Karl Kautsky
Thomas More und seine Utopie
Karl Kautsky

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Zweiter Abschnitt. Thomas More

Erstes Kapitel. Die Biographen des Thomas More.

1. William Roper.

Wer den Lebenslauf des ersten modernen Sozialisten darstellen will, hat sich über Mangel an Material wahrlich nicht zu beklagen. Er kann die Arbeiten einer großen Reihe von Vorgängern benutzen. Aber er wird bald finden, daß fast allen Morebiographien, die bisher geschrieben worden, etwas Weihrauchduft anhaftet, mitunter sogar sehr viel: nicht der Duft des Weihrauchs, den die dankbare Nachwelt Männern spendet, die ihrer Ansicht nach die menschliche Entwicklung besonders gefördert haben, sondern des Weihrauchs, mit dem die katholische Kirche ihren Heiligen opfert, um die Sinne der Gläubigen zu benebeln.

More hatte Stellung genommen in dem großen Kampfe zwischen dem Papismus und dem Protestantismus, der sich unter seinen Augen entwickelte; er war auf Seite des ersteren getreten, er war für seine Überzeugung gestorben. Der Katholizismus hat seit der Reformation keinen solchen Überfluß an großen Denkern aufzuweisen, daß er den berühmten Humanisten nicht für sich in Anspruch genommen hätte. More wurde ein katholischer Märtyrer, ein Heiliger, allerdings bis vor kurzem nur ein offiziöser. Erst 1886 wurde er offiziell selig gesprochen. Immerhin haben ihn seit seinem Tode fromme Gemüter als Helligen verehrt, und das war ein großer Nachteil für ihn, oder wenigstens für seine Biographie.

More starb 1535. Seine erste Biographie wurde etwas über zwei Jahrzehnte später (wahrscheinlich um 1557) verfaßt von seinem Schwiegersohn William Roper, einem Katholiken; es war eine Schrift zur Rechtfertigung Mores, verfaßt unter der Regierung der »blutigen« Maria, der Tochter Heinrich VIII., zur Zeit einer heftigen katholischen Reaktion gegen die Kirchentrennung, die dieser Monarch herbeigeführt. Unbefangenheit des Biographen ist unter solchen Umständen schwer zu erwarten. Es ist jedoch Roper gelungen, soweit wir beurteilen können, sie wenigstens insoweit zu wahren, daß er der Versuchung widerstand, welche die Zeitumstände an ihn herantreten ließen, More als einen Heiligen erscheinen zu lassen. Einfach und schlicht, nüchtern, ja trocken, gibt er vollkommen ehrlich nur Tatsachen, keine Legenden; und er war in der Lage, die authentischste Darstellung liefern zu können. Er sagt uns das selbst in den Eingangsworten seiner Schrift: »Ich, William Roper, der (allerdings höchst unwürdige) Schwiegersohn Mores, Gatte seiner ältesten Tochter,Margarete; er heiratete sie 1521, starb 1577, 33 Jahre nach ihrem Tode. kenne niemanden, der von ihm und seinen Taten mehr wüßte als ich, da ich über sechzehn Jahre lang ununterbrochen in seinem Hause wohnte.«

Roper ist die wichtigste und verläßlichste Quelle für das Leben Mores. Aber gerade die Eigenschaften, die ihn verläßlich machen, bewirken, daß wir nur eine beschränkte Kenntnis Mores aus ihm schöpfen. Seine Trockenheit hielt ihn ab, in schwärmerische Ekstase zu verfallen und seinen Helden zu einem übermenschlichen Wesen zu gestalten; sie hinderte ihn aber auch, die Bedeutung Mores zu erfassen und die dafür charakteristischen Tatsachen mitzuteilen. Wir dürfen das meiste als richtig annehmen, was Roper erzählt – wir haben wenigstens keinen wesentlichen Irrtum bei ihm gefunden. Nur mit der Chronologie steht er, wie alle ersten Biographen Mores, auf sehr schlechtem Fuße. Die verschiedenen Ereignisse laufen bei ihm kunterbunt durcheinander, ohne Zeitangabe, er gibt uns nicht einmal das Geburtsjahr Mores. Aber ist auch das meiste richtig, was er mitteilt, so erzählt er doch nicht alles, was wir wissen wollen. Wären wir nur auf Ropers Biographie angewiesen, dann wüßten wir zum Beispiel nicht einmal, daß More die »Utopia« geschrieben. Der Prozeß Mores ist dagegen von Roper sehr eingehend dargestellt.Der Titel seiner Schrift lautet: The Life of Sir Thomas More, written by his son in law William Roper. Als Motto ist ihr ein Kreuz vorangesetzt mit der Umschrift: In hoc signo vinces (unter diesem Zeichen wirst du siegen). Der englischen Ausgabe der Utopia der »Pitt-Press-Series« (Cambridge 1885) ist ein Abdruck dieser Biographie nach Hearnes Ausgabe von 1716 beigegeben. Die folgenden Seitenangaben aus Roper sind nach dieser Ausgabe gemacht.

2. Stapleton.

Der nächste, der sich daran machte, eine Biographie Mores zu schreiben, war der Archidiakonus von Canterbury Nicholas Harpsfield, der ebenfalls unter der »blutigen Maria«, aber nach Roper schrieb. Sein Werk wurde nie gedruckt. Bridgett, dem ein Jesuit eine noch erhaltene Abschrift geborgt hatte, teilt mit, daß Harpsfield außer Roper nur noch die Schriften Mores selbst benutzte, und daß wir von ihm nichts Neues von Belang erfahren.

Dem Archidiakonus folgte ein spanischer Dominikanermönch, Ludovicus Pacäus, der zwischen 1560 bis 1570 schrieb, aber starb, ehe er sein Werk vollendete. Wir haben wohl nicht viel daran verloren. Was konnte damals ein spanischer Dominikaner über den englischen Humanisten wissen! Kaum mehr als frommen Klatsch.

