter außerhalb Italiens. Damit wurde der Klerus von ihnen abhängig. Aber solange mit diesen Ämtern soziale oder politische Funktionen verknüpft waren und der größte Teil ihrer Einkünfte in Naturalien bestand, mußten sie an Männer verliehen werden, die arbeiten wollten, die des Landes kundig waren und darin bleiben wollten. Der Papst konnte weder mit ihnen seine italienischen Günstlinge belohnen, noch konnte er sie verkaufen.

Alles das änderte sich mit der Entwicklung der Warenproduktion. Kirche, Fürst, Volk kommen jetzt in den Besitz von Geld. Geld ist leicht transportabel, verliert seinen Wert nicht unterwegs und kann in Italien ebensogut verwendet werden, wie etwa in Deutschland. Jetzt wuchs das Verlangen des Papsttums nach der Ausbeutung der Christenheit. Es hatte natürlich stets seine Nützlichkeit zu seinem eigenen Vorteil auszubeuten gesucht, wie jede Klasse – und das Papsttum war eine Klasse: es umfaßte nicht den Papst allein, sondern einen großen Teil der, namentlich romanischen, Geistlichkeit, die von ihm Ämter und Würden zu erwarten hatte, deren Einkommen um so größer war, je größer das Einkommen des Papsttums. Es hatte daher in demselben Maße, in dem seine Macht stieg, auch versucht, aus den kirchlichen Organisationen und der Laienwelt Geldabgaben herauszuschlagen, und es bedurfte solcher auch, wenn es seine Funktionen erfüllen wollte. Aber wie gesagt, diese Geldabgaben waren ursprünglich geringfügig. Mit der Entfaltung der Warenproduktion wuchs die Geldgier der Päpste, wuchs ihr Streben nach Ausbeutung, indes ihre Funktionen immer geringer wurden.

Ebenso erfinderisch wie die modernen Finanzkünstler waren die der Päpste des vierzehnten, fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts. Die direkten Beisteuern waren im allgemeinen unbedeutend. Der 1320 den Polen auferlegte Peterspfennig dürfte kaum einen hohen Ertrag geliefert haben. Einen höheren Ertrag warf der englische Peterspfennig ab, der schon seit dem achten Jahrhundert nach Rom gesandt wurde. Anfangs geringfügig – er diente zur Erhaltung einer Schule für englische Geistliche in Rom – schwoll er im vierzehnten Jahrhundert so an, daß er das Einkommen des englischen Königs überstieg.

Aber wie andere Finanzgenies zogen auch die päpstlichen die indirekten Steuern den direkten vor, welche die Ausbeutung zu unverhüllt erkennen ließen. Der Handel war damals das vornehmste Mittel, die Leute zu prellen und große Reichtümer rasch zu erwerben. Warum sollten die Päpste nicht auch Händler werden, Händler mit denjenigen Waren, die sie am billigsten zu stehen kamen? Der Handel mit Kirchenämtern und Ablässen begann.

In der Tat, die Kirchenämter wurden im Verlauf der Entwicklung der Warenproduktion sehr wertvolle Waren. Eine Reihe von Funktionen der Kirche verschwanden oder wurden gegenstandslos, reine Formalitäten. Die Ämter aber, die zur Vollziehung dieser Funktionen errichtet worden waren, blieben, oft wurden sie noch vermehrt. Ihre Einkommen wuchsen mit der Macht und der Habsucht der Kirche, und ein immer größerer Teil dieser Einkommen wurde Geldeinkommen, das man auch anderswo verzehren konnte, als an dem Ort, an dem das Amt haftete. Eine Reihe von Kirchenämtern wurde so zu bloßen Geldquellen, und als solche erhielten sie einen Wert. Die Päpste verschenkten sie an ihre Günstlinge oder verkauften sie, natürlich meistens an Leute ihrer Umgebung, Italiener und Franzosen, die gar nicht daran dachten, diese Ämter anzutreten, am allerwenigsten dann, wenn sie in Deutschland lagen, und die sich ihr Gehalt über die Alpen senden ließen.

