Paul Keller
Hubertus
Paul Keller

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Fünftes Kapitel.

Samariterliebe. – Unsere Rodelei. – Balthassar abermals im Zweifeln. – Junges, kochendes Blut. – Vom faulen Apfel und vom verlorenen Schaf.

Gestern erlebte ich etwas, das mich aufregte. Unten auf der Straße sah ich die neue Lehrerin Erika Isenloh mit der Bianka, mit dem verrufenen Balg. Sie plauderten miteinander, lachten und gingen vertraulich nebeneinander her.

Unwillkürlich ging ich ihnen nach. Vor der Brettschneide begegnete das höchst sonderbare Paar der Elisabeth Ranke. Diese reichte im Vorübergehen der Lehrerin die Hand, von der anderen wandte sie sich scheu ab.

Elisabeth kam mir entgegen. Wir begrüßten uns, wie das in unserem Waldtal üblich ist, nicht durch einfachen Zuruf oder ein Hutlüften und Kopfnicken, sondern blieben als Dorfleute, die sich kennen, ein paar Augenblicke beieinander stehen und reichten uns die Hände. Dabei wandte sich das Mädchen scheu nach dem Weg zurück, von dem sie gekommen war, und sagte:

»Die Lehrerin geht – geht – mit der?«

»Ja, ich wundere mich auch!«

»Sie weiß wohl gar nicht, was das für eine ist?«

»Wahrscheinlich nicht!«

»Sie sollten es ihr sagen.«

»Ja, ich werde mit dem Fräulein sprechen.« – – Ich sprach mit Fräulein Isenloh noch auf derselben Straße, nachdem sie sich von der schwarzen Bianka getrennt hatte.

»Fräulein Isenloh, glauben Sie ja nicht, daß ich mich in Ihre Angelegenheiten mischen will, oder daß ich gar ein Pharisäer sei; aber Sie sind noch ganz fremd hier, und so erlaube ich mir, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß das Mädchen, mit dem Sie eben gingen, einen schlechten Ruf hat.«

»Ich weiß es,« entgegnete sie, und ihre hübschen, grauen Augen lächelten ein wenig; »aber eben deswegen gehe ich ja mit ihr.«

»Des – – wegen – –?«

»Ja! Ich habe einmal über den Satz in der Bibel nachgedacht: Dieser nimmt sich der Sünder an und ißt mit ihnen.«

»Ah – und da haben Sie gedacht: Wenn man jemand, der eine kranke Seele hat, verachtet, meidet, von sich wegstößt, dann wird er nicht besser, dann kann er gar nicht besser werden; dann wird er immer schlechter.«

»Genau so dachte ich! Einer meiner Lehrer sagte uns jungen Mädchen einmal: ›Ein Lehrer oder eine Lehrerin, die zu knapper Not ihre Schulstunden herunterhaspeln, verdienen ihren Sold nicht, so schmal er auch ist. Der Lehrer und die Lehrerin müssen die Freunde der ganzen Gemeinde sein, müssen in jeder Stube manchmal, ohne daß es die Leute groß merken, eine Lektion halten, müssen auf eine angenehme und unaufdringliche Art einen beständigen Fortbildungsunterricht spenden, die Alten ebenso erziehen wie die Jungen, immer ohne den Leuten lästig zu fallen; denn die beste Erziehung ist die, die der Zögling nicht merkt. Eine Lehrerin soll sich besonders der jungen Mädchen annehmen, die alle eine kluge Freundin brauchen können, und ich zweifle gar nicht, daß sich der dickschädeligste Bauer ein geistiges Kopfstück, wenn es ihm von einer klugen Lehrerin zur rechten Zeit versetzt wird, ganz gut zu Gemüte führen wird. Das sind alles Fragen der Herzensgüte, der Klugheit und des Taktes. Eine ›Anweisung‹ läßt sich darüber nicht geben, aber eine Lehrerin, die so handelt, wie ich Ihnen andeutete, ist für ihre Gemeinde ein Segen.‹ Sehen Sie – so sagte mein Lehrer. Ich hab mir's damals aufgeschrieben und kann es auswendig. Und nun mache ich eben meine ersten täppischen Versuche.«

»Sie nehmen es wunderbar ernst mit Ihrem Berufe, Fräulein Isenloh.«

»Muß ich nicht? Es ist wohl nötig – nicht nur für die Kinder und die Dorfleute – auch für mich selbst. Ich ginge zugrunde in dieser Einsamkeit, wenn ich mir nicht viel zu tun machte!«

Ich nickte und dachte an mein eigenes müßiges Leben.

