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Die neue Produktionsweise erforderte auch neue Gedankenformen und erzeugte einen neuen Gedankeninhalt. Der Inhalt des geistigen Lebens wechselte rascher als dessen Formen; diese blieben noch lange die der feudalen Produktionsweise entsprechenden kirchlichen, indes das Denken bereits immer mehr von der Warenproduktion beeinflußt wurde, einen »weltlichen« Charakter annahm.
Indes konnten der neuen Denkweise die überlieferten kirchlichen Formen nicht lange genügen. Sie konnte um so eher von ihnen abgehen, da sie eine Denkform fertig vorfand, die sie bloß aufzunehmen brauchte, eine Denkform, die schon früher einmal zum Ausdruck eines Gedankeninhaltes gedient hatte, der mit der neuen Denkweise in vielen Punkten übereinstimmte. Diese Denkform war die der antiken heidnischen Wissenschaft und Kunst.
Die Warenproduktion, welche die feudale Produktionsweise verdrängte, entwickelte sich zuerst, wie schon öfter hervorgehoben, in Italien, in dem Lande, in dem noch unzählige herrliche Reste des antiken römischen Heidentums sich erhalten hatten, in dem dessen Traditionen nie ganz ausgestorben waren. Der aufblühende Handelsverkehr mit Griechenland brachte den Italienern auch die Kenntnis der antiken hellenischen Literatur, die der neuen Denkweise noch besser entsprach als die römische. Die italienischen Handelsrepubliken, die geistig wie materiell den Bann der Feudalität abzuschütteln suchten, jubelten entzückt auf, als sie in der Literatur der alten Handelsrepublik Athen eine Denkweise vorfanden, die der ihren in so vielen Punkten entsprach – wie auch das materielle Leben hier wie dort große Ähnlichkeit aufwies – eine Denkweise, allseitig ausgebildet und in der herrlichsten Form zum Ausdruck gelangt. Was eine neuaufkommende Produktionsweise sich sonst erst mühsam schaffen muß, eine neue Weltanschauung, eine neue Wissenschaft und Kunst, das brauchten die geistigen Vertreter der seit dem vierzehnten Jahrhundert in Italien rasch erwachsenden Produktionsweise nur aus dem Schutte auszugraben, den das Mittelalter über die Antike gelagert hatte.
Das Studium der Alten begann, als Mittel, die Gegenwart zu begreifen und den ersterbenden Resten der jüngsten Vergangenheit den Todesstoß zu geben. Die geistige Richtung, die sich unter dem Einfluß dieses Studiums entwickelte, führt den Titel der Renaissance (Wiedergeburt, nämlich des Altertums) und des Humanismus (des Strebens nach rein menschlicher Bildung, im Gegensatz zur scholastischen Theologie, die sich mit göttlichen Dingen befaßte). Der erstere Titel bezeichnet namentlich den Ausdruck der neuen Richtung in der Kunst, der zweite den in der Literatur. Würden wirklich die Ideen die materiellen Verhältnisse schaffen, nicht umgekehrt, dann hätte aus der Wiederbelebung der antiken Ideen die Wiederbelebung der antiken Gesellschaft hervorgehen müssen. Nie ist vielleicht eine Denkweise mit solcher Begeisterung aufgenommen worden, wie die antike von den Humanisten. Trotzdem nahmen sie diese nur insoweit auf, als sie den tatsächlichen Verhältnissen entsprach. Sie setzten sich lieber, wenn es sein mußte, in Widerspruch zur Logik, als zu den Tatsachen –, ohne sich dessen bewußt zu werden, da eine den Verhältnissen entsprechende Denkweise leicht ohne strengen Beweis als richtig angenommen wird. So ist denn die Weltanschauung des Humanismus in manchen Punkten eine gar seltsame geworden.
Im Altertum wie im Mittelalter erstanden Warenproduktion und Handel in Städterepubliken. Aber was im Altertum der Höhepunkt der gesellschaftlichen Entwicklung war, wurde gegen Ende des Mittelalters der Ausgangspunkt einer neuen Gesellschaft. Wir haben bereits oben gesehen, wieso die Anfänge der kapitalistischen Produktionsweise die absolute Monarchie und die nationale Idee emporkeimen ließen. So wurden denn die Humanisten die eifrigsten Verfechter der Vereinigung der Nation unter einem Fürsten, trotz ihrer Schwärmerei für Demosthenes und Cicero, und trotzdem viele von ihnen aus städtischen Republiken stammten. Schon der Vater des Humanismus, der Florentiner Dante (1265 bis 1321), erklärte sich als Monarchisten und glühenden Schwärmer für die Einheit Italiens, zu deren Durchführung er freilich den deutschen Kaiser anrufen mußte, da die Päpste zu seiner Zeit Werkzeuge Frankreichs waren. Aber nach der Rückkehr der Päpste aus Avignon wurden sie die Macht, um die sich die Mehrzahl der italienischen Humanisten scharte, von der sie die Einigung Italiens erwarteten.
Die Humanisten waren in ihrer Mehrheit der Ansicht, daß der sich entwickelnde moderne Staat einer persönlichen Spitze bedürfe. Aber eben, weil das Wohl und Wehe des Staates nach ihrer Ansicht von der Persönlichkeit des Fürsten abhing – und diese Ansicht war zu ihrer Zeit durch die Verhältnisse gerechtfertigt –, war es durchaus nicht gleichgültig, welcher Art der Fürst war. Ebenso notwendig wie die Herrschaft eines Fürsten im Staate, ebenso notwendig war es nach der Ansicht der Humanisten, daß sie selbst den Fürsten beherrschten, daß sie die Fürsten erzogen und leiteten. Es hing nur vom persönlichen Charakter der einzelnen ab, wie weit sie die Konsequenzen dieses Standpunktes zogen. Der Fürst war notwendig für das Heil der Völker, aber nur der gute, das heißt humanistisch denkende Fürst. Dem schlechten Fürsten Widerstand zu leisten, ihn abzusetzen, ja selbst zu ermorden, um einem besseren Fürsten Platz zu machen, stand durchaus nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Humanismus, wenn auch nur wenige Humanisten genügend Mut entwickelten, ihre Lehren in die Tat umzusetzen. Viele unter ihnen waren charakterlose Schmeichler. Aber im allgemeinen hielten sie ihren Anspruch aufrecht, die Fürsten geistig zu beherrschen. Die Ideologen der aufkeimenden Bourgeoisie vertraten damit nur deren Klassenstandpunkt, den wir bereits kennen gelernt haben.
