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Produktionsweise, Haushalt, Familie und Ehe sind die wichtigsten Gebiete, auf denen ein bestimmtes kommunistisches System seine charakteristischen Eigentümlichkeiten entfalten kann. Von geringerer Bedeutung erscheint uns der politische und ideologische überbau. Von Politik ist in einem kommunistischen Gemeinwesen überhaupt nicht viel zu sagen. Und was die Ideen anbelangt, die in einem solchen herrschen, so muß man gestehen, daß es leichter ist, sich Einrichtungen vorzustellen, die von den unseren abweichen, als Ideen und Charaktereigenschaften. Die religiösen und philosophischen Ausführungen der »Utopia« sind für ihre Zeit von großartiger Kühnheit und für More ungemein charakteristisch. Aber während seine ökonomischen Forderungen heute noch vielfach revolutionär sind, ist seine Philosophie, soweit sie nicht veraltet, Gemeinplatz geworden, den der seichteste Liberale unterzeichnen kann. Die Philosophie und Religion der »Utopia« haben denn auch unsere liberalen Historiker am meisten interessiert, ihnen haben sie lange Abhandlungen gewidmet, indes sie den Kommunismus als leere Phantasterei mit ein paar Phrasen mitleidiger Überlegenheit abtaten. Die Philosophie und Religion der »Utopia« sind hochwichtige Belege für die literarische und wissenschaftliche Stellung Mores, die wir im zweiten Abschnitt behandelt haben, dagegen stehen sie mit dem Kommunismus seines idealen Gemeinwesens in keinem notwendigen organischen Zusammenhang.
Wir werden daher aus den langen Ausführungen der »Utopia« darüber nur das Wichtigste wiedergeben und unseren Kommentar und unsere Kritik auf das Notwendigste einschränken. Sie könnten ja großenteils nur Wiederholungen aus dem ersten Abschnitt bringen.
Zunächst wollen wir sehen, wie More sich die politische Verfassung der »Utopia« dachte. »Je dreißig FamilienAlso jedenfalls Männer und Frauen. wählen jährlich einen Beamten, der in ihrer alten Sprache Syphogrant hieß, jetzt aber Phylarch genannt wird. Über je zehn Syphogranten mit den ihnen unterstehenden Familien steht ein anderer Beamter, ehemals Tranibor, jetzt Protophylarch betitelt. Alle Syphogranten, zweihundert an der Zahl, wählen, nachdem sie geschworen, dem Geeignetsten ihre Stimme geben zu wollen, in geheimer Abstimmung den Fürsten aus vier Kandidaten, die das Volk aufgestellt hat, indem jedes Stadtviertel einen auserwählt und dem Senat empfiehlt. Das Amt des Fürsten ist ein lebenslängliches, außer wenn er in den Verdacht gerät, nach der Alleinherrschaft zu streben. Die Traniboren werden jährlich gewählt, aber nicht ohne triftigen Grund gewechselt. Alle anderen Ämter sind nur jährlich. Die Traniboren versammeln sich mit dem Fürsten jeden dritten Tag, und wenn es sein muß öfters, und beraten über die öffentlichen Angelegenheiten und über private Streitigkeiten, wie sie mitunter, wenn auch selten, vorkommen. Jeder Sitzung wohnen zwei Syphogranten bei, die jedesmal wechseln.... Es ist bei Todesstrafe verboten, außer im Senat oder der Volksversammlung über öffentliche Angelegenheiten Beschlüsse zu fassen. Diese Bestimmung wurde, wie sie sagen, erlassen, damit nicht durch eine Verschwörung des Fürsten mit den Traniboren und durch Unterdrückung des Volkes die Verfassung umgestürzt werden könne. Wenn es sich daher um Angelegenheiten von großer Wichtigkeit handelt, so müssen sie den Syphogranten vorgelegt werden, die sie den Familien ihrer Abteilung mitteilen und mit ihnen besprechen, um dann deren Entscheidungen dem Senat mitzuteilen. Mitunter wird eine Angelegenheit der Abstimmung der ganzen Insel unterbreitet.« ...