Das Papsttum wußte indes noch andere Mittel, die Kirchenämter für sich auszubeuten, zum Beispiel die Annaten, Summen, die bei der jedesmaligen Besetzung eines Bischofsitzes vom neueingesetzten Bischof an den päpstlichen Stuhl zu zahlen waren.

Dazu kam der Handel mit der Sündenvergebung, den Ablässen, der immer unverschämter wurde. Die Ablässe folgten einer dem anderen (wir finden fünf Ablässe kurz vor der Reformation: 1500, 1501, 1504, 1509, 1517); ihr Verkauf wurde schließlich sogar verpachtet.

Eine treffliche Zusammenstellung der Methoden der Ausbeutung durch die Päpste findet man in den »Beschwerden der deutschen Nation« (Gravamina nationis Germanicae), die dem Baseler Konzil (1431 bis 1449) eingereicht wurden, das die Kirche reformieren sollte. Es heißt darin: 1. Die Päpste glauben sich an Bullen, Verträge, Privilegien und Urkunden, welche von ihren Vorgängern unbedingt ausgestellt wurden, durchaus nicht gebunden, sie erteilen auf irgend eines elenden Menschen Gesuch sogleich Revokationen und Suspensionen. 2. Keine Wahlen (zu den Kirchenämtern) werden respektiert, der Papst vergibt die Bistümer, Dekanate, Propsteien und Abteien nach Belieben, auch wenn man die Stelle vorher teuer erkauft hat (welch schnöde Verletzung der Gesetze des Warenhandels!). 3. Die besten deutschen Pfründen werden stets römischen Kardinälen und Protonotarien verliehen. 4. Die päpstliche Kanzlei verleiht so viele Expektanzen oder Anwartschaften auf Stellen und Pfründen, daß notwendig das Geld oft dabei verloren geht und daß unzählige Prozesse unvermeidlich werden. 5. Die Annaten (siehe oben) steigen immer höher; sie betrugen in Mainz zuerst 10 000, dann 20 000 und endlich 25 000 Dukaten. Wie nun, wenn in einem Jahre zwei Bischöfe sterben? 6. Man besetzt die geistlichen Stellen mit Italienern, welche weder die Sprache verstehen noch gute Sitten haben. 7. Man widerruft alte, längst bezahlte Ablässe, um neue verkaufen zu können. 8. Man läßt den Türkenzehnten erheben und verwendet doch das Geld nicht zum Zug gegen die Türken oder zur Unterstützung der Griechen. 9. Prozesse aller Art werden nach Rom gezogen, wo alles um Geld feil ist.«

Weniger diplomatisch als diese offizielle Beschwerde lautete die Anklage, die Hutten in seinem 1520 erschienenen Dialog »Vadiscus« dem Papsttum entgegenschleuderte; sie gehört zu den glänzendsten Erzeugnissen der agitatorischen Literatur der neueren Zeit. Kann es etwas Zündenderes geben, als den Schluß, der uns deutlich erkennen läßt, wie das Papsttum der Reformationszeit den Deutschen erschien? Er lautet: »Sehet da die große Scheune des Erdkreises (Rom), in welcher zusammengeschleppt wird, was in allen Landen geraubt und genommen worden; in deren Mitte jener unersättliche Kornwurm sitzt, der ungeheure Haufen Frucht verschlingt, umgeben von seinen zahlreichen Mitfressern, die uns zuerst das Blut ausgesogen, dann das Fleisch abgenagt haben, jetzt aber an das Mark gekommen sind, uns die innersten Gebeine zu zerbrechen und alles, was noch übrig ist, zu zermalmen. Werden da die Deutschen nicht zu den Waffen greifen, nicht mit Feuer und Schwert anstürmen? Das sind die Plünderer unseres Vaterlandes, die vormals mit Gier, jetzt mit Frechheit und Wut die weltbeherrschende Nation berauben, vom Blut und Schweiße des deutschen Volkes schwelgen, aus den Eingeweiden der Armen ihren Wanst füllen und ihre Wollust nähren. Ihnen geben wir Gold; sie halten auf unsere Kosten Pferde, Hunde, Maultiere, Lustdirnen und Lustknaben. Mit unserem Gelde pflegen sie ihre Bosheit, machen sich gute Tage, kleiden sich in Purpur, zäumen ihre Pferde und Maultiere mit Gold, bauen Paläste von lauter Marmor. Als Pfleger der Frömmigkeit versäumen sie diese nicht allein, ja sie verachten sie sogar, beflecken und schänden sie. Und während sie früher durch Schöntun uns köderten und durch Lügen, Dichten und Trügen uns Geld abzulocken wußten, greifen sie jetzt zu Schrecken, Drohungen und Gewalt, um uns zu berauben, wie hungrige Wölfe tun. Und wir müssen sie noch liebkosen, dürfen sie nicht stechen oder rupfen, ja nicht einmal berühren oder antasten. Wann werden wir einmal klug werden und uns rächen? Hat uns früher davor die vermeintliche Religion zurückgehalten, jetzt treibt und zwingt uns dazu die Not.«