Eine bezeichnende Konsequenz dieses Standpunktes ist die Unzahl von humanistischen Publikationen, die bestimmt waren, den Fürsten Vorschriften zu geben, wie sie ihre Staaten einrichten und regieren sollten. Die bekannteste Schrift dieser Art ist der »Fürst« Machiavellis.
Es war aber kein leerer, in der Luft schwebender Anspruch, den die Humanisten da erhoben. Sie waren in der Tat eine Macht, deren die Fürsten bedurften und die sie sich geneigt erhalten mußten. Die Fürsten bedurften nicht bloß der materiellen Mittel der Bourgeoisie, sondern auch ihrer Ideologen. Die »öffentliche Meinung«, das heißt die Anschauungen der städtischen, bürgerlichen Bevölkerung, war eine Macht, und sie wurde in den Zeiten und Ländern, in denen der Humanismus blühte, von diesem beherrscht. Die Fürsten bedurften aber auch der Gelehrten der neuen Richtung zu ihren Verwaltungsgeschäften. Noch war keine Bureaukratie gebildet; die Humanisten die einzigen, die neben den Juristen und der höheren Geistlichkeit imstande waren, und besser als diese, die Staatsverwaltung zu leiten, als Räte und Gesandte der Fürsten zu fungieren.
Es war keine bloße Phrase, wenn der Kaiser Maximilian rief, daß »die Gelehrten es sind, die da regieren und nicht untertan sein sollten, und denen man die meiste Ehre schuldig ist, weil Gott und die Natur sie anderen vorgezogen«. Mit Ausnahme der deutschen, namentlich norddeutschen Fürsten, die sich, der ökonomischen Rückständigkeit Deutschlands entsprechend, sehr wenig um den Humanismus bekümmerten und die Humanisten höchst schäbig behandelten, suchte jeder Fürst so viel als möglich Humanisten an seinen Hof zu ziehen, und einem hervorragenden Gelehrten wurden fast fürstliche Ehren erwiesen. Die Gelehrten spielten damals eine andere Rolle an den Höfen als heutzutage; sie erschienen nicht als geduldete gelehrte Bediente, sondern als gesuchte Freunde der Fürsten. Zum Teil ist auf diesen Umstand Heinrich VIII. Benehmen gegen More zurückzuführen.
Ebenso unlogisch wie in ihren politischen waren die Humanisten in ihren religiösen Anschauungen. Wenn sie auf der einen Seite für die antiken Republikaner schwärmten und gleichzeitig für die Monarchie eintraten, so wurden sie andererseits immer mehr Heiden und blieben dabei doch entschiedene Katholiken. Wie die neue Produktionsweise im Gegensatz stand zur feudalen, so die neue Weltanschauung im Gegensatz zur feudalen Weltanschauung. Je mehr die alte Produktionsweise verfiel, desto kecker setzten sich die Humanisten über alle herkömmlichen Schranken weg, spotteten der Familien- und Eheform des Mittelalters ebensosehr wie seiner Religion.
Die Emanzipation der Frau bedeutet ihre Emanzipation vom Einzelhaushalt (wenigstens bis zu einem gewissen Grade). Dies ist möglich dadurch, daß die beschwerlichsten Haushaltungsarbeiten wieder öffentliche Arbeiten werden. Es ist aber auch dadurch erreichbar, daß die Arbeiten des Einzelhaushaltes von den Hausfrauen auf andere abgewälzt werden. Durch dieses letztere Vorgehen kann natürlich nur ein Teil der Frauen emanzipiert werden, emanzipiert durch die Knechtung anderer.
Die erstere Art der Emanzipation der Frau durch Verwandlung ihrer Arbeit in öffentliche Berufsarbeit gehört im wesentlichen noch der Zukunft an. Die zweite Art der Frauenemanzipation ist dagegen schon einige Male eine historische Tatsache geworden: ihre Vorbedingungen waren gegeben, sobald eine herrschende Klasse die Ausbeutung der arbeitenden Klassen zu einem solchen Grade getrieben hatte, daß dadurch nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen dieser Klasse von der Notwendigkeit der Arbeit emanzipiert wurden.
Ein Beispiel solcher Frauenemanzipation durch Ausbeutung bietet uns die römische Kaiserzeit; die heutige bürgerliche Frauenemanzipation gehört in dieselbe Kategorie, ebenso wie die Frauenemanzipation des Humanismus.
Der Einzelhaushalt, und damit bis zu einem gewissen Grade auch die Einzelehe, war eine ökonomische Notwendigkeit für Handwerker und Bauer. Es war fast unmöglich, einen bäuerlichen oder handwerksmäßigen Betrieb in Gang zu halten, der nicht in Verbindung stand mit einem wohlgeordneten Haushalt, welch letzterer ebenso seine oberste Herrin brauchte, wie der Erwerbsbetrieb seinen obersten Herrn.
Ein Bauer konnte weder Knechte noch Mägde halten, ein Meister keine Gesellen ohne einen Haushalt, ohne Hausfrau; denn Gesellen und Knechte gehörten zur Familie, aßen mit dem Familienvater am gleichen Tische, wohnten in seinem Hause.
Anders gestaltete sich die Sache beim Kaufmann. Sein Geschäftsbetrieb war vom Haushalt unabhängig; ob er eine Hausfrau hatte oder nicht, das war von geringer Bedeutung für den Gang seines Geschäftes. Die Ehe und der Haushalt wurden für ihn aus einer ökonomischen Notwendigkeit ein Gegenstand des Luxus. War er sparsam, dann brauchte er überhaupt nicht zu heiraten, es sei denn, daß er eine Frau nicht als Haushälterin, sondern als reiche Erbin genommen hätte. War aber der Haushalt ein Gegenstand des Luxus, war dessen bessere oder schlechtere Besorgung höchstens für die Ausgaben des Kaufmanns von Bedeutung, nicht aber für seine Einnahmen, dann durfte dieser es sich auch gestatten, wenn seine Handelsprofite große waren, den Haushalt Mietlingen zu übertragen. Bei einer Frau, die als Erbin, nicht als Haushälterin geheiratet wurde, verstand sich das eigentlich von selbst.