»Jede Stadt sendet jährlich drei ihrer weisesten Greise nach Amaurotum (der Hauptstadt), um die gemeinsamen Angelegenheiten der Insel zu besorgen.« Dieser Senat hat, wie wir wissen, die Aufgabe, eine Statistik des Bedarfes und Arbeitsertrags jeder Stadt aufzustellen und Überfluß und Mangel der einzelnen Gemeinden auszugleichen.
Was die Funktionen der einzelnen Beamten anbelangt, so wissen wir bereits, daß »die vornehmste und fast einzige Aufgabe der Syphogranten darin besteht, darauf zu achten, daß niemand müßig gehe und jeder sein Handwerk mit gebührendem Eifer betreibe«.
»Wer allzu gierig nach einem Amte strebt«, heißt es an einer anderen Stelle, »kann sicher sein, es nie zu erlangen. Sie leben friedlich zusammen, da die Beamten weder anmaßend noch hart sind. Sie heißen Väter und sie handeln wie solche. Freiwillig werden ihnen Ehrenbezeugungen verliehen, von keinem werden sie verlangt. Der Fürst selbst ist nicht durch Purpur oder Krone ausgezeichnet, sondern nur durch ein Büschel Ähren in der Hand. Der Oberpriester durch eine Wachskerze, die man ihm voranträgt.
»Sie haben nur wenige Gesetze, denn bei ihren Einrichtungen bedürfen sie nicht vieler. Sie tadeln sehr die unendliche Menge von Gesetzbüchern und Kommentaren bei anderen Nationen, die doch nicht ausreichen.«
Ebenso einfach wie die inneren sind die auswärtigen politischen Verhältnisse der Utopier. Verträge mit fremden Völkern schließen sie nicht ab, da sie wissen, daß solche nur so lange eingehalten werden, als der Vorteil es erheischt. Sie verlassen sich auf sich selbst und auf die ökonomische Abhängigkeit der Nachbarn von ihnen.
»Den Krieg verabscheuen sie als eine Bestialität, die doch bei keiner Bestie so häufig ist wie beim Menschen. Entgegen den Sitten fast aller Nationen gilt ihnen nichts so unrühmlich, als Kriegsruhm. Obgleich sie sich täglich in den Waffen üben, und zwar nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen an gewissen Tagen, damit sie des Kriegswesens wohl kundig seien, wenn die Notwendigkeit es erheischt, unternehmen sie trotzdem nie einen Krieg, außer zur Verteidigung ihres eigenen Landes oder ihrer Freunde gegen einen ungerechten Angriff, oder zur Befreiung eines unterdrückten Volkes vom Joche der Tyrannei.... Für die gerechteste Ursache eines Krieges aber halten sie es, wenn Kaufleute einer befreundeten Nation in der Fremde unter irgend einem gesetzlichen Vorwand, durch schlechte Gesetze oder Verdrehung guter, unterdrückt und geprellt werden.«
In dem letzten Satze guckt unserem guten More der Kaufmann recht sehr über die Schulter.
Seine ungemein weit ausgesponnenen Ausführungen über den Krieg, von denen wir nur den Anfang gegeben, sind zumeist nichts anderes als eine mitunter sehr scharfe Satire auf die Kriegswut seiner Zeit, bei der zum Beispiel die Schweizer sehr schlecht wegkommen, die unter dem Namen Zapoleten auftreten. Diese Ausführungen beruhen auf der Voraussetzung, daß sein kommunistisches Gemeinwesen von Staaten umgeben sei, die auf derselben Kulturhöhe stehen, dabei aber die der »Utopia« entgegengesetzten sozialen und politischen Einrichtungen besitzen. More hat nur eine unklare Ahnung von der internationalen Solidarität des modernen Sozialismus, welcher letztere die soziale Umgestaltung, die er anstrebt, als das naturnotwendige Produkt der kapitalistischen Produktionsweise ansieht und daher annimmt, daß sie sich auf alle Länder dieser Produktionsweise erstrecken werde.