Plötzlich lachte die ernsthafte Erika Isenloh so ganz herzlich.

»Wissen Sie, was ich furchtbar gern möchte? Rodeln! Es ginge auch ganz herrlich oben von der Moorhütte herunter bis zur Brettschneide und dann noch ein Stück die Chaussee lang. Aber sehen Sie, da scheue ich mich. Es hat komischerweise noch niemand in diesem schönen Tale gerodelt. Und wenn ich nun die erste wäre, würden die Leute sagen: »Nanu, was führt die Lehrerin für verrückte Dinge ein?«

»Ja! Und das würde dem Respekt, den Ihro Ehrwürden die zwanzigjährige Lehrerin verlangt, Eintrag tun!« »Sie lachen mich wohl aus?«

»Gar nicht! Höchstens darüber lache ich, daß Sie nicht rodeln wollen. Aber selbst mit Ihren kleinen Bedenken können Sie recht haben. Und da werde ich nun meinerseits mal erzieherisch eingreifen. Ich werde der Erste sein, der rodelt. Oben von der Moorhütte herunter bis zur Brettschneide und ein Stück die Chaussee entlang. Als zweiten werde ich Herrn Balthassar verführen, zu rodeln, und als dritten den Herrn Kantor. Dann mache ich mich an Mielchen oder Malchen heran; meinem Diener Timm werde ich auch gestatten, zuweilen zu rodeln, und wenn erst noch mein Hausungetüm, die Sturz, auf einem Schlitten den Berg heruntersaust, dann rodelt die ganze Welt.«

»Das wäre herrlich, Herr Hubertus!«

Wir trennten uns vor der Schule. Ich stieg meinen Bergweg hinauf. Einmal dachte ich auf diesem Heimwege:

»Wie ist dir denn? Du bist so lustig! Es ist dir fast, als ob du aus einer Weinhandlung kämest und einen ganz guten Tropfen getrunken hättest.«

Eine Amsel sang – unser Kikerikihahn krähte – und Bims und Bams vollführten am Hoftor ein irrsinniges Freudengeheul, als sie mich kommen sahen. –

Bei Herrn Balthassar bin ich mit meinem Rodelvorschlag nicht angekommen. Er sagte:

»Ich habe von diesem Sport gehört; im Riesengebirge blüht er ja wohl. Bei uns ist so etwas noch nicht Mode geworden, und ich halte auch für erwachsene Menschen das Rodeln für eine unpassende Belustigung. Wenn Kinder auf kleinen Handschlitten über den Straßendamm hinunterrutschen – so zwanzig, dreißig Meter weit –, so habe ich nichts dagegen; aber erwachsene Leute – nee!«

»So werden Sie also nicht mitmachen?«

»Ich? – Denken Sie – ich als Amtsvorsteher mache solchen Unfug?«

»Schön! Also machen wir den Unfug ohne Sie!«

Wir trennten uns verknurrt von einander.

Ich hatte mir aus der Stadt telephonisch zwölf Rodelschlitten bestellt und suchte nun Abnehmer. Den Kantor Bernert gewann ich leicht, und dann machte ich mich an Mielchen und Malchen aus der »Traube« heran. Ich wurde nicht recht klug aus den beiden. Die eine schimpfte auf das Rodeln, die andere begeisterte sich dafür, und da ich beide nicht unterscheiden konnte und sie auf meine Fragen nur schelmisch lachten, so wußte ich am Schluß nicht, welche von den beiden Zwillingsschwestern auf meiner und welche auf Balthassars Seite war.

Eines Nachmittags ging das Vergnügen los. Vier Rodler waren wir: der Kantor, Fräulein Isenloh, ich und Jungfrau X aus der »Traube«.

Nach einer knappen Stunde war das halbe Dorf als Zuschauer an dem Rodelwege versammelt. Die Jugend war zappelig; von den Alten machten wohl viele bedenkliche Gesichter, aber interessant fanden es alle über die Maßen. Die acht Rodel, die ich noch zu Hause hatte, gingen im Handumdrehen weg, und am Abend hatten wir einen Rodelklub von zwölf Mitgliedern und außerdem bereits drei Unfälle zu verzeichnen. Das Vergnügen war also in vollem Gange.