So wurde im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert infolge der Unermeßlichkeit der Handelsprofite die Frau des Kaufmanns – und ebenso die Frau des städtischen Juristen, Arztes, Beamten usw., wenn er genug Geld hatte – von der Arbeit des Einzelhaushaltes wie von der Arbeit überhaupt emanzipiert. Sie erhielt Zeit und Interesse, sich mit Fragen zu beschäftigen, die ihr in ihrem früheren Wirkungskreis fern gelegen hatten, die »unweiblich« waren. Aber gleichzeitig mit dieser Emanzipation wurde die überkommene Eheform für die kaufmännischen und humanistischen Kreise immer mehr eine Luxussache, freiere geschlechtliche Beziehungen kamen infolgedessen auf, vor allem in Italien, der Heimat des Humanismus; mit jugendlicher Keckheit durchbrach das revolutionäre Großbürgertum die Schranken der patriarchalischen Familie, der Einzelehe; da aber, wie im kaiserlichen Rom, die Emanzipation der Frau daher kam, daß sie aus einer notwendigen Arbeiterin zu einer überflüssigen Ausbeuterin geworden war, so mengte sich in das neue geschlechtliche Leben und Treiben auch etwas von der verkommenen Liederlichkeit einer untergehenden Klasse.
Das sind die Elemente, die der Frauenemanzipation des Humanismus ihren eigentümlichen Charakter gaben. Sie war übrigens auf viel kleinere Gesellschaftskreise beschränkt als etwa die moderne Frauenemanzipation.
So wie die modernen Verfechter der bürgerlichen Frauenemanzipation die Notwendigkeit dieser gesellschaftlichen Umwälzung mit physiologischen und juristischen Gründen zu erweisen suchen, als etwas, was Natur und Gerechtigkeit gebieten, und nicht etwa besondere, historisch gewordene Verhältnisse, so beriefen sich die Humanisten anfangs auf die Religion, obgleich die herkömmliche kirchliche Lehre der Gleichberechtigung der Frau entschieden zuwider war. So berief sich zum Beispiel Charitas, des Nürnbergers Pirckheimer Schwester, Äbtissin von St. Klara in Nürnberg, eine eifrige Humanistin, darauf, daß »das andere Geschlecht denselben Schöpfer, Erlöser und Heiligmacher hat und daß die Hand des höchsten Werkmeisters keineswegs verkürzt ist. Er hat den Schlüssel der Gunst und teilt einem jeden aus nach seinem Wohlgefallen ohne Ansehen der Person.«
Charakteristisch für die Vermengung des neuen heidnischen Gedankeninhalts mit der alten kirchlichen Form ist unter anderem das Vorgehen des Gottesleugners Sigismondo Malatesta, Beherrschers von Rimini, der 1445 bis 1450 der heiligen Franziska eine prachtvolle Kirche erbaute und in dieser einer sonderbaren Heiligen ein Denkmal setzte, nämlich seiner Maitresse Isotta, die er als Heilige verehrt wissen wollte. Zu denjenigen, welche die geschlechtliche Freiheit dieser revolutionären Zeit am fleißigsten ausnutzten, gehörte Francesco Poggio (1380 bis 1459), Geistlicher und päpstlicher Sekretär, der nicht weniger als 18 von ihm anerkannte Kinder hinterließ, darunter 14 uneheliche.
Der Kühnheit des Humanismus auf geschlechtlichem Gebiet entsprach die auf religiösem. Anfangs trat der heidnische Unglaube noch in kirchlichem Gewand auf, aber er wurde immer unverhüllter zur Schau getragen und hätte zum vollständigen und allseitigen Atheismus (der Humanisten, nicht der Volksmassen) geführt, wenn die Entwicklung nicht durch die Reformation unterbrochen worden wäre.
Einer der kecksten Freidenker unter den Humanisten war der Florentiner Luigi Pulci (1432 bis 1484). In seinem komischen Heldengedicht »Morgante«, einer Verhöhnung des christlichen Rittertums, parodiert er auch einmal das katholische Glaubensbekenntnis: »Ich glaube an die schwarze Farbe nicht mehr als an die blaue, wohl aber an Kapaunen, an Gekochtes und Gebratenes, manchmal auch an Butter, auch an Bier, und wenn ich keines habe, an Most, aber lieber an herben als an süßen, besonders aber an guten Wein; ja, ich lebe der Überzeugung, daß derjenige, der an ihn glaubt, sein Heil findet. Ich glaube an die Torte und den Kuchen; sie ist die Mutter, er der Sohn; das wahre Vaterunser aber ist die gebackene Leber und sie könnte drei, zwei und eins sein.« Der das schrieb, war ein hoher Beamter und Freund Lorenzos von Medici; er verfiel nicht dem Staatsanwalt und auch nicht dem Kirchenbann.
Ob zahm, ob verwegen, die kirchlichen Mißbräuche wurden von allen Humanisten auf das entschiedenste bekämpft, namentlich war das Mönchstum die auserlesene Zielscheibe ihrer Angriffe, ihres Spottes.
Aber so scharf diese Angriffe auch waren, an einem gewissen Punkte angelangt, machten sie Halt. Die Logik der Tatsachen zwang den Humanisten die Unlogik des Denkens auf.