Diese beiden Geistlichen eröffnen die lange Reihe katholischer Pfaffen, die das Martyrium des heiligen Thomas More verherrlicht haben. Der Hervorragendste unter ihnen und der erste der Zeit nach, wenn wir von den beiden eben genannten absehen, ist Thomas Stapleton, geboren zu Sussex 1535, in dem Jahr und dem Monat, in dem More starb. Er wurde katholischer Priester, erhielt unter der »blutigen Maria« ein Kanonikat in Chichester, flüchtete aus England, als dort unter Elisabeth die Katholikenverfolgungen begannen, und wurde Professor der Theologie in Douai, wo er 1588 starb. In demselben Jahre erschien in Douai seine Biographie der drei Thomasse, des Apostels Thomas, des heiligen Thomas Becket und des Thomas More.Wir haben die Kölner Ausgabe dieses Werkes von 1612 benutzt: Tres Thomae, seu res gestae S. Thomae Apostoli, S. Thomae, Archiepiscopi Cantuariensis et Martyris, Thomae Mori, Angliae quondam cancelarii. Autore Thoma Stapletono. Coloniae Agrippinae 1612, 382 S. (gewidmet dem Abt »Hermanno Mayero«). Es existiert eine schlechte französische Übersetzung dieser Biographie, besorgt von A. Martin, mit Noten und einem Kommentar von Audin (das Beste davon aus Rudharts »Morus« abgeschrieben): Histoire de Thomas More, par Stapleton, Paris 1849. Die Biographie des letzteren (vita et illustre martyrium Thomae Mori) nimmt zwei Drittel des Buches ein; sie wurde geschrieben »zur höheren Ehre Gottes und zur Erbauung des Lesers«. In der Tat, sie ist ein Erbauungsbuch, kein Geschichtsbuch, und erinnert in ihrem Charakter sehr an die Evangelien. So wie die Evangelisten geht auch Stapleton gleich seinem Vorgänger Roper jeder Zeitangabe sorgfältig aus dem Wege. Er ersetzt sie durch nichtssagende Flickwörter: »In der Zeit«, »darauf«, »später« usw. Aber wozu auch Zeitangaben, wenn nicht eine historische Entwicklung gegeben werden soll, sondern ein Sammelsurium von Anekdoten, Legenden und Wundergeschichten (von denen ein Teil nicht einmal More, sondern andere »fromme Männer« angeht)!

Deutlich kann man da das Wachstum der Legende verfolgen. Auch Roper hat bereits seine Wundergeschichten. Aber bei näherem Zusehen verlieren sie ihren wunderbaren Charakter und werden sehr prosaisch. Wir können getrost annehmen, daß die berichteten Tatsachen sich wirklich zugetragen haben.

So erzählt er uns zum Beispiel folgendes (S. XVIII, XIX): Gott bewies More wegen seiner Tugend und Gottesfurcht durch ein offenbares Wunder seine besondere Gunst. Margarete, Ropers Gattin, war am englischen Schweißfieber (sweating sickness) schwer erkrankt. Die Ärzte hatten sie aufgegeben. Sie wußten kein Mittel mehr, das Erfolg versprach. Da ging More in seine Hauskapelle und sandte ein inbrünstiges Gebet zum Allmächtigen. Und siehe, dieser erhörte das Gebet und erleuchtete ihn, so daß ihm in den Sinn kam, ein Klistier könne ihr helfen. More teilte seine Eingebung augenblicklich den Ärzten mit, und diese gestanden, daß wenn Rettung möglich sei, sie nur durch dies Mittel gebracht werden könne, und wunderten sich, daß ihnen das nicht früher eingefallen sei. Es wurde angewendet und Margarete genas.

Dergleichen simple Wunder genügten dem Herrn Professor der Theologie nicht. Auf Dienstbotenklatsch und ähnliche Autoritäten hin sammelte er eine hübsche Anzahl von wunderbaren Taten, Vorzeichen, Träumen und dergleichen, mit denen Mores Andenken bereichert worden war seitdem Roper seine Biographie geschrieben hatte. Den Quellen entsprechend, deren sich Stapleton bediente, sind diese Geschichten ungemein platt und albern, was für den Autor das eine Gute hat, daß man ihn nicht für deren Erfinder hält. Wir wollen wenigstens aus Respekt für die katholische Theologie des sechzehnten Jahrhunderts annehmen, daß er geschickter erfunden hätte.

Wie albern ist zum Beispiel folgendes »Wunder«: Nach Mores Tod gab Margarete all ihr Geld an die Armen, damit sie für ihres Vaters Seele beteten. Als sie dann dessen Leichnam begraben wollte, hatte sie natürlich kein Geld mehr, ein Leichentuch zu kaufen. Was tun? Guter Rat war teuer. Endlich entschloß sich Frau Harris, eine ihrer Dienerinnen, zu einem Tuchhändler in der Nähe zu gehen, um zu versuchen, ob er nicht ein Tuch auf Kredit geben wolle. Aber welch Entzücken! Beim Tuchhändler angelangt, fand sie genau so viel Geld, keinen Penny mehr oder weniger in ihrer Börse, als das Tuch kostete! Die Autorität, auf die hin Stapleton dies Bargeldwunder erzählt, ist Dorothea Colly, ein Dienstmädchen Margaretens. Daß Roper auch nicht die leiseste Andeutung davon bringt, geniert ihn nicht im mindesten.

Trotz alledem ist Stapleton nächst Roper die wichtigste Quelle für den Biographen Mores. Er ergänzt Roper, indem er auf die literarische Tätigkeit Mores näher eingeht und ist besonders dadurch nützlich, daß er mit großem Fleiß ein reiches Material gesammelt hat, namentlich aus Briefen Mores und seiner Zeitgenossen, das seinen Wert behält, auch wenn man den Standpunkt des Verfassers keineswegs teilt.

3. Cresacre More und andere.

Neben Roper und Stapleton wird häufig ein dritter als Hauptquellenschriftsteller für Mores Leben genannt, sein gleichnamiger Urenkel Thomas More, ein katholischer Geistlicher, der 1625 in Rom starb und in dessen Hinterlassenschaft ein Manuskript, eine Biographie seines Urgroßvaters, gefunden wurde, die 1627 in London erschien. Die Biographie wurde viel gesucht und war bald so selten, daß 1726 ein Unbekannter sie neu herausgab: The Life of Sir More, Knight, Lord Chancellor of England under King Henry the Eight and his Majestys Embassadour to the courts of France and Germany. By his great Grandson Thomas More Esq. London 1726. XXXI und 336 S. Die Ausgabe ist sehr brauchbar durch die Noten des Herausgebers, der uns gründlicher, gewissenhafter und vernünftiger zu sein scheint als sein Autor. Eine deutsche Übersetzung erschien in Leipzig 1741 unter dem Titel: Das Leben des Sir Thomas More usw. Von dem Herausgeber des Lebens Coleti und Erasmi ins Deutsche übersetzt nebst einer Vorrede Dr. Christian Gottlieb Jöchers, Professors zu Leipzig. Die neueste stammt von Jos. Hunter: »The Life of Sir Thomas More, by his great Grandson Cresacre More, with a biographical preface, notes and other illustrations. London 1828. LXIV und 376 S.« In der Vorrede macht Hunter unter anderem die richtige Bemerkung, daß jedesmal, so oft die Katholiken Englands ihre Zeit wieder gekommen glaubten, eine Biographie Mores erschien: die Ropers unter der »blutigen Maria«, die Stapletons, als die spanische Armada England bedrohte, 1588, die Cresacre Mores unter Karl I., kurz nachdem dieser eine katholische Prinzessin, Henriette Marie von Frankreich, geheiratet hatte. (S. LXII.) In derselben Vorrede führt Hunter aber auch aus, er sei infolge von Angaben, die der Verfasser in dieser Biographie darin über sich selbst macht, zur Überzeugung gekommen, Thomas könne nicht der Autor sein, sondern die Biographie rühre von dessen jüngstem Bruder Cresacre More her. Auf diesen stimmen die betreffenden Angaben vollkommen. Wir dürfen also wohl Cresacre als den Autor betrachten. Die Frage ist übrigens von geringer Bedeutung, Cresacre war ein ebenso fanatischer Katholik wie Thomas.