Wir haben diesen beiden Zeugnissen so ausführlichen Raum gewidmet, um deutlich zu zeigen, was für das Verständnis der Reformation unumgänglich, daß diese, die Empörung gegen das Papsttum, im wesentlichen ein Kampf zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten war, nicht ein Kampf um bloße Mönchsdogmen oder vage Schlagworte, etwa ein Kampf zwischen »Autorität« und »Individualismus«.

Wie beim feudalen Grundbesitz, so finden wir beim Papsttum, nur bei diesem viel früher als bei jenem, daß es die Ausbeutung der Massen in demselben Maß immer höher schraubte, in dem es entbehrlicher, ja schädlich wurde. Daß da schließlich der Moment kommen mußte, wo den Völkern die Geduld riß und sie den Ausbeutern die Tür wiesen, ist klar.

Die Päpste beschleunigten ihr Verderben dadurch, daß sie immer verächtlicher wurden. Es ist dies das Schicksal jeder herrschenden Klasse, die sich überlebt hat und zum Untergang reif ist. Während ihr Reichtum wächst, verschwinden ihre Funktionen, es bleibt ihr nichts anderes mehr zu tun übrig, als zu verschlemmen, was sie von den ausgebeuteten Klassen erpreßt. Sie verkommt intellektuell und moralisch, oft auch physisch. In demselben Maße, in dem ihre unsinnige Verschwendung die darbenden Volksmassen empört, verliert sie an Kraft, ihre Herrschaft zu behaupten. So wird früher oder später jede Klasse beseitigt, die für die Gesellschaft schädlich geworden ist.

Das Papsttum gab seit den Kreuzzügen den Gläubigen besonderen Anstoß, moralischen wie intellektuellen.

Italien war, wie wir bereits wissen, das reichste Land des europäischen Westens während des Mittelalters; es bewahrte die meisten Überlieferungen der römischen Produktionsweise; es war der Vermittler des Handels zwischen Orient und Okzident; in Italien entwickelte sich zuerst die Warenproduktion, zuerst der Kapitalismus. Damit kam dort zuerst eine neue, der feudalen, kirchlichen entgegengesetzte Anschauungsweise auf. In tollem, jugendlichem Übermut setzte sich das Bürgertum über alle herkömmlichen Schranken hinweg; Frömmigkeit, herkömmliche Zucht und Sitte, alles wurde lachend beiseite geworfen. Die Päpste konnten sich dem Einfluß ihrer Umgebung nicht entziehen. Ja, als weltliche Fürsten Italiens marschierten sie an der Spitze der neuen, revolutionären geistigen Richtung. Als solche verfolgten sie dieselbe, von uns oben gekennzeichnete Politik, wie alle anderen Fürsten ihrer Zeit: Förderung der Bourgeoisie, der Warenproduktion, des Handels, der nationalen Größe. Als Oberhäupter der Kirche sollten sie dagegen international sein und an der Grundlage der kirchlichen Macht, der feudalen Produktionsweise festhalten. Als weltliche Fürsten waren sie ein revolutionäres Element, als Kirchenfürsten ein reaktionäres. In den Päpsten des fünfzehnten und anfangs des sechzehnten Jahrhunderts finden wir daher eine sonderbare Mischung zweier sehr verschiedener Elemente, jugendlicher Keckheit und greisenhafter Lüsternheit. Die revolutionäre Verachtung des Herkömmlichen, die einer aufstrebenden Klasse eigen ist, mengte sich mit der unnatürlichen Genußsucht einer dem Untergang entgegeneilenden Ausbeuterklasse. Diese sonderbare Mischung, die wir noch im nächsten Kapitel näher zu betrachten haben, findet ihren Ausdruck im ganzen geistigen Leben der italienischen Renaissance. Die Mischung revolutionärer und reaktionärer Elemente war eine Eigentümlichkeit des Humanismus, auch des Humanisten Thomas More.