Wir haben im vorhergehenden Kapitel gesehen, daß die herrschenden, ausbeutenden Klassen der romanischen Länder, vor allen Italiens, ein großes Interesse an der Aufrechterhaltung der Machtstellung des Papsttums hatten. Die Ideologen der neuen gesellschaftlichen Mächte in den romanischen Ländern mußten dieser päpstlichen Gesinnung Ausdruck geben, ob sie in ihr System paßte oder nicht. In der Tat, fast alle Humanisten – die bedeutenderen ohne Ausnahme – griffen nicht die Institutionen der Kirche an, sondern die Personen ihrer Mitglieder und den Geist, der sie erfüllte. Die bisherigen Formen der Kirche sollten erhalten bleiben, sie sollten bloß mit einem anderen Inhalt erfüllt werden. Die Kirche sollte die allumfassende und allmächtige Institution bleiben, aber sie sollte eine humanistische Kirche werden, die Humanisten ihre Priester (und Inhaber ihrer fetten Pfründen), der Papst der oberste der Humanisten. Als solcher sollte er durch die Humanisten die Fürsten und Völker beherrschen und den humanistischen Zielen dienstbar machen.
Eine gute Illustration dazu bietet unseres Erachtens das Rabelaissche Idealkloster der Thelemiten. In seinem »Gargantua«, Kapitel 52 bis 57, beschreibt Rabelais eine phantastische Abtei Thelema, die er ganz im Sinne des Humanismus eingerichtet sein läßt. Wir glauben, der Beschreibung des Klosters liegt eine ebenso ernsthafte Tendenz zugrunde wie der »Utopia« Mores. Es zeigt uns die Art und Weise, wie der Humanismus die Kirche reformieren wollte. Die Ausbeutung der Massen durch die Kirche sollte fortbestehen – auch die Abtei Thelema ist ohne Ausbeutung nicht denkbar –, aber an Stelle der Mönche sollten Humanisten treten, an Stelle der aszetischen Ordensregeln Freiheit des Genusses und der Wissenschaft. Die betreffende Stelle aus dem »Gargantua« ist ungemein bezeichnend für den Humanismus und die Art und Weise, wie zur Zeit Mores Reformideen vorgetragen wurden.
Die eigentümliche Stellung Italiens, dem der Humanismus entsprang, trieb ihn zu seiner papstfreundlichen Haltung, die nicht nur im Widerspruch zu seinen theoretischen Grundlagen stand, sondern auch zu den Bedürfnissen der gesellschaftlichen Mächte außerhalb der romanischen Länder, denen er Ausdruck geben wollte. An diesem Widerspruch ist er zugrunde gegangen, sobald die überlegene Stellung Italiens aufhörte.
In Italien entsprach der Humanismus realen Interessen. Nicht so in den germanischen Ländern. Dort war und blieb er eine exotische Pflanze, die keine Wurzeln im Boden fassen konnte. Um so dringender bedurfte der deutsche Humanismus des engsten Anschlusses an Italien, aus dem alle Wissenschaft und Kunst kam. Nur wenn dieser fortdauerte, durften die Humanisten hoffen, der nordischen Barbarei, wie sie namentlich in Deutschland herrschte, Herr zu werden, die machthabenden Klassen für sich zu gewinnen. Die Trennung von Rom bedeutete das Scheitern ihrer Absichten, den Sieg der Barbarei über die Zivilisation. So stemmten sie sich der Reformation entgegen und blieben katholisch, gerade weil sie auf einer höheren Stufe der Entwicklung standen als die Protestanten, die erbitterten Gegner der neuen Wissenschaft und Kunst.
Dies gilt nicht nur von den nordischen Reformatoren. Auch die Reformationsversuche in Italien gingen von halbverbauerten niederen Geistlichen aus. Nehmen wir zum Beispiel Savonarola. In einer seiner Predigten sagte er: »Das einzige Gute, was Plato und Aristoteles geleistet haben, ist, daß sie viele Argumente vorbrachten, die man gegen die Ketzer gebrauchen kann. Sie und andere Philosophen sitzen doch in der Hölle. Ein altes Weib weiß mehr vom Glauben als Plato. Es wäre gut für den Glauben, wenn viele sonst nützlich scheinende Bücher vernichtet würden. Als es noch nicht so viele Bücher und nicht so viele Vernunftgründe und Disputen gab, wuchs der Glaube rascher, als er seither gewachsen ist.« Wen erinnert das nicht an Luthers Ausfälle gegen die »Hure Vernunft«? Hunderte von Exemplaren des »Dekamerone« von Boccaccio ließ der fromme Savonarola verbrennen, bis die Kirche seiner Tätigkeit ein Ende machte und ihn als Ketzer hinrichten ließ. Nicht die Ungläubigen, die zu den Gebildeten sprachen, sondern die Frommen, welche sich an die Massen wandten, brachten die Ausbeutung durch das Papsttum in Gefahr und wurden daher verbrannt. Ungläubige dagegen, wie Rabelais, der den übermütigsten Hohn über die Kirche und den Glauben ausgoß, wurden von Bischöfen und Päpsten geschont, ja nicht selten gefördert. Der katholische Fanatismus des Papsttums war eben nicht Glaubensfanatismus, sondern der Fanatismus der Habsucht, der sich in kirchliche Formen kleidete.
Die gelehrten Ideologen Deutschlands und Englands vergaßen jedoch eines, wenn sie sich auf die katholische Seite schlugen, um die bedrohte Zivilisation zu retten: daß diese katholische Kultur, der hohe Stand von Wissenschaft und Kunst in Italien, die Größe des Papsttums, zur Grundlage die Unwissenheit und Ausbeutung der Volksmassen, die Unwissenheit und Ausbeutung ganz Deutschlands hatten; daß das Papsttum, um Wissenschaft und Kunst in Italien zu fördern, Deutschland arm und unwissend erhalten mußte; daß es die von den Päpsten selbst, soweit an ihnen lag, künstlich erhaltene Barbarei war, welche in der Reformation die katholische Kultur niederwarf, daß die historische Situation eine solche geworden war, daß nur noch der Sieg der deutschen Barbarei über die welsche Kultur den Weg eröffnen konnte, um Deutschland aus der Barbarei zu befreien, seine ökonomische und geistige Weiterentwicklung möglich zu machen.