Die letztgenannte Biographie ist die am meisten benutzte, und man sollte in der Tat meinen, daß sie die beste sein muß, da der Verfasser neben den mündlichen Mitteilungen solcher, die seinen Urgroßvater noch persönlich gekannt, die Familienarchive benutzen konnte und außerdem die Ergebnisse der historischen Forschung fast eines ganzen Jahrhunderts. Mit der genauen Sachkenntnis des Familienmitglieds konnte er den weiten Blick des Historikers verbinden, der die Ereignisse von einem höheren Standpunkte betrachtet. Nichts von alledem. Cresacre More schrieb, wie er in der Einleitung sagt, zu seiner und anderer Leute Erbauung, wie Stapleton; es war ihm nicht um Erforschung der Wahrheit, sondern um eine rührende Wirkung auf die Gemüter zu tun, und zu diesem Zwecke erschien es ihm höchst überflüssig, sich viel Arbeit zu machen. Das ganze Buch ist ein unverschämtes Plagiat aus Stapleton und Roper. Er hat einmal den einen, das andere Mal den anderen abgeschrieben, und nicht einmal gewissenhaft abgeschrieben, sondern schleuderhaft, und zu verschiedenen Malen grobe Böcke geschossen, wie der Herausgeber der Ausgabe von 1726 nachwies, der sich die Mühe gab, jede einzelne Stelle Cresacre Mores mit den entsprechenden Stapletons und Ropers zu vergleichen.

Die originalen Leistungen Cresacre Mores beschränken sich auf einige Histörchen, die erst nach Stapletons Buch in den Kreisen des katholischen Wunderklatsches aufgekommen waren und daher in dem Werk des Professors der Theologie fehlten. Sie sind aber womöglich noch dümmer als die Stapletonschen.

Nur ein Beispiel: Zwei Brüder hatten einen Zahn Mores zwischen sich auf dem Tisch biegen, jeder gleich begierig, die kostbare Reliquie zu erhalten. Der selige Märtyrer löste die Schwierigkeit auf die einfachste Weise der Welt: zum großen Erstaunen der beiden Brüder teilte sich plötzlich der Zahn und es lagen zwei Zähne auf dem Tisch (a.a.O. S. 304). Schade, daß der Knochen, der sich verdoppelte, nicht einer war, der nur einzeln beim Menschen vorkommt, etwa der Unterkiefer. Ein Heiliger mit zwei Unterkiefern wäre ein noch größeres Wunder, als einer mit dreiunddreißig Zähnen.

Das Buch Cresacre Mores hat nicht den mindesten Wert; trotzdem ist es die am meisten benutzte Quelle über Thomas More geworden; es bietet eben einen sehr bequemen Extrakt aus Roper und Stapleton und ist fast noch mehr als das Werk des letzteren im richtigen Gebetbuchstil geschrieben.

Die große Mehrzahl der folgenden katholischen Biographien Mores sind nur mehr oder weniger schlechte Paraphrasen des Buches Cresacre Mores – soweit wir sie kennen. Der Leser wird von uns kaum verlangen, daß wir die ganze katholische Literatur durcharbeiten sollten, die über More seit dem siebzehnten Jahrhundert erschienen ist. Irgend ein Gewinn zur Erkenntnis unseres Sozialisten war daraus nicht zu erwarten, und wir haben an einigen aufs Geratewohl herausgenommenen Beispielen mehr als genug gehabt.

Auch die protestantische Literatur hat keine bedeutende Biographie Mores aufzuweisen. Das Buch Cayleys ist, was die Biographie anbelangt, keine hervorragende Leistung. Wertvoll wurde es dadurch, daß es die besten literarischen Schöpfungen Mores einem größeren Publikum zugänglich machte.Arthur Cayley the younger, The memoirs of Sir Thomas More. 2 Bände. London 1804.

Außer den drei erwähnten Quellenschriftstellern über More erscheinen uns nur noch vier Biographen der Erwähnung wert: die Katholiken Rudhart und Bridgett, und die Protestanten Seebohm und Hutton. RudhartDr. Georg Thomas Rudhart, Thomas Morus. Aus den Quellen bearbeitet. Nürnberg 1829. X und 458 Seiten. und SeebohmFrederic Seebohm, The Oxford Reformers of 1498. Being a history of the fellow work of John Colet, Erasmus and Thomas More. London 1867. XII und 434 Seiten. 2. Auflage 1869. XIV und 551 Seiten. Kaum war die erste Auflage dieses Buches erschienen, als ein Manuskript aufgefunden wurde, aus dem das Geburtsjahr Mores zu ersehen war. Dadurch wurde die ganze Chronologie und ein gut Teil der Hypothesen des Buches hinfällig. Seebohm veranstaltete schleunigst eine zweite Auflage und zog den Rest der ersten Auflage zurück. Unsere Exzerpte sind teils der ersten, teils der zweiten Auflage entnommen, da uns letztere später zu Gesicht kam. sind noch genügend religiös, um ihren spezifischen konfessionellen Standpunkt erkennen zu lassen, beide über die konfessionelle Beschränktheit so weit hinaus, daß sie sich dadurch den Blick nicht trüben ließen.

Rudhart war ein süddeutscher Gelehrter, der nie in England gewesen zu sein scheint, der aber in Göttingen zahlreiches Material über More fand, das er gut benutzte. Er suchte More nach allen Seiten seines Wirkens darzustellen und die Berichte seiner Biographen durch anderes, gleichzeitiges Material je nachdem entweder sicherzustellen oder zu ergänzen oder zu berichtigen. Die Bedeutung Mores vermochte er allerdings nicht zu erfassen; sein Standpunkt ist beschränkt und kleinlich. Aber es ist eine gewissenhafte, fleißige und ehrliche Arbeit, die Arbeit eines deutschen Gelehrten aus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, wo die deutsche Wissenschaft noch nicht durch das Überwuchern des Strebertums auf den Hund gekommen war. Wir haben Rudhart manchen wertvollen Fingerzeig zu verdanken.