Ob revolutionär, ob reaktionär, das Ergebnis war ein Leben, das allen feudalen Anschauungen von Anstand und Sitte schnurstraks zuwiderlief. Und dieses lockere Leben gelangte zu voller Blüte, als Deutschland noch unter dem Banne des Feudalismus stand. Rom spielte die Rolle, die später bis noch vor wenigen Jahrzehnten Paris gespielt hat. So wie alle Welt nach Paris, pilgerte bis zur Reformation jedermann nach Rom, der es erschwingen konnte, und mancher gute Deutsche hatte dort dasselbe Schicksal, das drei bis vier Jahrhunderte später viele seiner Nachkommen in Paris haben sollten; er versuchte die welsche »Unsittlichkeit« mitzumachen, aber es bekam ihm schlecht und voll Katzenjammers und moralischer Entrüstung über das Babel am Tiber kehrte er über die Alpen zurück. Drei Dinge, sagt Hutten, bringen die Pilger aus Rom heim: böse Gewissen, schlechte Mägen, leere Beutel. Wäre es ihm nicht um die Dreizahl zu tun gewesen, hätte er als viertes die Syphilis nennen können.

Daß das Bild, welches solche »Pilger« vom »heiligen Vater« entwarfen, zu den mittelalterlichen Begriffen von Heiligkeit wenig stimmte, läßt sich denken. Am empörendsten war wohl für die frommen Seelen der Unglaube, der in Rom herrschte, und den die Päpste kaum verhüllten.

Von Leo X., dem Papst, unter dem die Reformation begann, wird erzählt, er habe erklärt, er wolle das Märchen von Christus gelten lassen, weil es ihm viel genützt habe. Ganz derselbe Ausspruch wird aber bereits Bonifaz VIII. in den Mund gelegt, der zwei Jahrhunderte vor Leo lebte. Er war entweder ein stehendes Witzwort am päpstlichen Hofe oder wurde einer erfundenen Anekdote entnommen, die man allgemein annahm, weil sie die Päpste sehr gut kennzeichnete. Sicher ist es, daß Leo X. dem Volke lachend den Segen erteilte und seinen Kaplänen aufs strengste befahl, vor ihm nicht länger als eine Viertelstunde zu predigen. Daß die Päpste das Gelübde der Keuschheit nicht allzu ernsthaft nahmen, ist naheliegend. Sannazaro (1458 bis 1530) sagte spottend vom Papst Innozenz VIII., er habe Rom, nachdem er es durch seine Bedrückungen verödet, mit seinen Kindern wieder bevölkert. (Ludwig Geiger, Renaissance und Humanismus in Italien und Deutschland. Berlin 1881. S. 261.)