Die Humanisten sahen jedoch nur die Schädigung von Wissenschaft und Kunst, die allerdings die Reformation in den nordischen Ländern vorübergehend bringen mußte. Zu diesem Grunde, sich an den Katholizismus anzuschließen, kam noch ein anderer: die Reformatoren appellierten an die Volksmassen, an das ganze Volk. In den verschiedenen Ländern der Reformation bildete das ganze Volk dem Papsttum gegenüber eine einzige Klasse, die der Ausgebeuteten. Die Länder der Reformation (mit Ausnahme Englands, dessen Reformation überhaupt eigenartig war) waren aber gerade die ökonomisch zurückgebliebenen, wo der Absolutismus noch nicht so stark entwickelt war wie in den romanischen Ländern, wo namentlich Bauern und Ritter noch eine bedeutende Kraft und großes Selbstbewußtsein besaßen. Waren es auch schließlich die Fürsten und die Geldmächte, die aus der Reformation den größten Vorteil zogen, so begann diese doch mit einer Volksbewegung, mit einer einmütigen Erhebung des ganzen Volkes gegen die päpstliche Ausbeutung, einer Erhebung, die natürlich bei dem Sturze der päpstlichen Herrschaft nicht stehen blieb, sondern zu blutigen Kämpfen der verschiedenen Volksklassen untereinander führte, die deren Kraft erschöpften und so den Sieg des fürstlichen Absolutismus vorbereiteten.
Eine Volksbewegung war den Humanisten etwas Entsetzliches. Eine andere Staatsregierung als durch einen Fürsten, eine andere Einflußnahme auf den Staat als durch die Person des Fürsten erschien ihnen als völlig verkehrt. Für die Bedürfnisse und Bestrebungen des Volkes hatten sie im allgemeinen nur wenig Verständnis, die meisten auch kein Interesse. Mit Abscheu sahen sie auf eine Bewegung herab, welche alle Greuel des Bürgerkriegs entfesselte.
Daß sie sich unter diesen Umständen in den meisten germanischen Ländern durch ihre Parteinahme für den Katholizismus in Gegensatz zum gesamten Volk setzten; daß sie von den Reformatoren Renegaten geschmäht wurden, jeglichen Einfluß verloren und schließlich verschwanden, ohne Spuren ihres Wirkens im Volke zu hinterlassen, ist leicht erklärlich. Durch die Reformation erhielt der Humanismus aber auch seinen Todesstoß in Italien. Bereits war der Seeweg nach Indien um Südafrika herum entdeckt, bereits wurden die neuen Handelswege befahren, die Indien mit Europa bis zur Eröffnung des Suezkanals verbinden sollten; der Handel zog sich aus den Uferländern des Mittelmeers in die des Atlantischen Ozeans. Gleichzeitig damit trat die Empörung der germanischen Länder gegen das Papsttum ein: die ungezählten Summen, die jahraus jahrein über die Alpen nach Rom gewandert waren, blieben aus. Die Quellen von Italiens Reichtum versiegten und damit auch seine geistige Größe. Handel und Ausbeutung waren die materiellen Grundlagen des Humanismus gewesen. Er verschwand mit ihnen.
Aber nicht spurlos. Seine Tendenzen feierten eine Wiedererstehung im – Jesuitismus. Der Jesuitismus ist der intellektuell etwas herabgekommene, seiner geistigen Selbständigkeit beraubte, in den Dienst der Kirche gepreßte und stramm organisierte Humanismus. Der Jesuitismus verhält sich zum Humanismus ähnlich wie das Christentum der Kaiserzeit zum Neuplatonismus. Er ist die Form, in der die katholische Kirche sich des Humanismus bemächtigte, sich modernisierte und sich im Gegensatz zu ihrer bisherigen feudalen Basis auf die Grundlagen stellte, welche die Gesellschaft vom sechzehnten bis ins achtzehnte Jahrhundert beherrschten. Der Jesuitismus wurde die furchtbarste Macht der reformierten katholischen Kirche, weil er die den neuen ökonomischen und politischen Verhältnissen entsprechendste war.
Er wirkte durch dieselben Mächte, durch die der Humanismus gewirkt hatte: durch die Überlegenheit der klassischen Bildung, durch Beeinflussung der Fürsten, durch Berücksichtigung der Geldmächte. So wie die Humanisten förderten die Jesuiten die absolute Gewalt, aber nur desjenigen Fürsten, der für sie arbeitete. So wie die Humanisten hielten sie es nicht für unverträglich mit ihrer monarchischen Gesinnung, auf die Beseitigung der Person des Fürsten hinzuarbeiten, wenn dieser ihnen nicht paßte.
In bezug auf das Geld gingen aber die Jesuiten weiter als die Humanisten. Sie vertraten nicht bloß die Interessen der neuen Produktionsweise, sie nahmen sie in ihren Dienst. Die Jesuiten wurden die größte Handelsgesellschaft Europas, die ihre Kontore in allen Teilen der Welt hatte; sie waren die ersten, welche erkannten, wie gut der Missionär als Handlungsreisender verwendbar sei; sie waren die ersten, die kapitalistische industrielle Unternehmungen, zum Beispiel Zuckerfabriken, in überseeischen Weltteilen einrichteten. – Bei dieser Gelegenheit sei des Jesuitenstaats in Paraguay gedacht, der von antisozialistischen Schlauköpfen mit Vorliebe als Vogelscheuche gegen die sozialistische Propaganda verwendet wird. Der Jesuitenstaat von Paraguay soll zeigen, wohin der Sozialismus führt, in Wirklichkeit deutet er den Zustand an, dem wir entgegengehen, wenn die kapitalistische Produktionsweise sich ungestört weiter entwickeln sollte. Ein Staat, in dem die Produktionsmittel und Produkte nicht der Klasse der Arbeiter, sondern der Klasse der Nichtarbeiter – noch dazu ausländischen Kapitalisten! – gehören, und die Arbeit nicht von den Arbeitern, sondern den Nichtarbeitern organisiert wird, weist jedenfalls eine sonderbare Art von Sozialismus auf.