Seebohm betrachtet More von einer Seite, die bisher noch wenig untersucht worden: More als Humanisten in seinem Zusammenarbeiten mit den beiden anderen Humanisten, die in England zu seiner Zeit wirkten, Colet und Erasmus von Rotterdam. Die Darstellung geht nur bis zum Tode Colets, dem Jahre 1519. Damit endet in der Tat der Humanismus in England. Er wird abgelöst durch die Reformation. Die Frage, wieso More dazu kam, mit voller Kraft für die katholische Sache einzustehen, wird in dem Buche nicht mehr behandelt. Wohl aber fällt die »Utopia« noch in den Kreis von Seebohms Betrachtungen. Jedoch ebensowenig wie Rudhart oder irgend einer der bisherigen Biographen Mores weiß er etwas mit diesem Buche anzufangen. Rudhart erscheint die »Utopia« als ein Scherz, Seebohm nimmt sie ernsthaft, legt aber das Hauptgewicht auf die in ihr niedergelegte christliche Philosophie, die er so protestantisch-platt als möglich wiedergibt. Ihren kommunistischen Charakter bemerkt er nicht einmal, oder will ihn nicht bemerken, weil er ihm völlig ratlos gegenübersteht.

Endlich müssen wir noch der jüngsten Biographien Mores gedenken, die erst nach der ersten Auflage des vorliegenden Buches erschienen.Rev. T. E. Bridgett, Life and Writings of Sir Thomas More, Lord Chancellor of England and Martyr under Henry VIll. London 1891. XXIV und 458 Seiten. Ihre Verfasser sind beide Geistliche, der eine T. G. Bridgett, Mitglied der Kongregation des heiligsten Erlösers, verfaßte sein Werk zur Verherrlichung des 1886 selig gesprochenen katholischen Märtyrers. Er arbeitet mit dem Apparat der modernen Wissenschaft, namentlich was die Chronologie anbelangt und hält sich von den gröbsten Abgeschmacktheiten fern. Aber von einem historischen Verständnis Mores kann auch bei ihm keine Rede sein. Angesichts der aufdringlichen Hervorhebung der katholischen Formen, die das Moresche Denken namentlich am Schlusse seiner Laufbahn annahm, kommt der Leser ebenso wie etwa bei Roper nicht einmal dazu, zu ahnen, welcher Geistesriese More gewesen. Sein ganzes Wirken wird in das Prokrustesbett beschränkter katholischer Rechtgläubigkeit gepreßt.

Man braucht deswegen nicht an Unehrlichkeit des Verfassers zu denken. Ein Schelm gibt mehr, als er hat.

Hutton endlich, dessen Schrift in erster Auflage 1895, in zweiter einige Jahre später erschienWilliam Holden Hutton, Sir Thomas More. London 1900. X und 290 Seiten. ein Oxforder Theolog und Kaplan des Lordbischofs von Ely, schreibt ebenso wie Bridgett mit einer theologischen Tendenz. Er will nachweisen, daß Mores Theologie mit der der englischen Staatskirche sehr wohl verträglich ist. So heißt es dort zum Beispiel auf Seite 282:

»Es wäre müßig, mit den römischen Heiligenlehrern über ihr Recht zu streiten, ihn (More) als ihren Märtyrer zu verehren; aber keine richtige theologische Würdigung wird leugnen, daß er zu der geschichtlichen und ununterbrochenen Kirche von England gehört. Ein eingehendes Studium seiner religiösen Schriften und seines Lebens zeigt, daß More ein Heiliger war, auf den England heute noch stolz sein darf.« (Vergleiche auch S. 201).

Viel Neues kommt bei dem Kampf der katholischen und protestantischen Pfaffen um die Leiche ihres Patroklus More nicht heraus. Indessen ist in dem Huttonschen Buche die theologische Tendenz nicht allzu aufdringlich, und es bietet eine ganz lesbare und sorgfältige Darstellung des Entwicklungsganges Mores, sogar mit einigem Interesse für den Sozialismus des Verfassers der »Utopia«.

4. Erasmus von Rotterdam.

Angesichts solcher Biographen ist es namentlich für denjenigen, der dem Sozialisten More näher treten will, um so wichtiger und willkommener, daß diejenige Quelle wohlerhalten ist, aus der More am besten zu erkennen: seine eigenen Schriften und ein großer Teil seines Briefwechsels.

Die Originalausgaben seiner einzelnen Werke sind sehr selten; aber die Gesamtausgaben seiner Werke, namentlich der lateinischen, dürften auch in deutschen Bibliotheken zu finden sein. Mores englische Werke wurden 1557 in London auf Befehl der Königin Maria herausgegeben.The workes of Sir Thomas More Knyght, sometimes Lorde Chauncellor of England, written by him in the English tongue. Printed at London 1557. 1458 Seiten Fol.

Von seinen lateinischen Werken erschienen drei Gesamtausgaben, die erste in Basel 1563, die zweite in Löwen 1566, die dritte 1689 in Frankfurt und Leipzig. Diese soll nach Cayley (a. a. O. S. 274) die beste sein. Wir haben uns daher an sie gehalten.Thomae Mori Angliae quondam Cancellarii opera omnia quotquot reperiri potuerunt ex Basileensi anni MDLXIII et Lovaniensi anni MDLXVI editionibus deprompta, diversa ab istis serie deposita, emendatioraque edita, praefixae de vita et morte Thomae Mori, Erasmi et Nucerini epistolae ut et doctorum virorum de eo eulogia. Francofurti ad Moenum et Lipsiae, sumptibus Christiani Genschii, anno MDCLXXXIX.

Eine Unzahl von Abhandlungen, Gedichten usw. von More wurde in den schon erwähnten »Memoirs of Sir Thomas More« im Anfang unseres Jahrhunderts von A. Cayley herausgegeben. Eine ähnliche Sammlung (zum Teil nur Bruchstücke und Auszüge enthaltend) von einigen Schriften Mores (in neues Englisch übertragen) lieferte der gutkatholische W. Jos. Walter in Amerika.Sir Thomas More. A Selection from his works, as well in prose as in verse, forming a sequel to »Life and Times of Sir Thomas More« by W. Jos. Walter. Baltimore 1841. 364 S.

In neuester Zeit wurden außer der »Utopia«, von der wir noch eingehender handeln werden, nur Mores Fragment über Richard III. und sein Buch über Pico von Mirandula herausgegeben.Mores History of King Richard III. Edited with Notes, Glossary, Index of Names, by J. Rawson Lumby. Pitt Press Series, Cambridge, University Press. Leipzig 1885, F. A. Brockhaus. In einer Volksausgabe wurde Mores Geschichte Eduard V. und Richard III. abgedruckt zusammen mit I. Miltons Britain under Trojan, Roman, Saxon Rule und E. Bacons Heniry VII. London. 1890 erschien eine Neuausgabe von Mores Life of John Picus, Earl of Mirandula etc.