Indes, so ungläubig die Päpste und ihre Höflinge sein mochten, sie hielten den Glauben für die Grundlage ihrer Macht, und er war es auch. Nachdem die materiellen Verhältnisse geschwunden waren, die den Papst zum Herrn der Christenheit gemacht, blieben als seine einzige Stütze die diesen Verhältnissen entsprossenen Anschauungen, Anschauungen, welche von Tag zu Tag mehr in Widerspruch mit den gesellschaftlichen Tatsachen gerieten. Nur dadurch war die Macht der päpstlichen Kirche noch haltbar, daß sie das Volk in Unwissenheit über diese Tatsachen erhielt, daß sie es betrog, verdummte, seine Entwicklung in jeder Weise hemmte. Mochte dies Motiv nur wenigen Weiterblickenden in der Kirche klar werden, so lag es den Pfaffen allerorten, sobald sie ungläubig geworden waren, vor allem also den römischen, nahe, die Dummheit des Volkes zu pflegen, um Geld aus ihr zu schlagen. Ein schwindelhaftes Treiben mit wundertätigen Bildern, Reliquien und dergleichen begann. Der Wetteifer der verschiedenen Kirchen und Klöster untereinander, ihren Reliquien usw. die größten Wundertaten anzulügen, war eine der ersten Äußerungen der freien Konkurrenz, die sich mit der Warenproduktion entwickelte.

Mit der Konkurrenz entwickelte sich auch die Herrschaft der wechselnden Mode. Die Pfaffen mußten alle Augenblicke neue Heilige erfinden, deren Renommee noch nicht abgenutzt war, und die durch den Reiz der Neuheit die Volksmassen anzogen. Notabene, die Dummen, die damals den Reliquien auf den Leim gingen, waren auch nicht dümmer als die unzähligen Kunden der modernen Quacksalber mit ihren Universalheilmitteln. Wie wenig die alten Heiligen der Konkurrenz der neuaufkommenden gewachsen waren, zeigt folgendes. In der Kathedrale von Canterbury in England waren drei Kapellen, zu denen Wallfahrten stattfanden, die eine Christo, die andere der heiligen Jungfrau, die dritte dem heiligen Thomas Becket geweiht. Der letztere war erst 1172 heilig gesprochen, seine Gebeine 1221 in die erwähnte Kapelle gebracht worden. Um wie viel profitabler für die Kirche der neue Heilige wurde als die alten, zeigt uns folgende Rechnung, die wir Burnets history of the reformation entnehmen. Er gibt leider das Datum der Rechnung nicht an. Nach ihr wurden geopfert in einem Jahre Christo 3 Pfd. 2 Sch. 6 P., der hl. Jungfrau 63 Pfd. 5 Sch. 6 P., dem hl. Thomas 832 Pfd. 12 Sch. 3 P., im nächsten Jahre Christo nichts, der hl. Jungfrau 4 Pfd. 1 Sch. 8 P., dem hl. Thomas 954 Pfd. 6 Sch. 3 P. Wir sehen, daß der neuengagierte Heilige sich als eine famose Zugkraft erwies.

Von den Einnahmen aus dem heiligen Thomas bekam auch der Papst seinen gehörigen Anteil. Der Märtyrertod des Heiligen war mitten im Winter passiert, einer höchst ungelegenen Zeit für Pilgerfahrten, und die Mönche von Canterbury ersuchten daher den Papst um die Erlaubnis, den Gedenktag in den Sommer zu verlegen. Der »heilige Vater«, damals Honorius III., wollte die Bewilligung nur dann erteilen, wenn ihm ein gebührender Anteil an dem Profit gewährt würde, den die Verlegung des Gedenktages der Kathedrale von Canterbury verschaffen mußte. Darüber entspann sich ein langes Feilschen. Der Papst verlangte die Hälfte der Bruttoeinnahme; die Mönche erklärten, unter solchen Bedingungen das Heiligengeschäft nicht fortführen zu können, da sie nicht auf die Kosten kämen. Endlich gab der Papst nach und begnügte sich mit der Hälfte des Reingewinns. (S. E. Thorold Rogers, Die Geschichte der englischen Arbeit, S. 284.)

Je höher der Unglaube des Papsttums stieg, desto eifriger förderte es den Aberglauben. Erbitterte es die Frommen durch ersteren, so die Freidenkenden durch letzteren.