In engerer Verbindung mit dem Kommunismus als die Ausführungen über den Krieg sind die über die innere politische Organisation Utopiens. Es ist ein völlig demokratisches Gemeinwesen, in dem die Funktionen der Behörden, neben dem Schlichten von Zwistigkeiten, fast ausschließlich in der Leitung der Arbeit bestehen. More stellt da denselben Grundsatz auf wie der moderne Sozialismus, daß mit der Aufhebung der Klassengegensätze die politischen Funktionen einschlafen und das Gemeinwesen sich aus einem politischen Staatswesen in eine Produktivgenossenschaft umwandelt.
Für More aber ist es bezeichnend, daß er sich nicht einmal ein solches Gemeinwesen ohne Fürsten vorstellen kann. Dieser hat zwar gar nichts zu tun, als sich davor zu hüten, daß er nicht in den Verdacht kommt, nach der Alleinherrschaft zu streben, aber trotzdem, ohne persönliche Spitze geht's einmal in Utopien nicht.
Sehen wir nun zu, welche Stellung die Wissenschaft in Utopien einnimmt: »Gewöhnlich werden am frühen Morgen öffentliche Vorlesungen abgehalten, zu deren Besuch nur diejenigen verpflichtet sind, die besonders für die Wissenschaften bestimmt wurden. Aber es finden sich stets auch eine große Menge anderer Leute dabei ein, Männer und Frauen, der eine bei diesen, der andere bei jenen Vorlesungen, je nach der Neigung des Betreffenden.«
In diesen wenigen Zeilen ist einer der wichtigsten Grundsätze des modernen Sozialismus enthalten: die Aufhebung des Privilegiums der Wissenschaft für eine Kaste. Die Wissenschaft wird allen Bürgern des Gemeinwesens, Männern wie Frauen, in gleicher Weise zugänglich gemacht, und eines der wichtigsten, ja vielleicht das vornehmste Ziel des kommunistischen Gemeinwesens besteht darin, jedermann des Genusses geistiger Arbeit teilhaftig zu machen: »Das Ziel, der Einrichtungen dieses Gemeinwesens«, heißt es in der »Utopia«, »geht in erster Linie dahin, es allen Bürgern zu ermöglichen, jede Zeit, die nicht von den Bedürfnissen der Gemeinschaft in Anspruch genommen wird, der körperlichen Arbeit zu entziehen und der freien Tätigkeit und Entfaltung ihres Geistes zu widmen. Denn darin sehen sie die Glückseligkeit des Lebens.«
Das ist ein ganz moderner Gedanke, der weder dem urwüchsigen noch dem platonischen Kommunismus eigen war. Der gedankenlose Urmensch kannte den Genuß wissenschaftlicher Tätigkeit noch nicht. Die Veranlassung dazu konnte erst gegeben sein einerseits, als die gesellschaftlichen Elemente in den Fluß rascherer Entwicklung kamen, als feindliche Klassen erstanden, als die sozialen Veränderungen eine vom Willen des Menschen unabhängige Entwicklung erhielten und soziale Kämpfe zum Nachdenken anregten, als der Mensch eine Geschichte erhielt; andererseits erst dann, als der Mensch vom Banne der Natur befreit war, als diese ihm als etwas Objektives gegenüberstand. Beide Grundlagen des Bedürfnisses nach wissenschaftlicher Forschung entwickelten sich nur in den Städten mit genügender Kraft; dort entwickelten sich aber auch gleichzeitig die Bedingungen, welche die wissenschaftliche Forschung ermöglichten, die Schaffung einer Klasse, die, von der Notwendigkeit physischer Arbeit befreit, sich ganz dem Genuß geistigen Schaffens hingeben konnte.