Schließlich begleitete ich die Traubenjungfrau nach Hause. Als wir in den Hausflur kamen, der spärlich erleuchtet war, kam uns Herr Balthassar entgegen und rief ärgerlich:

»Aber Mielchen, wie konnten Sie nur!«

Das Mädchen lachte.

»Ach so,« schlug Balthassar weiter auf den Strauch, »das Malchen war es, das rodeln war!«

Da lachte das Mädchen abermals.

»Mulchen war es, Herr Balthassar, Mulchen!« rief ich.

Da ging er erbost nach der Gaststube.


Beim Rodeln sah ich nun zuerst die Moorhütte. Dort oben nahm unsere Bahn den Anfang. Die Moorhütte sah äußerlich ganz zusammengerafft aus. Der alte Krügel hielt sie mit Axt, Säge, Hammer und Kalkpinsel in Ordnung. Im Innern soll es sehr unordentlich sein. Ich glaubte das, nachdem ich die alte Krügeln einmal gesehen hatte. Ein hexenhaftes altes Weib in schlecht geflickten Kleidern, mit wilden, noch sehr dichten grauen Haaren und großen Augen in dem verrunzelten Gesicht. Das war also die Großmutter von Bianka, die Kartenlegerin und Wahrsagerin.

Bianka beteiligte sich auch an der Rodelei. Fräulein Isenloh hatte das durchgesetzt. Darauf waren drei Bauernmädchen der Bahn ferngeblieben, darunter Elisabeth Ranke. Desto toller trieb es Emil Bönisch. Er setzte die Bianka vor sich auf den Schlitten und sauste mit ihr, fast ohne zu bremsen, den Berg hinab. Das wilde Paar paßte schlecht in die sonst so solide Gesellschaft, die sich alltäglich für eine Stunde harmloser Belustigung bei der Moorhütte zusammenfand. Einmal fuhr ich hinter den beiden Wildfängen her. Wir kamen zur Brettschneide. Ich mußte scharf bremsen, denn der alte Brettschneider Bönisch stand mitten auf dem Wege und hatte noch rechts neben sich einen großen Korb gestellt, also den Weg gesperrt. Der heransausende Emil mit Bianka mußte scharf nach links ausweichen und prallte krachend an einen Staketenzaun.

Ein Unglück! Der junge Bönisch erhob sich blutend am Zaun, das Mädel lag regungslos auf der Straße.

»Vater!« keuchte der Bursche in irrsinniger Wut.

Der Alte stand aufrecht wie ein Eichenstock.

»Da hinein!« sagte er und wies nach der Haustür.

»Ich will nicht!« schrie der Bursche.

»Du mußt!«

»Du hast die Bianka umgebracht!«

»Schadet nichts!«

Ich war vom Schlitten gestiegen und kam heran.

»Das hätte tödlich ablaufen können,« sagte ich strenge.

»Desto besser!« entgegnete der rauhe Alte.

»Wir müssen nach dem Mädchen sehen!«

»Sehen Sie zu! Mich geht das Scheusal nichts an!«

Da erhob sich Bianka von der Straße, fing an zu schreien, zu wehklagen, hörte nicht auf meine Zurufe und begann auf den alten Brettschneider zu schimpfen. Endlich blökte sie ihm die Zunge heraus.

»Hinein ins Haus!«

»Ich mag nicht!«

Vater und Sohn standen sich mit geballten Fäusten gegenüber.

»Gehen Sie hinein mit dem Vater,« redete ich gut zu. »Seien Sie vernünftig!«

»Lassen Sie mich!« Ein neuer Schlitten kommt angesaust, darauf sitzt der junge Hilmann. Er hält.

»Was ist denn hier los?«

Bianka fängt wieder an zu heulen und zu schimpfen.

»Ah!« ruft Hilmann. »Der alte Bönisch wirft die Rodelschlitten um? Komm zu mir, Bianka, komm auf meinen Schlitten! Dann soll er es wagen l«

Schon sitzt das Mädel bei ihm.