Die Tendenz des Humanismus lief auf völlige Leugnung der Weltanschauung des Mittelalters hinaus, auf den reinen Unglauben. Statt dessen erwachst am Ende seiner Laufbahn als sein Erbe ein Glaubensfanatismus von einer Stärke, wie ihn das Mittelalter nie gekannt, und dies nicht nur in den Ländern, in denen er nie feste Wurzel gefaßt, sondern auch in seinem eigenen Vaterland, in Italien.
Daran war nicht nur der ökonomische Niedergang dieses Landes schuld, nicht nur die Erbitterung des Kampfes zwischen den ausbeutenden Italienern und den ausgebeuteten Nationen, die den Fanatismus der Habgier in den Fanatismus des Glaubens übergehen ließ, da der Glaube der Titel war, auf den sich die Ausbeutung stützte. Die Erstarkung des religiösen Lebens lag gegen das Ende des Zeitalters des Humanismus immer mehr auch in den allgemeinen Zeitumständen begründet. Die eine Wurzel der Religion war in der Periode des Humanismus nur ein wenig angefault; ihre zweite Wurzel aber trieb damals üppige Schößlinge.
Die intellektuellen Wurzeln der Religion, die Ursachen des religiösen Fühlens und Denkens – mit religiösen Organisationen haben wir in diesem Zusammenhang nichts zu tun – liegen in dem Vorhandensein übermenschlicher und unbegreiflicher Mächte, denen der Mensch hilflos gegenübersteht, deren Wirken er weder zu lenken noch zu berechnen, zu verstehen imstande ist, und die auf sein Wohl und Wehe einen so entscheidenden Einfluß besitzen, daß er das Bedürfnis empfindet, sich mit ihnen auseinanderzusetzen.
Diese Mächte sind entweder natürliche oder gesellschaftliche.
Im urwüchsigen Kommunismus spielen letztere keine Rolle. Die ökonomischen Verhältnisse unterliegen da der Bestimmung des Menschen, soweit sie von deren gesellschaftlichem Zusammenarbeiten abhängen. Um so abhängiger ist der Mensch auf dieser primitiven Stufe von der Natur. Aber er fühlt sich noch als Teil derselben, wie das Tier, er hat sich sozusagen noch nicht von ihrer Nabelschnur losgerissen und lebt gedankenlos in den Tag hinein. Von Religion ist da nicht viel die Rede.
Nur langsam erwächst im Menschen mit dem technischen Fortschritt das Bedürfnis, die Natur seinem Willen unterzuordnen, er reißt sich von ihr los, sie wird ein von ihm verschiedenes Objekt und dessen Erforschung seine Aufgabe. Aber die erste Erfahrung des Menschen auf diesem Wege ist seine Ohnmacht ihr gegenüber; ein ungeheurer Zeitraum muß verstreichen, eine lange historische Entwicklung muß vor sich gehen, ehe der Mensch anfängt, die Natur zu begreifen, ihre Gesetze zu erkennen, ihre Kräfte sich zielbewußt dienstbar zu machen.
Die Religion wird ein menschliches Bedürfnis von dem Augenblick an, da der Mensch beginnt, über die Natur nachzudenken bis zum Erstehen der Naturwissenschaft.
Die Religionen, die dieses Bedürfnis erzeugt hat, die Naturreligionen, sind heiter, lebenslustig und tolerant, wie die Menschen, in deren Köpfen sie erwachsen; sie sehen in den Naturerscheinungen mehr das Großartige, Göttliche, als das Grausenerregende, Teuflische.
Mit dem Aufkommen der Warenproduktion erstehen indessen soziale Mächte, deren der Mensch nicht Herr ist, und damit erwächst die zweite Wurzel der Religion. In den kleinen Gemeinwesen des Altertums und Mittelalters ist sie anfangs nur schwach; die ökonomischen Verhältnisse sind da leicht zu überblicken, und Glück wie Unglück erscheinen meist als Folgen persönlichen Tuns und Lassens, erklärlich auch ohne Intervention einer übermenschlichen Macht. Die sozialen Erscheinungen mußten Massenerscheinungen werden, ehe der Mensch das Dasein der sozialen Mächte erkannte und sich seiner Ohnmacht ihnen gegenüber bewußt ward, ehe die sozialen Mächte Phantasie und Verstand gefangen nahmen und auf den Charakter der Religion bestimmend einwirkten.
Die Naturreligionen sind wesentlich lokaler Natur; die sozialen Religionen, die sie verdrängen, sind von vornherein Massenreligionen, Weltreligionen.
Das römische Weltreich schuf den Boden für eine solche Religion. Die gesellschaftlichen Erscheinungen, welche diese hervorriefen, waren aber nichts weniger als freundliche. Massenelend, Massensiechtum, daneben Habgier und Übermut einiger wenigen übermäßig Reichen, Entvölkerung und Rückgang des ganzen Reiches – unter diesen Umständen erstand das Christentum. Angst und Verzweiflung, Menschenhaß und Blutdurst erfaßten die Menschen, aus den heiteren Göttern der Heidenzeit wurden scheußliche Dämonen, der Schöpfer und Richter der Welt finster und unerbittlich, das geringste Vergehen mit ewigen Höllenqualen bestrafend, die ganze Welt ein Vorhof der Hölle, mit Teufeln erfüllt, die gierig suchten, wen sie verschlingen könnten.
Da brachen die urwüchsigen Germanen ein und erfüllten das Christentum mit ihrem Geiste der Lebenslust und Freude. Ihre Götter wurden wohl zu Dämonen und Teufeln umgewandelt, aber der Teufel verlor seinen Schrecken; der Teufel des Mittelalters war ein gemütlicher, humoristischer, harmloser Teufel, mit dem man übermütig spielte, den man ungestraft höhnte, ein guter, dummer Teufel. Der Gekreuzigte mit der Dornenkrone trat zurück und der wohltätige Heiland, der gute Hirte wurde zur Lieblingsgestalt der Kirche und ihrer Kunst; neben ihm die heilige Jungfrau, ein Frauenideal, mit allem Liebreiz und all der Anmut geschmückt, die der Deutsche in seinem Weibe verehrte und ersehnte.