Arbeit und Wissenschaft erschienen dem Altertum als zwei unvereinbare Dinge. Demnach ist auch in der platonischen Republik die Wissenschaft das Privilegium der herrschenden und ausbeutenden Klasse. Der Moresche Kommunismus, der als moderner Kommunismus auf der gleichen Arbeitspflicht und demnach der Gleichheit aller beruht, mußte auch, gleich dem urwüchsigen Kommunismus, allen die gleiche Möglichkeit zuerkennen, an den Genüssen teilzunehmen, die er bot. Um so mehr mußte dies der Fall sein mit dem größten, dauerndsten der Genüsse, der erst durch den Untergang des urwüchsigen Kommunismus erstanden ist, dem Genuß geistiger Arbeit. Auf diesen mußte More besonderen Wert legen als Humanist, dem ein Leben ohne geistiges Schaffen nicht wert schien, gelebt zu werden.More war weit entfernt von der Auffassung des Sozialismus als einer bloßen Magenfrage. Dieser ist ihm in erster Linie eine Kulturfrage, und er erhebt sich damit weit über manchen heutigen sogenannten Sozialisten, der annimmt, es handle sich den Arbeitern bloß darum, ihr tägliches Essen und Trinken gesichert zu sehen; wie etwa Rodbertus, dem die soziale Frage als bloße Lohnfrage erschien, so daß er nicht einmal von einem Normalarbeitstag etwas wissen wollte. Und da die technischen Bedingungen der Befreiung aller Bürger von geisttötender physischer Arbeit ohne Einschränkung der Bedürfnisse noch nicht gegeben waren, so verstand More sich lieber zu dieser, als daß er den Bürgern Utopiens die Möglichkeit geistiger Entwicklung beschränkt hätte. Wir haben diesen Punkt schon behandelt, und wir wissen auch schon, daß More durch die technische Rückständigkeit seiner Zeit gezwungen wurde, zwei, wenn auch der Zahl nach geringfügige Klassen zu schaffen, deren Existenz zu den Grundsätzen der »Utopia« im Widerspruch steht: eine Klasse der Gelehrten, die von der allgemeinen Arbeitspflicht befreit war, und eine Klasse von Knechten, denen die geistige Arbeit versagt blieb. Es muß jedoch hervorgehoben werden, daß die Gelehrten keinerlei materielle Bevorzugungen vor den anderen Bürgern genießen. Und More hält es gar nicht für nötig, das zu motivieren. Die Bourgeosie mußte schon sehr verkommen sein, ehe sie den Grundsatz proklamieren konnte, daß die Gehirnarbeit eine Plage sei, zu der man nur durch die Aussicht auf die glänzendsten Belohnungen aufgestachelt werden könne, daß daher der Kommunismus mit dem Untergang von Kunst und Wissenschaft gleichbedeutend sei. Welch vernichtendes Urteil über die Impotenz des bürgerlichen Gehirns!