Neben den Schriften Mores selbst sind die wichtigsten Quellen für seine Beurteilung die Briefe seiner Freunde an ihn und über ihn. Unter diesen ist der wichtigste einer, der ebenso großes Interesse erregt durch die Person des Mannes, von dem er handelt, wie durch die des Schreibers und des Adressaten. Er wurde im Jahre 1519, also gerade im Beginn der Reformation, von Erasmus von Rotterdam an Ulrich von Hutten gerichtet. Er enthält eine förmliche Lebensbeschreibung Mores bis zu diesem Datum von seinem vertrautesten Freunde, mit dem er jahrelang zusammen gewohnt und gewirkt. Wer könnte uns trefflicher mit More bekannt machen? Wir wissen keine bessere Einleitung zu einem Versuch, das Verständnis Mores zu fördern, als diesen Brief. Wir geben ihn daher um so lieber vollinhaltlich wieder (mit Weglassung einiger langweiligen und nichtssagenden Höflichkeitsformeln, wie sie der schwülstige Briefstil der Humanisten erforderte), als eine deutsche Übersetzung des Briefes unseres Wissens noch nicht veröffentlicht worden. Er ist lateinisch geschrieben und nach der Sitte der damaligen Zeit mit griechischen Brocken gespickt.Er findet sich in der Gesamtausgabe der lateinischen Werke von More, von 1689. Größere Bruchstücke daraus sind bei Bridgett abgedruckt.

Er lautet:

»Wenn des Thomas MorusNach Humanistenart latinisierte More seinen Namen in Morus. so überaus gelehrte und liebenswürdige Schriften Dich so entzücken, daß Du ihn liebst, ja fast hätte ich geschrieben, sterblich in ihn verliebt bist, so stehst Du damit nicht allein da, erlauchter Hutten, sondern hast Deine Schwärmerei mit vielen gemein. Und sie ist eine gegenseitige, denn Morus erfreut sich so sehr an Deinen Schriften, daß ich Dich fast beneiden könnte. .... Wenn Du mich übrigens bestürmst, ich möchte Dir doch ein Bild von Morus entwerfen, so wünsche ich nur, meine Kraft, dies zu vollbringen, wäre ebenso groß als Dein Verlangen danach ungestüm. Denn auch für mich ist es ein Vergnügen, mich von Zeit zu Zeit der Betrachtung des liebenswürdigsten meiner Freunde hinzugeben. Aber es ist nicht jedem gegeben, des Morus Gaben zu erkennen, und ich weiß nicht, ob er es sich gefallen läßt, vom ersten besten Maler gezeichnet zu werden. Ich glaube in der Tat, daß es nicht leichter ist, Morus darzustellen, als Alexander den Großen oder Achilles: sie waren nicht würdiger der Unsterblichkeit als er. Ein solcher Vorwurf verlangt die Hand eines Apelles, und ich fürchte, ich bin dem Fulvius Rutuba ähnlicher als dem Apelles. Aber ich will es versuchen, Dir des ganzen Mannes Bild wenigstens zu skizzieren, wenn auch nicht genau darzustellen, wie es mir ein langjähriges Zusammenleben gezeigt hat. .... Beginnen wir die Beschreibung des Morus von der Seite, von der Du ihn am wenigsten kennst: er ist nicht groß, aber auch nicht auffallend klein, und seine Glieder sind so ebenmäßig, daß man nichts an ihm auszusetzen findet. Die Haut seines Körpers ist weiß, doch zeigt sein Gesicht mehr eine lichte als eine blasse Hautfarbe, die allerdings nirgends eine kräftige Röte aufweist, sondern nur einen zarten rosigen Schimmer. Seine Haare sind von einem ins Schwärzliche spielenden Braun oder, wenn Du lieber willst, von einem ins Bräunliche spielenden Schwarz (sufflavo nigore); der Bart dünn, die Augen blaugrau, mit einigen Flecken: solche Augen deuten in der Regel einen hochbegabten Geist an und gelten bei den Engländern auch für hübsch, während uns schwarze besser gefallen; keine Augenart soll sicherer vor Schäden sein als diese.

»Sein Antlitz entspricht seinem Charakter, es verkündet immer eine freundliche und liebenswürdige Heiterkeit und zeigt uns gern ein Lächeln: und daß ich es nur offen sage, er neigt mehr zu Fröhlichkeit als zu Ernst und Würde, wenn er sich auch von alberner Possenreißerei fernzuhalten weiß. Seine rechte Schulter ist etwas höher als die linke, namentlich beim Gehen. Es ist ihm das nicht angeboren, sondern zur Gewohnheit geworden, wie ja unsereinem oft dergleichen anzuhaften pflegt. Sonst ist an ihm nichts Anstößiges als höchstens seine im Verhältnis zu seinem Körper etwas bäuerischen Hände.

»Alles, was das körperliche Aussehen betrifft, hat er von Jugend auf vernachlässigt und in der Regel nicht einmal das sehr gepflegt, was nach Ovid der Mann allein zu pflegen hat. Wie hübsch er als Jüngling war, kann man noch jetzt aus dem, was davon geblieben, entnehmen; und doch lernte ich ihn kennen, als er noch nicht mehr als 23 Jahre alt war; und jetzt zählt er etwas über 40. Seine Gesundheit ist gut, ohne gerade robust zu sein; aber sie reicht für die Arbeiten aus, die einem ehrbaren Bürger anstehen, und ist keinen oder doch nur wenigen Krankheiten unterworfen: wir dürfen hoffen, daß er sich als zäh erweisen wird, da er einen Vater hat, der trotz seines hohen Alters noch sehr rüstig ist.

»Ich sah noch niemanden, der in bezug auf Speisen weniger wählerisch wäre als er. Bis zum Jünglingsalter trank er gern Wasser; das hatte er vom Vater. Um aber in lustiger Gesellschaft kein Spielverderber zu sein, täuschte er seine Zechgenossen, indem er aus einem Zinnkrug (stanneo poculo) leichtes Bier, oft reines Wasser trank. Da die Engländer beim Wein sich gegenseitig zuzutrinken pflegen, so pflegte er dabei zu nippen, damit es nicht aussehe, als habe er einen Widerwillen dagegen und um kein Sonderling zu sein. Rindfleisch, gesalzene Fische und grobes, stark gesäuertes Brot ißt er lieber als Speisen, die gewöhnlich als Leckerbissen gelten, ohne dabei etwas zu verschmähen, was dem Körper ein unschädliches Vergnügen bereitet. Milchspeisen und Baumobst aß er immer sehr gern; für Eier schwärmt er.

»Seine Stimme ist nicht stark, aber auch nicht schwach, leicht vernehmbar, klar, aber ohne Weichheit und Schmelz. Zum Gesang scheint er nicht veranlagt zu sein, obwohl er ein großer Freund jeder Art Musik ist. Seine Sprache ist deutlich, ebensowenig überhastend als zaudernd. Er liebt die Einfachheit, trägt weder Seide, noch Purpur, noch goldene Ketten, außer wenn es seine Stellung erfordert. Wunderbar ist es, wie wenig er sich um jene Formen kümmert, die die Menge für Höflichkeit und Anstand hält: er verlangt sie weder von anderen, noch hält er sich streng an sie, nicht in ernsten Versammlungen, nicht bei fröhlichen, geselligen Zusammenkünften: er ist ihrer nicht etwa unkundig, aber er hält es für weibisch und eines Mannes unwürdig, mit solchen Albernheiten die Zeit zu verschwenden. Vom Hofe und dem Umgang mit Fürsten hielt er sich früher fern, weil ihm die Tyrannei von jeher besonders verhaßt und nichts lieber war als die Gleichheit. Denn Du wirst kaum einen Hof finden, und wäre er noch so bescheiden, an dem nicht viel Lärm und Streberei, viel Heuchelei und Prunk zu finden, und der gänzlich frei wäre von jeglicher Tyrannei. So ließ sich denn Morus nur mit vieler Mühe an den Hof Heinrich VIII. ziehen; und doch kann man sich keinen liebenswürdigeren und anspruchsloseren Fürsten wünschen.