Die Ausbildung der kirchlichen Dogmen stockte in diesem »finsteren Zeitalter«, die Ausbildung der kirchlichen Feste wurde um so eifriger betrieben. Die Christen der ersten Jahrhunderte hatten ihre blutrünstige Phantasie mit Vorliebe an der Betrachtung der grauenhaften Todesarten ihrer Märtyrer geweidet; jetzt wurde jeder Gedenktag eines Blutzeugen ein Tag der Freude und des Jubels, ein Vorwand zu einem Zechgelage.
Nach unseren liberalen Historikern – wenn sie »Freidenker« sind – ist die Religion nur Folge des Mangels an »Aufklärung«. Von ihren sozialen Grundlagen wollen sie nichts wissen. Wäre ihre Anschauung richtig, dann hätte der Humanismus im Volke einen ungemein günstigen Boden vorfinden müssen, und zwar namentlich bei den Deutschen, und in demselben Maße, in dem die »Aufklärung« des Humanismus wuchs, hätte die Aufklärung der Massen wachsen müssen. Statt dessen finden wir die sonderbare Erscheinung, daß je freidenkender der Humanismus wurde, desto mehr die Volksreligion ihren früheren Charakter verlor und den des Christentums der römischen Kaiserzeit annahm. Es wird dies nur erklärlich, wenn man die damalige ökonomische Umwälzung in Betracht zieht.
Wohl förderten die Warenproduktion und der Handel die Naturwissenschaft, wie sie ihrerseits wieder durch sie gefördert wurden. Der Verkehr mit dem Orient brachte nicht nur die Waren, sondern auch das Wissen dieser uralten Kulturwelt nach dem Westen. Aber auf die Religion hatte dies vorläufig wenig Einfluß.
Der Humanismus entwickelte sich wesentlich unter Anlehnung an die klassische, attische Literatur; in der war für die Naturwissenschaft nicht viel zu holen. Nur wenige humanistisch gebildete Gelehrte wandten den Wissensgebieten, mit denen uns in erster Linie die Araber bekannt gemacht, der Anatomie, der Chemie und Astronomie, ihre Aufmerksamkeit zu, um methodisch die Gesetze der Natur zu erforschen und so die großen wissenschaftlichen Entdeckungen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts vorzubereiten. Die Mehrzahl derjenigen, die sich mit den Naturwissenschaften beschäftigten, tat dies, dem Charakter der neuen Produktionsweise entsprechend, um ohne weiteres daraus praktischen, persönlichen Nutzen zu ziehen. Und wo dazu die überlieferten Kenntnisse nicht ausreichten, da half man sich mit Spekulationen und Hypothesen, die nicht mit Tatsachen, sondern nur mit einigen Zitaten aus alten Schriftstellern begründet zu werden brauchten.
Man widmete sich nicht der Erforschung des menschlichen und tierischen Körpers und seiner Funktionen, sondern trachtete nur nach dem Besitz einiger Formeln und Mittel, die Menschen gesund zu machen. Die Anatomie machte langsame Fortschritte, der Medizinalschwindel, die Quacksalberei dagegen entwickelte sich mit reißender Schnelligkeit. Die Konzentration von Volksmassen in den Großstädten, der Luxus auf der einen, das Anwachsen des Proletariats auf der anderen Seite, der Handel mit dem Orient, alle diese Umstände bereiteten den Boden für epidemische und andere Krankheiten. Mit der kapitalistischen Produktionsweise verbreiteten sich in Europa die orientalische Pest (seit dem vierzehnten Jahrhundert), die Syphilis (seit Ende des fünfzehnten Jahrhunderts) und das Branntweingift. Der Branntwein war den Arabern schon frühzeitig bekannt, in Frankreich wurde er als Arznei seit dem zwölften Jahrhundert gebraucht, aber schon 1493 beklagt ein Gedicht das Unheil, das der Schnapsteufel angerichtet. (Wachsmuth, Europäische Sittengeschichte. Leipzig 1837. 4. Band, S.280.)
Die Chemie fand ebenso reichliche Arbeit wie die Medizin. Sie versteht ja die Kunst, die Körper in ihre Elemente zu zerlegen, aus ihren Elementen zusammenzusetzen, was lag also näher, als sie zur Fabrikation desjenigen Metalls auszubeuten, nach dem damals alles lechzte, des Goldes? Die Chemie wurde verschwindelt zur Goldmacherei.
Die Kenntnis der Astronomie verbreitete sich rasch unter den Gebildeten des Zeitalters des Humanismus und der Reformation. Sie fand eine hervorragende praktische Anwendung in der Schiffahrtskunde. Der überseeische Handel war ohne sie unmöglich, sie wurde daher eifrig gepflegt. Die Gesetze der Astronomie, die man von den Alten übernahm, waren fast die einzigen Naturgesetze, die damals in weiteren Kreisen bekannt waren; aber auch sie mußten bald nicht der Aufklärung dienen, sondern der Ausbeutung und dem Aberglauben. Weil man die Bahnen der Sterne berechnen konnte und anfing zu ahnen, daß sie die Erde beeinflußten, versuchte man, die irdischen Geschicke aus ihnen zu prophezeien. Je ungewisser ihre Zukunft wurde, desto gieriger suchten die Menschen diese zu erforschen. Die Sterne waren ihr Trost in jener revolutionären Zeit, wo nichts fest zu stehen schien als der Himmel. Aber auch er wurde schließlich revolutioniert. Sterndeuterei, Goldmacherei, Quacksalberei, das waren die Formen, in denen die Naturwissenschaften in Europa seit dem Mittelalter zuerst den Massen und auch der Mehrheit der Gebildeten bekannt wurden. Diese Sorte »Naturwissenschaft« war nicht imstande, das religiöse Bedürfnis zu beseitigen. Der Unglaube der Humanisten entsprang in der Tat wesentlich nur dem Widerspruch gegen den bestehenden Glauben oder der Indifferenz, nicht einer wissenschaftlichen Einsicht in die Zusammenhänge in der Natur. An Stelle des überkommenen Glaubens setzte die Mehrzahl der Humanisten einen anderen, oft nichts als Astrologie und mystische Kabbalistik.