Man darf aus der starken Betonung des Genusses geistiger Arbeit durch More nicht schließen, daß er die sinnlichen Genüsse verachtete. Die gemeinsamen Abendmahlzeiten in Utopien sind, wie wir bereits wissen, nicht von aszetischer Einfachheit. Man ißt gut und viel, Leckereien fehlen nicht, Musik und Wohlgerüche regen die Sinne an. Auch die Weltanschauung der Utopier ist eine heitere und lebenslustige. Wir finden sie dargelegt in einem ausgedehnten Exkurs, der den Schluß des Kapitels über die »Reisen der Utopier« bildet. Dieser Exkurs ist für die Kennzeichnung der Stellung der Wissenschaft in Utopien überhaupt sehr wichtig; namentlich die Verhöhnung der rein spekulativen Wissenschaften, die zu Mores Zeit eine so große Rolle spielten, und die Hochhaltung der Naturwissenschaften sind bemerkenswert. Wir können unsere Darlegung über die Wissenschaft in Utopien nicht besser abschließen, als mit einigen Zitaten aus diesem Kapitel, die einer weiteren Erläuterung nicht bedürfen. Unsere Leser werden nach dem bisher Ausgeführten selbst ermessen, inwieweit die darin niedergelegten Ideen charakteristisch sind für den modernen Kommunismus einerseits und für More andererseits: »Ihre Ansichten sind das Ergebnis teils ihrer Erziehung in einem Gemeinwesen, dessen Einrichtung von unseren Torheiten so weit entfernt sind, teils ihres Studiums der Wissenschaften. Allerdings sind in jeder Stadt nur sehr wenige von aller Arbeit befreit und ganz der Wissenschaft gewidmet, nämlich diejenigen, die von Kindheit an außerordentliche Anlagen und Neigung zu wissenschaftlicher Tätigkeit zeigen; aber die gesamte Jugend wird mit der Wissenschaft vertraut gemacht, und ein großer Teil des Volkes, Männer wie Frauen, verwenden ihr Leben lang ihre freie Zeit zum Studium. Die Wissenschaften werden ihnen in ihrer Landessprache vorgetragen. ... In Musik, Dialektik, Arithmetik und Geometrie haben sie es fast ebensoweit gebracht wie die Alten. Dagegen werden sie von den feinen Erfindungen unserer Dialektiker weit übertroffen. Denn sie haben keine einzige der Regeln der Restriktion und Amplifikation und Supposition erfunden, wie sie so scharfsinnig in den › Parva Logicalia‹Diese »Anfangsgründe der Logik« scheinen bei More schlecht angeschrieben gewesen zu sein. Er spricht davon in einem an Dorpius gerichteten Brief, der oft mit des Erasmus »Moriae Encomium« (Lob der Narrheit) zusammen gedruckt wurde. Es heißt da unter anderem: »Ich glaube, jene ›kleine Logik‹ hat ihren Namen daher, daß ihre Logik sehr klein ist« (Liber ille parvorum logicalium, quem ideo sic appellatum puto, quod parum habet Logices. Das Wortspiel läßt sich nicht gut wörtlich übersetzen). Auch die Briefe der Dunkelmänner (Epistolae obscurorum virorum) erwähnen das Buch häufig. (Vergl. die Note S. 236 in der Cambridge-Ausgabe der Übersetzung der »Utopia« von Raphe Robynson.) ausgedacht wurden, die unseren Knaben eingetrichtert werden. Auch waren sie nie imstande, die reinen Begriffe zu finden, und den abstrakten Menschen haben sie nie bemerken können, trotzdem er kolossaler ist als alle Giganten und uns so deutlich gezeigt wird, daß wir mit Fingern auf ihn deuten. Dagegen kennen sie sehr gut die Bahnen der Gestirne und die Bewegungen der himmlischen Sphären. Sie haben auch Instrumente erfunden, durch welche sie genau die Bewegungen und Stellungen der Sonne, des Mondes und der bei ihnen sichtbaren Sterne bestimmen. Von den Freundschaften und Feindschaften der Gestirne und dem ganzen Schwindel der Prophezeiung aus den Sternen lassen sie sich nicht einmal etwas träumen. Wohl aber verstehen sie Regen, Stürme und das Wetter überhaupt aus gewissen Anzeichen vorherzubestimmen, die sie durch lange Beobachtungen erfahren, über die Ursachen dieser Erscheinungen aber, von Ebbe und Flut und des Salzgehaltes des Meerwassers und endlich über den Ursprung und das Wesen von Himmel und Erde, darüber haben sie zum Teil dieselben Ansichten wie die Philosophen der Alten, zum Teil weichen sie von ihnen ab, wie auch unsere Philosophen verschiedene Meinungen hegen, und bringen neue Erklärungen vor, die auch nicht alle in allen Punkten miteinander übereinstimmen.