»Morus liebt Ungebundenheit und Muße; aber so wie er sich gern dem Nichtstun überläßt, wenn dazu Gelegenheit ist, so wird er von niemandem an Eifer und Ausdauer übertroffen, wenn es arbeiten heißt. Zur Freundschaft scheint er geboren zu sein; er hegt sie treu und fest. Und er fürchtete nicht jenen Freundschaftsüberfluß πολυφιλιαν(polphilias), von dem Hesiod so wenig Gutes zu sagen weiß. Sehr entgegenkommend in bezug auf das Eingehen des Freundschaftsbündnisses, zeigt er sich nicht pedantisch streng in der Auswahl der Freunde, nachsichtig im Verkehr, beständig im Festhalten an ihnen. Wenn er einmal auf einen stößt, dessen Fehler er nicht bessern kann, dann läßt er die Freundschaft mit ihm wieder einschlafen, bricht sie aber nicht gewaltsam ab. Mit denjenigen zu verkehren, die er treu und seiner Sinnesart entsprechend findet, erscheint ihm als das größte denkbare Vergnügen. Denn er hat einen Widerwillen gegen das Ballspiel, Würfel-, Karten- und ähnliche Spiele, mit denen der vornehme Pöbel (vulgus procerum) die Zeit totzuschlagen pflegt. So unbekümmert er ist, wo es sich um den eigenen Vorteil handelt, so sorgfältig in Wahrung der Interessen seiner Freunde. Kurz, wenn jemand ein vollkommenes Beispiel wahrer Freundschaft sucht, so bietet es ihm niemand besser als Morus. Im geselligen Verkehr ist er so munter und angenehm, daß niemand so grämlich sein kann, den er nicht aufheiterte, nichts so scheußlich, daß er nicht dessen Wirkung verscheuchte. Schon als Knabe hatte er ein solches Gefallen an Scherz und Spiel, daß er dazu geboren schien; aber sein Scherz wurde nie possenhaft oder verletzend. Als Jüngling schrieb er kleine Lustspiele und führte sie auf. So sehr liebt er geistreiche Witze, daß sie ihm gefallen, selbst wenn sie auf seine Kosten mit Verdrehung der Wahrheit gemacht werden. Schon als Jüngling schmiedete er daher Epigramme und erfreute sich am Lucian. Auch mich hat er dazu angestiftet, das ,Lob der Narrheit' (eine Satire) zu schreiben, das heißt einen Kameltanz aufzuführen. Und nichts kann passieren, das er nicht von der heiteren Seite zu nehmen suchte, selbst höchst ernste Dinge. Hat er es mit gelehrten und gescheiten Männern zu tun, dann freut er sich über ihren Geist; ist er in Gesellschaft von Ungebildeten und Toren, bietet ihm die Torheit Gelegenheit zum Lachen. Selbst an dem größten Narren nimmt er keinen Anstoß, indem er sich mit wunderbarer Geschicklichkeit in die Laune eines jeden zu schicken weiß. Mit den Frauenzimmern, selbst mit seiner Gattin, treibt er nichts als Spiel und Scherz: Du könntest ihn für einen zweiten Demokrit halten oder eher noch für jenen pythagoräischen Philosophen, der sorglos und müßig auf dem Markte herumschlenderte und das Getümmel der Käufer und Verkäufer lächelnd besah. Niemand läßt sich weniger vom Urteil der Menge beeinflussen als Morus, und andererseits ist niemand zugänglicher und leutseliger als er.

»Eine seiner liebsten Vergnügungen ist die Beobachtung der Formen, der geistigen Tätigkeiten und Gemütsbewegungen der Tiere. Es gibt kaum eine Vogelart, die er nicht zu Hause hielte; wenn er ein seltenes Tier zu sehen bekommt, das verkäuflich, einen Affen, einen Fuchs, ein Frettchen, einen Marder und dergleichen, etwas Exotisches und ähnliches, dann eilt er, es zu kaufen. Sein ganzes Haus hat er damit angefüllt, und wohin man tritt, findet man etwas, das die Augen auf sich zieht: und Morus freut sich jedesmal wieder von neuem, so oft er sieht, daß andere sich daran ergötzen.Unter Mores Tieren ist ein Affe berühmt und im Bilde unsterblich geworden. Dieser wußte einmal Mores Wiesel so geschickt daran zu hindern, daß es zu den Kaninchen durch eine Bretterspalte ihres Verschlags gelange, daß Erasmus bewundernd die Geschichte davon in seinen »Colloquiis« erzählte. Hans Holbein malte einige Jahre später die Familie des Lordkanzlers More, und da durfte dieser Affe auf dem Bilde nicht fehlen. (Seebohm, a. a. O., 1. Aufl., S. 420, 421.)

»Als Jüngling war er durchaus kein Mädchenhasser, doch verursachte er keine üble Nachrede und genoß lieber die, die ihm entgegenkamen, als die er erobern mußte; auch hatte der geschlechtliche Umgang für ihn keinen Reiz, wenn er nicht mit gegenseitiger geistiger Anregung verknüpft war. Da wir nicht mehr Gelegenheit haben, später darauf zurückzukommen, so sei hier bemerkt, daß More nichts weniger als prüde war. An einem witzigen Zötchen konnte er sich sehr ergötzen, und zwar nicht bloß im geheimen, wie der moralisierende Philister. War ihm eines gelungen, dann ließ er es auch drucken. Unter seinen lateinischen Epigrammen finden sich mehrere dieser Art. Zur Charakterisierung Mores sei eines derselben hier wiedergegeben: Ein Jüngling überrascht ein Mädchen in der Einsamkeit. Er umschlingt sie und fleht um ihre Liebe. Umsonst, sie wehrt sich verzweifelt mit Händen und Füßen gegen ihn. Da reißt ihm die Geduld; er zieht sein Schwert und ruft:

»Ich schwöre dir bei diesem Schwert,
»Wenn du nicht ruhig liegst und den Mund hältst – dann geh' ich.
»Erschreckt von der düsteren Drohung fällt sie um:
»Nun so tu's, sagt sie, aber wisse, ich weiche nur der Gewalt.«

Der Witz besteht auf diesem Gebiet weniger in dem, was man sagt, als wie man's sagt. Eine Übersetzung verliert daher stets an Wirkung. Im Original lautet die Pointe:

»Per tibi ego hunc ensem juro, simul etulit ensem,
»Commode ni jaceas, ac taceas, abeo.
»Illico succumbuit tam tristi territa verbo:
»Atque age, sed quod agis, vi tamen, inquit, agis.«

»Der klassischen Literatur wandte er sich frühzeitig zu. Schon als Jüngling studierte er die griechische Literatur und Philosophie, sehr wider Willen seines Vaters, eines sonst tüchtigen und verständigen Mannes, der ihm alle Unterstützung entzog und ihn fast verstoßen hätte, weil es schien, als wolle er nicht in die Fußtapfen des Vaters treten, der ein Gelehrter des englischen Rechtes ist. So sehr auch dieser Beruf der wahren Bildung fremd ist, so werden doch in England diejenigen hochgeschätzt und geehrt, die auf diesem Gebiet einen Ruf erlangt haben, und kaum gibt es dort einen besseren Weg als den der Rechtsgelehrsamkeit, um Ruhm und Geld zu erwerben; gar manchem hat dieser Beruf sogar den englischen Adelsstand eingebracht. Und man soll auf diesem Gebiet nichts leisten können, wenn man nicht schon viele Jahre darüber geschwitzt hat. Morus aber, trotzdem er, der zu etwas Besserem geboren, nicht mit Unrecht einen Abscheu dagegen hatte, erlangte eine solche Vollkommenheit darin, nachdem er kaum davon gekostet, daß die Prozeßführenden sich an niemanden lieber wandten als an ihn, und daß keiner seiner Kollegen, die sich ausschließlich ihrem Beruf widmeten, eine größere Einnahme daraus zog als er. So groß war sein Scharfsinn und seine Schlagfertigkeit.

»Aber nicht genug damit, verwendete er noch große Mühe auf das Studium der Kirchenlehrer. Er hielt noch als Jüngling öffentliche Vorlesungen vor einer zahlreichen Zuhörerschaft über des Augustinus Bücher vom Reiche Gottes (de civitate dei); und sogar Priester und Greise kamen, von dem jungen Manne, der keine Weihen empfangen, die Geheimnisse der Religion erklären zu hören, und es reute sie nicht. Dabei widmete er sich auch mit ganzer Seele frommen Werken und suchte sich durch Nachtwachen, Fasten, Beten und ähnliche Vorübungen für den Priesterstand vorzubereiten. Aber er erkannte in dieser Sache eher als die meisten derjenigen, die sich unbedacht zu einem so schwierigen Beruf drängen, daß keiner für ihn gefährlicher sei als dieser. Nur eines stand im Wege, daß er sich dieser Lebensweise widmete: er vermochte es nicht, sein Verlangen nach einem Weibe zu überwinden. Und er wollte lieber ein keuscher Gatte sein, als ein schmutziger Priester. So heiratete er ein Mädchen, das fast noch ein Kind war, aus edlem Geschlecht, auf dem Lande bei Eltern und Schwestern aufgewachsen, noch unerfahren und ungebildet, so daß er sie völlig nach seinen Neigungen entwickeln konnte. Er ließ sie in den Wissenschaften unterrichten und bildete sie in jeder Gattung der Musik: er hatte sie vollkommen zu einer Frau gemacht, mit der er sein ganzes Leben hätte wohl verbringen können, wenn nicht ein früher Tod sie ihm entrissen hätte, nachdem sie ihm mehrere Kinder geboren, von denen drei Mädchen und ein Knabe noch leben: Margareta, Aloisia,More selbst gibt als die Namen seiner Töchter an: Margareta, Elisabetha und Cäcilia (zum Beispiel in dem gereimten Brief an seine Kinder im Anhang zu seinen Epigrammen). Die englische Aussprache des abgekürzten Namens hat wohl Erasmus irregeführt. Cäcilia und Johannes. Er blieb nicht lange ledig, vielleicht durch Ratschläge seiner Freunde beeinflußt. Wenige Monate nach dem Tode seiner Frau heiratete er eine Witwe, mehr zur Führung seines Haushaltes als um ihrer Reize willen, da sie weder jung noch hübsch war, wie er selbst scherzend zu sagen pflegt, aber eine tätige und fürsorgliche Hausfrau. Und er lebt mit ihr ebenso gut, als wenn sie ein weiß Gott wie hübsches Mädchen gewesen wäre. Kaum erlangt ein anderer Gatte von der Seinen solchen Gehorsam durch Befehl und Strenge, als er durch Güte und Scherze. Was sollte sie ihm verweigern können, wenn er es dahin gebracht, daß sie, die schon begann alt zu werden, keineswegs von geschmeidiger Gemütsart war und dabei eine sehr prosaische Natur, lernte SaiteninstrumenteErasmus nennt drei: cythara, testudo und monochordum. Wir überlassen es den der Geschichte der Musik Kundigen, herauszufinden, was für Instrumente er damit meint, namentlich mit der letzten Bezeichnung. spielen und die Flöte blasen, und daß sie die für jeden Tag vorgeschriebenen Übungen auf diesen Instrumenten dem Gatten auf Verlangen vortrug? Mit der gleichen Güte wie die Frau leitet er die Kinder und das Hausgesinde; da gibt es keine Trauerspiele, keinen Streit. Wo sich ein solcher zu entspinnen droht, da unterdrückt er ihn im Keime oder schlichtet ihn augenblicklich. Noch nie ging jemand von ihm als sein Feind. Es scheint eine Vorherbestimmung seines Hauses zu sein, Glückseligkeit zu verbreiten: noch niemand hat dort gelebt, ohne zu höherem Glück zu gelangen, noch niemand hat sich dort üblen Leumund zugezogen.

»Wenige gibt es, die sich mit der Mutter so gut vertragen hätten, wie er mit der Stiefmutter: denn der Vater hatte eine zweite Frau geheiratet, die Morus nicht weniger lieb gewann als seine Mutter. Vor kurzem nahm jener die dritte Frau, und Morus schwört hoch und heilig, er habe noch kein besseres Frauenzimmer gesehen. Eltern, Kinder, Schwestern liebt er in einer Weise, daß er weder durch Überschwenglichkeit lästig wird, noch jemals seine Pflichten gegen sie vernachlässigt.

»Sein Sinn geht nicht nach schmutzigem Gewinn. Von seinem Einkommen legt er einen Teil für seine Kinder beiseite, das andere gibt er mit vollen Händen aus. Als er noch als Anwalt sein Brot verdiente, erteilte er allen, die ihn um Rat fragten, freundschaftliche und wahre Auskunft, mehr auf ihren Vorteil bedacht als auf den eigenen. Den meisten riet er zu einem Ausgleich mit dem Gegner, weil das weniger koste. Drang er mit diesem Ratschlag nicht durch, dann wies er seinen Klienten an, wie er den Prozeß am billigsten führen könne. Anderer Freude ist um so größer, je mehr und längere Prozesse es gibt.