Die moralische Entrüstung über Unsittlichkeit, Unglauben und Aberglauben wäre indes kaum von durchschlagender Wirkung gewesen, wenn nicht, wie schon erwähnt, das Papsttum eine, noch dazu sehr überflüssige, bloße Ausbeutungsmaschine geworden wäre. Es befand sich schon in einem bedenklichen moralischen Stadium, ehe es den Gipfel seiner Macht erreichte (wir erinnern an das »Metzenregiment« der Marozia und ihrer Töchter im zehnten Jahrhundert, die den päpstlichen Stuhl mit ihren Liebhabern und Söhnen besetzten). Es waren die seitdem eingetretenen ökonomischen und politischen, nicht aber moralische Veränderungen, welche die Völker antrieben, sich vom Papsttum loszureißen.

Ja manchen Ländern, namentlich in Deutschland, hatten alle Klassen ein Interesse daran, die Verbindung mit dem Papsttum zu lösen; nicht bloß das ausgebeutete Volk, sondern auch die »nationalen« das heißt im Lande befindlichen Ausbeuter, welche es sehr ärgerte, so viel Geld aus dem Lande wandern zu sehen, das sie lieber selbst eingesteckt hätten. Auch der nationale Klerus hatte ein Interesse an der Kirchentrennung. In der Tat war er nur noch der Steuereinnehmer des römischen Stuhles; von allem, was er vom Volke einnahm, mußte er den Löwenanteil nach Rom abliefern, die fettesten Pfründen hatte er den Günstlingen Roms zu überlassen, indes ihm die schlecht besoldeten und Arbeit erfordernden niederen Pfarrstellen zufielen. Gerade der Teil der Geistlichkeit, der im Staatsleben noch gewisse Funktionen zu verrichten hatte, die Weltgeistlichkeit, die sich noch eines gewissen Ansehens beim Volke erfreute, gerade sie wurde durch ihre Interessen bewogen, dem römischen Stuhl am energischsten Opposition zu machen.

Die Zentralisation der Kirche war den Päpsten keineswegs leicht geworden, sondern hatte in heftigen Kämpfen den kirchlichen Organisationen der einzelnen Länder aufgezwungen werden müssen. Als wirksamstes Werkzeug zur Unterjochung der Weltgeistlichkeit hatten sich die verschiedenen Mönchsorden erwiesen. Noch im elften Jahrhundert standen sich der Papst und die deutschen Bischöfe feindlich gegenüber. Diese waren auf Heinrich IV. Seite, indes der hohe Adel für die päpstliche Sache eintrat. Auch die französische und die englische Kirche konnten nur nach schweren Kämpfen unter die päpstliche Oberhoheit gebeugt werden. Der Kampf zwischen Rom und den verschiedenen nationalen Kirchen hörte jedoch nie völlig auf, und er nahm nach den Kreuzzügen in dem Maße heftigere Formen an, in dem die Ausbeutung durch das Papsttum wuchs, bis er schließlich bei verschiedenen Nationen zum völligen Bruch mit dem römischen Stuhl führte. Die Geistlichkeit, namentlich die niedere, übernahm die Führung im Kampfe gegen Rom, die Reformatoren waren Geistliche – Luther, Zwingli, Calvin usw. –, der Klerus gab die Denkformen an, in denen sich die Reformationskämpfe bewegen sollten.

Aber die Kirche zur Zeit der Reformation war eine andere als die des frühen Mittelalters. Diese war die Organisation gewesen, die Staat und Gesellschaft zusammenhielt, jene bildete ein bloßes Werkzeug der Staatsverwaltung; die Grundlagen des Staates waren andere geworden. Mit der Trennung der Kirche von Rom verschwand der letzte Faktor, der ihre Herrschaft im Staate noch bis zu einem gewissen Grade hatte fortdauern lassen, die traditionelle Illusion; die Geistlichen der reformierten Kirchen wurden daher überall zu Dienern der Staatsgewalt – wo diese in den Händen von Monarchen lag, zu Beamten des Absolutismus. Die Kirche bestimmte nicht mehr, was die Menschen glauben, wie sie handeln sollten; die Staatsgewalt bestimmte, was die Kirche zu lehren habe.