»In der Moralphilosophie behandeln sie dieselben Fragen wie wir. Sie untersuchen, was für Körper und Seele gut sei, und ob außer den Eigenschaften der Seele noch etwas in Wahrheit gut genannt zu werden verdiene. Sie denken nach über Tugend und Luft, aber ihre Hauptfrage ist die, worin wohl die Glückseligkeit des Menschen bestehe. Sie neigen zu der Ansicht, die in der Lust das wichtigste, wenn auch nicht einzige Element des menschlichen Glückes sieht. Und, was uns noch seltsamer erscheint, sie verteidigen ihren so sinnlichen Standpunkt mit Beweisgründen aus ihrer ernsten und strengen Religion....«
»Die Tugend besteht nach ihrer Anschauung in einem naturgemäßen Leben; dazu, sagen sie, hat uns Gott geschaffen. Und sie glauben, daß man der Natur gemäß lebt, wenn man den Geboten der Vernunft folgt. Die Vernunft entzündet aber vor allem im Menschen die Liebe und Verehrung für die Majestät Gottes, dem wir alles verdanken, was wir sind und was uns glücklich macht. In zweiter Linie aber treibt uns die Vernunft an, soviel als möglich in sorgloser Fröhlichkeit zu leben und verpflichtet uns, allen anderen nach Kräften zu einem gleichen Leben zu verhelfen....
»Die größten Genüsse sind in ihren Augen die geistigen; die besten derselben erstehen aus der Tugend und dem Bewußtsein eines reinen Lebens; für den höchsten der sinnlichen Genüsse halten sie die Gesundheit. Denn sie glauben daß Essen und Trinken und andere sinnliche Genüsse nur insofern wünschenswert sind, als sie die Gesundheit fördern.... Sie glauben daher, daß die sinnlichen Genüsse nur insoweit geschätzt werden sollen, als sie notwendig sind. Dennoch erfreuen sie sich an ihnen und erkennen dankbar die Liebe der Mutter Natur an, die ihre Kinder durch die Anziehungskraft des Genusses zu den für ihre Erhaltung notwendigen Verrichtungen antreibt.«
Wenden wir uns von der mehr heidnischen als christlichen Philosophie zu den religiösen Einrichtungen der Utopier.
»Die Religionen sind nicht nur in den verschiedenen Teilen der Insel Utopia verschieden, sondern sogar innerhalb jeder Stadt. Die einen verehren die Sonne, andere den Mond oder einen der Planeten. Wieder andere beten Menschen, die sich in vergangenen Zeiten durch Tugend oder Ruhm ausgezeichnet, nicht nur als Götter, sondern als oberste Gottheiten an. Der größte und weiseste Teil von ihnen verehrt nichts von alledem, sondern glaubt an ein unbekanntes, ewiges, unerforschliches und unendliches göttliches Wesen, unerfaßbar für den Geist des Menschen und die ganze Welt erfüllend, nicht in körperlicher Ausdehnung, sondern mit seiner Kraft. Dieses nennen sie den Vater des Alls.... Alle aber stimmen darin überein, so verschieden auch ihre sonstigen Meinungen sein mögen, daß ein oberstes Wesen besteht, ein Schöpfer der Welt, eine Vorsehung: sie nennen es alle mit dem gleichen Namen Mythras.... Eines ihrer ältesten Gesetze bestimmt, daß niemand wegen seiner Religion einen Schaden erleiden solle. Denn Fürst Utopus, der Gründer des Reiches, hatte erfahren, daß vor seiner Ankunft die Eingeborenen in große Religionskämpfe verwickelt waren, was ihm ihre Besiegung sehr erleichterte, da sie vereinzelt, statt vereint gegen ihn kämpften. Sobald er den Sieg erlangt, erließ er daher vor allem ein Gesetz, daß jedem erlaubt sei, der Religion anzuhängen, die ihm gefalle; und wenn er versuche, andere dazu zu bekehren, so möge er es durch die Kraft von Beweismitteln in friedlicher, ruhiger Weise tun, ohne Gewalttätigkeiten und Beschimpfungen. Wer dagegen verstieß, verfiel der Verbannung oder der Knechtschaft.