»In seiner Vaterstadt London fungierte er durch einige Jahre als Richter in Zivilsachen.More wurde 1509 Untersheriff von London. Dieses Amt ist mit keinen hohen Mühen verknüpft, denn Gerichtssitzungen finden nur Donnerstags und bloß vormittags statt, wohl aber mit hohen Ehren verbunden. Niemand erledigte so viele Klagen, niemand war uneigennütziger als er: erließ er doch vielen sogar die ihm gebührenden Gerichtssporteln! Bei Einleitung eines Prozesses haben nämlich Kläger wie Geklagter jeder drei GroschenUnser klassisch gebildeter Erasmus schreibt drachmas. Die Drachme war eine altgriechische kleine Silbermünze. Hier ist darunter wohl der groat gemeint, der Groschen, eine kleine Silbermünze im Werte von 4 Pence. zu erlegen, und niemand darf mehr fordern. Durch solches Benehmen wurde er der beliebteste Bürger seiner Vaterstadt. Er beschloß aber, sich mit dieser Stellung zu begnügen, die genügend Ansehen bot, ohne schweren Gefahren unterworfen zu sein. Zweimal wurde er gepreßt, eine Gesandtschaft zu übernehmen; und da er seine Mission sehr klug erfüllte, so beruhigte sich der erhabene König Heinrich, seines Namens der Achte, nicht eher, als bis er den Mann an seinen Hof geschleppt hatte. Warum soll ich nicht sagen »geschleppt«, da niemand noch so viel Mühe aufgewendet hat, an den Hof zu gelangen, als Morus, ihm fernzubleiben. Da aber der hochedle König sich vorgenommen hatte, um sich eine große Schar gelehrter, gesetzter, kluger und uneigennütziger Männer zu versammeln, so zog er, wie viele andere, so vor allem Morus zu sich heran, und er hat sich so eng an diesen angeschlossen, daß er ihn niemals von seiner Seite läßt. Handelt es sich um ernste Dinge, dann findet man keinen Erfahreneren als Morus; will der König in leichtem Geplauder den Geist erfrischen, dann ist Morus der heiterste Gesellschafter. Oft verlangen schwierige Fragen einen gewiegten und verständigen Richter: Morus löst sie so, daß jeder Teil befriedigt ist. Noch niemand aber hat ihn dahin gebracht, daß er ein Geschenk von ihm angenommen hätte. Glücklich wären die Staaten, wenn die Fürsten überall Obrigkeiten einsetzten, die dem Morus glichen!

»Nicht die geringste Spur von Hochmut ist ihm bei Hofe angeflogen. In dem großen Drange der Geschäfte, die auf ihm lasteten, vergaß er weder seine alten Freunde, noch vernachlässigte er seine geliebten Studien. Die ganze Macht seiner Stellung, seinen ganzen Einfluß auf den erlauchten König verwendet er bloß zum Besten des Staates, zur Befriedigung der Herzen. Seit jeher war sein lebhaftestes Streben dahin gegangen, der Allgemeinheit zu nützen, seit jeher neigte sein Sinn zum Mitleid. Je höher er steigt, desto mehr vermag er Gutes zu tun. Die einen unterstützt er mit Geld, die anderen schützt er mit seinem Einfluß, andere wieder fördert er durch seine Empfehlung, und denen er nicht anders helfen kann, steht er wenigstens mit seinem Rate bei. Niemanden entläßt er traurig von sich. Man möchte sagen, Morus sei der oberste Schutzpatron aller Armen im Reiche. Er freut sich, als hätte er den größten Gewinn gemacht, wenn es ihm gelang, einem Unterdrückten zu helfen, einen Bedrängten aus seinen Verlegenheiten zu befreien, einem in Ungnade Gefallenen wieder Gunst zu gewinnen. Niemand übt lieber Wohltaten, niemand verlangt weniger Dankbarkeit. Und so reich begabt und berühmt er auch ist, und so natürlich damit Prahlerei verbunden zu sein pflegt, so ist doch niemand ferner von dieser Untugend als er.

»Aber ich gehe zu seinen Studien über, die mich dem Morus, die Morus mir so teuer gemacht haben. In seiner Jugend gab er sich namentlich mit der Poesie ab, bald aber ging er dazu über, in langem und mühsamem Arbeiten seine Prosa zu verbessern und seinen Stil in allen Arten der Darstellung zu üben. Welchen Zweck hätte es, diesen näher zu beschreiben, namentlich Dir, der Du seine Schriften immer in der Hand hast? Besonders gern schrieb er Reden und Vorträge, namentlich über ungewöhnliche Themata, um seinen Geist desto mehr zu schärfen. Noch als Jüngling arbeitete er an einem Dialog, in dem er den Kommunismus des Plato, sogar mitsamt der Weibergemeinschaft, verteidigte. Auf den Tyrannicida (Tyrannenmörder) des Lucian schrieb er eine Antwort und wünschte, mich dabei zum Gegner zu haben, damit er aus dem Versuch um so genauer erfahre, ob er Fortschritte in dieser Art Schriftstellerei gemacht. Die › Utopia‹ verfaßte er mit der Absicht, zu zeigen, worin es liege, daß die Staaten in schlechtem Zustand seien, namentlich aber hatte er bei seiner Darstellung England vor Augen, das er gründlich durchforscht und kennen gelernt hat. Das zweite Buch verfaßte er zuerst in seinen Mußestunden; bald fügte er das erste Buch dazu, das er gelegentlich aus dem Stegreif niederschrieb: so sehr wurde sein reicher Geist durch seine Sprach- und Schreibgewandtheit unterstützt.

»Sein Geist ist schlagfertig und eilt stets voraus, sein Gedächtnis wohl geschult: da es alles gewissermaßen geordnet enthält, so liefert es rasch und ohne Zögern, was die jeweilige Sachlage erheischt. Bei Disputationen ist niemand gewandter als er, so daß er mitunter selbst bedeutende Theologen in Verlegenheit setzt, wenn er sich auf ihrem eigenen Gebiet bewegt. Johann Colet, ein scharfsinniger Mann mit trefflicher Urteilsgabe, pflegte oft in vertrautem Gespräch zu sagen, England besitze nur ein einziges Genie, Morus, und doch blühen auf dieser Insel so viele ausgezeichnete Geister.

Er übt wahre Frömmigkeit, dagegen ist ihm jeder Aberglaube fremd. Er hat seine Stunden, wo er Gott sein Gebet darbringt, nicht gewohnheitsgemäß, sondern aus vollem Herzen. Mit den Freunden spricht er vom künftigen Leben in einer Weise, daß man sieht, er spricht mit Überzeugung und mit der besten Hoffnung. So ist Morus am Hofe, und da gibt es Leute, die glauben, gute Christen seien nur in Klöstern zu finden.«

Damit schließt des Erasmus Schilderung des ersten modernen Sozialisten.


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