Nicht alle Völker und nicht alle Klassen aller Völker der Christenheit hatten ein Interesse an der Losreißung vom Papsttum. Vor allem niemand in Italien. Je mehr die Warenproduktion sich entwickelte, je mehr der nationale Gedanke erstarkte, desto päpstlicher wurden die Italiener: die Herrschaft des Papsttums bedeutete die Herrschaft Italiens über die Christenheit, bedeutete deren Ausbeutung durch Italien. Der Herr der habsburgischen Länder, der Kaiser, hatte auch kein Interesse an der Reformation. Seine Macht in Deutschland war ebensowenig mehr eine reelle als die des Papstes; die eine wie die andere beruhte zum Teil auf denselben Illusionen und mußte mit deren Aufhören schwinden. Vom Kaiser erwarten, er solle sich vom Papst lossagen, hieß den Selbstmord von ihm verlangen. Ebensowenig Interesse hatte er an der Reformation als Herr des bunten Gemisches der habsburgischen Länder.

Der Katholizismus war ein mächtiges Element ihres Zusammenhaltens, und nur unter dessen Herrschaft durfte man einen Kreuzzug der ganzen Christenheit gegen die Türken erwarten, der vor allem das Haus Habsburg befestigt hätte. Mit der Reformation war jede Hoffnung auf einen solchen Kreuzzug vorbei.

Ebensowenig Ursache, sich vom Papsttum loszureißen, hatten die Beherrscher Frankreichs und Spaniens, in welchen Ländern damals die königliche Macht die entscheidende wurde. In beiden Ländern entwickelten sich Handel und Warenproduktion frühzeitig. Am frühzeitigsten im südlichen Frankreich, wo auch die erste Empörung gegen die päpstliche Gewalt ausbrach, die »Ketzerei« der Albigenser, die im Anfang des dreizehnten Jahrhunderts in einem blutigen Kriege ausgerottet wurde. Was den Städterepubliken des südlichen Frankreich mißlungen, gelang aber später den Königen von Frankreich. Bereits 1269 erließ Ludwig »der Heilige« eine pragmatische Sanktion, die 1438 von Karl VI. erneuert und erweitert wurde. Diese machte die französische Geistlichkeit in einem hohen Grade von Rom unabhängig und unterwarf sie dem König, bewirkte also im wesentlichen dasselbe, was fast hundert Jahre später die deutschen Fürsten in der Reformation erreichten. Der König erhielt ein entscheidendes Wort bei der Besetzung der höheren geistlichen Stellen; Gelderhebungen für den Papst ohne Zustimmung des Königs wurden verboten.

Ähnlich in Spanien. Seit 1480 war daselbst die Inquisition ein Polizeiwerkzeug der königlichen Gewalt, welche die Inquisitoren ernannte und die Institution ihren politischen Zwecken dienstbar machte. Aus Spanien ebensowenig wie aus Frankreich durfte der Papst Gelder ohne königliche Erlaubnis beziehen.

Die Erlaubnis zu dem Ablaßverkauf, der den Anstoß zur Reformation gab, mußte Leo X. Frankreich und Spanien teuer bezahlen. Karl V. erhielt ein Darlehen von 175000 Dukaten; Franz I. von Frankreich nahm einen hübschen Anteil des Erlöses aus dem Ablaß. Von den deutschen Fürsten war nur der Fürstprimas von Mainz als geistlicher und weltlicher Fürst mächtig genug, um einen Anteil an der Beute zu verlangen und zu erhalten. Die anderen deutschen Fürsten erhielten nichts, was sie sehr entrüstete und der Reformation geneigt machte.