»Dieses Gesetz erließ Utopus nicht nur im Interesse des inneren Friedens, den er durch tägliche Kämpfe und unversöhnlichen Haß gestört sah, sondern auch im Interesse der Religion selbst. Er wagte es nicht, in Religionsangelegenheiten eine verwegene Entscheidung zu treffen, ungewiß, ob nicht Gott es wünsche, auf verschiedene Weisen verehrt zu werden und daher den Menschen verschiedene Religionen eingeflößt habe. Auf jeden Fall erschien es ihm ungebührlich und abgeschmackt für einen Menschen, andere gewaltsam zu dem Glauben zu zwingen, den er für den richtigen hält. Sollte aber wirklich nur eine Religion die wahre sein, dann würde sich die Wahrheit schon Bahn brechen, wenn bloß durch Vernunft und Milde unterstützt. Würden dagegen Gewalt und Aufruhr für sie eintreten, dann möchte wohl die beste Religion im Aberglauben erstickt werden, wie Getreide unter Unkraut und Dornen, da die Schlechtesten immer die Hartnäckigsten sind. Er gab daher jedem Menschen völlige Freiheit, zu glauben, was ihm beliebte. Nur gegen diejenigen erließ er ein strenges Gesetz, die so tief gesunken waren, anzunehmen, daß die Seele mit dem Körper zugrunde gehe, oder daß in der Welt alles dem Zufall und nicht der Leitung der Vorsehung unterworfen sei.... Niemals vertrauen sie einem, der diese Ansichten teilt, Ämter und Ehrenstellen an; er ist ausgeschlossen von der Verwaltung des Gemeinwesens und verachtet als gemeine und niedere Seele. Aber man bestraft ihn nicht, da es ihr Grundsatz ist, daß es nicht im Belieben des Menschen steht, zu glauben, was man will, noch treibt man ihn durch Drohungen zu Heuchelei und Verstellung; denn nichts ist ihnen verhaßter, als Lüge und Heuchelei. Es ist ihm nur verboten, seine Grundsätze dem Volke zu predigen; private Diskussionen mit Priestern und gewiegten Männern werden dagegen nicht nur geduldet, sondern sogar gefördert, da sie überzeugt sind, daß vernünftige Beweisgründe ihn von seinen Ansichten abbringen müssen.«
Diese Ausführungen, soweit sie die Toleranz aller Bekenntnisse betreffen, entsprechen mehr dem Zeitalter der Aufklärung, als der Reformation, mehr der Zeit, in der »Nathan der Weise« verfaßt wurde, als der Zeit, in der Calvin Servet verbrennen ließ, unmittelbar vor den blutigsten Religionskriegen, die die Welt gesehen, und sie erscheinen uns um so großartiger, als sie nicht von einem Ungläubigen ausgingen, der tatsächlich über den Religionen stand, sondern von einem tief religiösen Gemüt, einem Manne, dem seine Zeit in der Religion die einzige Form bot, um seiner schwärmerischen Liebe und Begeisterung für die Menschheit Ausdruck zu geben, dem Irreligiosität gleichbedeutend war mit Mangel an Gemeinsinn. Der Materialismus des sechzehnten Jahrhunderts entsprang in der Tat nicht den ausgebeuteten, sondern den ausbeutenden Klassen. Diejenigen, die an keinen Gott und keine Unsterblichkeit glaubten, das waren Päpste und Kardinäle, Fürsten und Höflinge; ihre Verachtung der Religion ging Hand in Hand mit der Verachtung des Volkes. Diese Situation muß man im Auge behalten, um zu verstehen, warum More die Materialisten als gemeine Egoisten von der Staatsverwaltung ausschloß.
Stand More der Toleranz des achtzehnten Jahrhunderts nahe, so hat er mit der Organisation seiner idealen Kirche die Reformation antizipiert, ja er, der »katholische Märtyrer«, ist vielfach über diese hinausgegangen.