Wurde so durch die Naturwissenschaften die eine Wurzel der Religion kaum berührt, so wurde durch die ökonomische Entwicklung ihre andere um so mehr gekräftigt.
Die Stützen der unteren Volksklassen schwanden dahin, vor allem die Markgenossenschaft, die sie alle Stürme des Mittelalters hatte überstehen lassen. Neue Klassenkämpfe begannen, von furchtbarerer Art, als die der Feudalzeit. In diesen hatte es sich meist nur um ein Mehr oder Minder an Rechten und Pflichten gehandelt, jetzt entspannen sich Kämpfe auf Leben und Tod zwischen den aufstrebenden und den untergehenden Klassen. Die Bedrückung und Proletarisierung der Bauern wuchsen, das Elend und die Landstreicherei. Immer blutiger und grausamer wurden die Versuche, die mißhandelten Klassen ruhig und ungefährlich zu machen, immer blutiger und grausamer wurden die krampfhaften Zuckungen der Gepeinigten, um das Joch abzuschütteln. Haß, Angst, Verzweiflung wurden tägliche Gäste in der Hütte und im Palast; jeder zitterte vor dem Morgen, beklagte das Gestern und rang mit dem Heute. Der Krieg wurde ein Beruf, die Menschenschlächterei ein Handwerk, der verabschiedete Soldat durch die Not gezwungen, im Frieden die Gewohnheiten des Krieges fortzusetzen, die von ihm Bedrohten getrieben, ihn wie ein wildes Tier zu hetzen. Und gleichzeitig jagten die Würgengel der Pest und Syphilis durch ganz Europa. Unsicherheit, Jammer, Elend, stete Angst vor den unwiderstehlichen sozialen Mächten herrschte allüberall, vor Mächten, die nicht im kleinen Rahmen der Markgenossenschaft wirkten, sondern mit der verheerenden Wucht nationaler und internationaler Geißeln auftraten.
Unter dem Einfluß dieser Situation wuchs das religiöse Bedürfnis, die Sehnsucht nach einem besseren Jenseits, der Drang nach der Anerkennung eines allmächtigen Gottes, der allein imstande schien, dem allgemeinen Jammer ein Ende zu machen. Aber gleichzeitig schwand auch der liebenswürdige, heitere Zug aus der Religion, sie entwickelte ihre finstersten, grausamsten Seiten. Der Teufel erschien wieder überall den Menschen, und ihre Phantasie war damit beschäftigt, ihn so grauenhaft als möglich auszumalen. Mit Wollust ersannen sie die fürchterlichsten Qualen der Hölle, um sie in teuflischen Grausamkeiten gegen die Lebenden auf Erden zu verwirklichen. Zugleich mit der Blutgesetzgebung gegen Bettler und Landstreicher kamen auch die Hexenriechereien und Hexenverbrennungen in die Mode.
Langsam bereitete sich dieser Umschwung in der Stimmung der Massen vor; erst die Reformation hat ihn völlig zur Tat gemacht. Sie zerriß nicht bloß die Tradition der alten Volksreligion, die noch immer fortgewirkt hatte, sie ließ auch alle Klassengegensätze, die bis dahin vielfach noch unter der Decke fortgeglimmt, mit einemmal hoch auflodern und entfesselte damit alle eben geschilderten Tendenzen des Zeitalters der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals. Aberglaube und Fanatismus, Grausamkeit und Blutdurst erreichten eine wahnsinnige Höhe. Vom Bauernkrieg bis zum Westfälischen Frieden (1525 bis 1648) glich Europa einem Tollhaus, dessen Insassen aller Schranken los und ledig geworden sind.
In diesem Jahrhundert wurde das ausgebildet, was wir heute als Religion kennen lernen, sowohl die verschiedenen protestantischen Bekenntnisse, wie auch der jesuitische, tridentinische Katholizismus. Der alte Katholizismus der Feudalzeit – wir meinen den vom Volke geübten, nicht den des päpstlichen Hofes – ist verschwunden, nur hin und wieder in einem abgelegenen katholischen Gebirgsdorf findet man noch eine schwache Erinnerung an die Jovialität und Lebenslust des germanisierten Christentums.
Die Männer der Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts fanden als ihren gefährlichsten Feind, ihr größtes Hindernis die neue Religion vor, die sich zwischen sie und das Volk auf der einen, das Königtum auf der anderen Seite stellte. Im Kampfe gegen sie ist die Aufklärung groß geworden. Nach dem Muster dieser Religion haben die Historiker, die den Bahnen der Aufklärungsphilosophie folgten, alle Religionen und das Christentum aller Jahrhunderte gezeichnet. Sie konnten die germanisch-katholische Volksreligion des Mittelalters um so leichter verkennen, als der Charakter der Anfänge des Christentums mit dem des Christentums der Reformationszeit eine auffallende Ähnlichkeit aufweist und über die zwischen beiden liegende Volksreligion des Mittelalters, namentlich aus der Zeit ihrer fröhlichsten Entfaltung, nur spärliche Nachrichten erhalten sind.
Es führt jedoch zu einer ganz falschen Beurteilung des Mittelalters, wenn man bei diesem Fehler beharrt. Es führt auch im Speziellen – und dies der Grund unserer Auseinandersetzung – zu einer ganz schiefen Auffassung von Thomas More. Voltaire gelangte zu dieser schiefen Auffassung. Ihm erschien More wegen seines zähen Festhaltens am Katholizismus als ein beschränkter, fanatischer Barbar.
More ist als Märtyrer des Katholizismus gestorben. Um ihn zu verstehen, müssen wir die Art von Katholizismus genau kennen, der er anhing. Man möge daher stets im Auge behalten, wie ganz anders der alte, feudale Volkskatholizismus war, als der moderne Jesuitenkatholizismus. More war einer der letzten Vertreter des ersteren, soweit er überhaupt noch Katholik war, kein Heuchler und Heuler, kein Augenverdreher und Schleicher, sondern ein Mann im besten Sinne des Wortes.
Wir haben die historische Lage im allgemeinen kennen gelernt, in der er sich entwickelte, lernen wir nun ihn selbst kennen in den besonderen Verhältnissen, in denen er zu wirken hatte.