Die Könige und der Klerus von Frankreich und Spanien hatten aber nicht nur infolge der höheren ökonomischen Entwicklung dieser Länder bereits vor der Reformation im wesentlichen das erreicht, was Fürsten und Klerus in Deutschland noch in schwerem Kampfe zu erringen hatten; sie waren so stark geworden, daß sie daran denken konnten, den Papst selbst zu ihrem Werkzeug zu machen, seinen Einfluß und seine Macht für sich auszubeuten. Sie hatten also nicht nur kein Interesse, sich vom Papst loszusagen, sondern vielmehr ein sehr starkes Interesse, seine Herrschaft über die Christenheit aufrecht zu halten, welche in Wahrheit ihre Herrschaft war.

Schon im Anfang des vierzehnten Jahrhunderts waren die französischen Könige stark genug geworden, um die römischen Päpste sich unterwürfig zu machen, die von 1308 bis 1377 auf französischem Boden, in Avignon, ihren Wohnsitz aufschlugen. Nicht der Einfluß der Kirche, sondern die Erstarkung Italiens und des nationalen und monarchischen Gedankens daselbst, welche die ökonomische Entwicklung mit sich brachte, ermöglichte es schließlich den Päpsten, sich von Frankreich loszureißen und wieder in Rom einzuziehen. Aber nun begannen die Franzosen ihre Versuche, sich Italien samt dem Papste botmäßig zu machen. Den gleichen Versuch machte Spanien, dessen Position am günstigsten am Beginn der Reformation war, als Karl die deutsche Kaiserkrone mit der spanischen Krone vereinigte.

Gerade damals, als die deutschen Fürsten nur vorsichtig und tastend den Versuch machten, das Joch des Papsttums abzuschütteln, kämpften die beiden großen katholischen Mächte Frankreich und Spanien einen erbitterten Kampf um die Herrschaft über das Papsttum. 1521 unterwarf sich der Papst Leo X. dem Kaiser Karl V., und dieser erklärte in dem gleichen Jahre Luther in die Reichsacht. Hadrian VI., Leos Nachfolger, war »eine Kreatur seiner Kaiserlichen Majestät«. Und als Klemens VII., der Hadrian folgte, sich vom Kaiser selbständig zu machen suchte, da sandte dieser Verteidiger des katholischen Glaubens seine Landsknechte gegen den »heiligen Vater«, ließ Rom im Sturm nehmen (1527) und furchtbar verwüsten.

Wenn Italien, Frankreich, Spanien katholisch blieben, so ist dies nicht, wie man in der Regel tut, ihrer geistigen Rückständigkeit zuzuschreiben, sondern vielmehr ihrer höheren ökonomischen Entwicklung.So wie der Kampf zwischen Protestantismus und Katholizismus von manchen Historikern in den Kampf zweier Prinzipien mystifiziert wird, von »Autorität« und »Individualismus«, so werden auch die Deutschen als das gottbegnadete Volk des Individualismus hingestellt, die Romanen als die Sklaven der Autorität. Die Neigung zum Protestantismus ist den Deutschen und die zum Katholizismus ist den Romanen angeboren. Eine sehr bequeme Manier, historische Erscheinungen zu erklären. Sie waren die Herren des Papstes, sie beuteten durch ihn die germanische Christenheit aus. Diese war gezwungen, sich vom Papsttum loszureißen, um der Ausbeutung zu entgehen, aber sie konnte dies nur, indem sie die Verbindung mit den reichsten und höchstentwickelten Ländern Europas zerriß. Insofern war die Reformation ein Kampf der Barbarei gegen die Kultur. Es ist nicht zufällig, daß der Vorkampf der Reformation an zwei der rückständigsten Nationen Europas überging: Schweden und Schottland.

Damit soll natürlich keine Verurteilung der Reformation ausgesprochen werden. Wir haben die obige Tatsache konstatiert, weil sie erklärt, warum gerade die gebildetsten Geister in Deutschland wie in England von der Reformation nichts wissen wollten, eine Erscheinung, die unbegreiflich ist, wenn man in der herkömmlichen Weise annimmt, die Reformation sei wesentlich geistiger Natur, ein Kampf der höheren protestantischen Geistesbildung gegen die tieferstehende katholische gewesen.

Im Gegenteil. Der Humanismus stand im vollsten Gegensatz zur Reformation.


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