»Ihre Priester sind von ausgezeichneter Frömmigkeit und daher sehr wenige, denn man hat in jeder Stadt nur dreizehn, je einen für jede Kirche.... Sie werden, wie die anderen Beamten, vom Volke in geheimer Abstimmung erwählt, um Parteiungen zu vermeiden. Die Gewählten werden vom Priesterkollegium geweiht. Ihr Amt besteht in der Besorgung des Gottesdienstes und aller heiligen Angelegenheiten und der Überwachung der Sitten des Volkes. Und es ist eine große Schande, von ihnen vorgeladen und wegen eines liederlichen Lebenswandels getadelt zu werden. Sie haben jedoch nur das Recht zu ermahnen und zu tadeln. Die Strafgewalt steht einzig dem Fürsten und den Beamten zu.... Die Erziehung der Jugend fällt den Priestern anheim, und sie haben den Kindern nicht nur Wissen beizubringen, sondern auch ihren Charakter zu bilden. Sie benutzen jede Gelegenheit, dem Kind, solange seine Seele noch zart und empfänglich ist, Grundsätze einzuflößen, die ebenso gut wie dem Gemeinwesen nützlich sind. Tiefe Eindrücke in diesem Alter wirken durch das ganze Leben nach und tragen unendlich viel zur Festigung und Kräftigung des Gemeinwesens bei, das nur durch Laster zerstört wird, und das Laster ist die Folge schlechter Grundsätze.
»Ihre Priester, heiraten die durch ihre Eigenschaften hervorragendsten Frauen des Landes. Die Frauen selbst sind keineswegs vom Priestertum ausgeschlossen, indessen werden sie selten dazu erwählt, und dann nur ältere Witwen....
»Obwohl sich unter ihnen die verschiedensten Religionen finden, so kommen doch alle in der Verehrung des göttlichen Wesens überein und demnach sieht und hört man in ihren Kirchen nichts, worin nicht alle Bekenntnisse übereinstimmten. Jeder vollzieht die gottesdienstlichen Gebräuche, die seiner Sekte eigentümlich sind, in seinem Hause. Der öffentliche Gottesdienst widerspricht in nichts dem besonderen. Daher gibt es keine Bilder Gottes in der Kirche, so daß jeder sich die Gottheit seinem Glauben gemäß vorstellen kann....
»Der letzte Tag des Monats und des Jahres ist ein Feiertag; ehe sie an diesem in die Kirche gehen, knien die Frauen vor ihren Gatten, die Kinder vor den Eltern nieder und beichten alle ihre Irrtümer und Verfehlungen und erbitten Verzeihung dafür. So wird jeder häusliche Zwiespalt beseitigt, daß sie mit reinem und heiteren Herzen ihr Gebet darbringen können.«
Wie weit geht diese utopische Kirche über den Lutheranismus hinaus und selbst den Calvinismus! Mit beiden hat sie gemein die Abschaffung der Ohrenbeichte, des Priesterzölibats, des Bilderdienstes, mit letzterem die Einführung der Wahl der Priester durch das Volk. Aber More geht darüber hinaus. Er beseitigt zum Beispiel die Strafgewalt der Geistlichkeit und läßt die Frauen zum Priestertum zu. Ja, er scheut sich nicht, den unheilbar Kranken den Selbstmord zu empfehlen. Über alle Kirchen seiner Zeit erhaben zeigt sich More in dem gemeinsamen Gottesdienst aller Bekenntnisse und der Verweisung des besonderen Gottesdienstes in das Privathaus. Es ist dies in der Sprache des sechzehnten Jahrhunderts derselbe Grundsatz, den heute der Sozialismus aufgenommen hat: Erklärung der Religion zur Privatsache.
Wir sehen, wie revolutionär die »Utopia« war; revolutionär nicht nur in bezug auf eine entfernte Zukunft, sondern auch in Beziehung auf die brennendsten Probleme ihrer Zeit. Sie griff nicht nur das Privateigentum an, nicht nur die Politik der Fürsten, nicht nur die Unwissenheit und Faulheit der Mönche, sondern sogar die Lehren der Religion.