»Bianka!« schreit der junge Bönisch in eifersüchtiger Wut. »Bianka, du bleibst hier!«

Er will hin zu ihr. Sein Vater hält ihn fest. Sie ringen miteinander. Inzwischen ruft Hilmann:

»Bianka fährt mit mir! Ich bin selbständig! Ich kann machen, was ich will! Nun kriegt der Emil von seinem Vater die Hosen vollgehau'n! Haha!«

Und fährt mit Bianka, die schrill auflacht, die Straße hinab.

Kreideweißen Gesichts schaut Emil Böhnisch den beiden nach. Dann lacht er leise und sagt unheimlich ruhigen Tones:

»Das hast du gut gemacht, Vater! Dafür wirst du auch deinen Dank ernten!«

Und er geht ins Haus.

Der alte Bönisch steht bewegungslos da. Die Mütze ist ihm vom Kopfe gefallen und der Sohn hat ihm beim Ringen die Jacke aufgerissen. Ich bücke mich nach der Mütze und reiche sie ihm hin.

Da kommt der alte Krügel mit seiner Axt die Straße herauf. Er ist wohl heute mit dem Holzhacken bei mir fertig geworden und geht nun nach Hause.

»Der kommt mir recht, der alte Halunke!« knirscht Bönisch, geht dem Krügel ein paar Schritte entgegen und sagt: »Daß Ihr es wißt, Krügel, zum nächsten Quartal zieht Ihr aus aus der Moorhütte!«

»Hähähä!« lacht der Krügel erschrocken und verlegen. »Ausziehen! Warum denn ausziehen?«

»Weil Ihr Lumpengesindel seid!«

»Herr Bönisch – ich bin doch kein Lump; ich bin doch der alte Krügel!«

»Lumpen seid Ihr alle! Und am meisten der Balg, das Mädel, die Bianka! Hält es mit allen jungen Kerlen, nur um ihnen das Geld aus der Tasche zu locken, um sich Klunkern zu kaufen. Aber das ist alle jetzt! Meinen Emil laß ich mir nicht verderben.«

»Herr Bönisch, ich hab' ja Ihren Emil schon dreimal bei mir oben rausgeschmissen –«

»Rausgeschmissen? Was habt Ihr meinen Sohn rauszuschmeißen? Die Moorhütte ist meine! In Ruh' habt Ihr ihn zu lassen!«

»Wir tun ihm doch nischte! Herr Bönisch, ich wohn' doch jetzt schon zweiunddreißig Jahre in dem Häusel – soll ich auf meine alten Tage –«

»Raus – sage ich – zum Quartal und damit basta!«

Der Brettschneider hastet in sein Haus hinein. Der alte Krügel steht gebückt auf der Straße und schabt mit der Schneide seiner Axt am Schnee herum.

»Zweiunddreißig Jahre wohn' ich in dem Häusel – es is fast nischt mehr an dem Hause, was ich nicht selber gemacht ab' – die Planken und die Pfosten und 's Dach. Und nu – raus!«

»Krügel,« sage ich, »können Sie nicht in ein anderes Haus ziehen?«

Er schüttelt den Kopf. »'s nimmt mich niemand. Dann heißt's fort. Aber fort von hier – eher – eher –«

Er dreht um und geht den Bergweg wieder hinab.

Ich rufe ihm nach; aber er hört nicht auf mich.

Nun stehe ich allein auf der Straße. Drüben am Staketenzaun liegt der halbzerbrochene Rodelschlitten des jungen Bönisch. Der Zaun umschließt einen Garten, in dem das Haus der Krämerin Ranke steht. Sie ist die Mutter von Elisabeth Ranke.

Wie ich aufschaue, sehe ich das Mädel mit todernstem Gesicht und weit aufgerissenen Augen an einem offenen Fenster stehen. Als sie bemerkt, daß ich sie gewahre, verschwindet sie.

Endlich hole ich mein eigenes Rodel und weiß zunächst nicht, was ich tun soll. Schließlich ziehe ich meinen Schlitten wieder bergauf. Zwei oder drei Rodler fahren vorbei. Dann kommt Erika Isenloh. Die halte ich an.

»Fräulein Isenloh, ich muß mit Ihnen sprechen. Unten an der Brettschneide haben sich höchst bedauerliche Dinge abgespielt. Bitte, fahren Sie voraus, ich folge, und unten auf der Chaussee sprechen wir miteinander!«

Wir wanderten die ebene Chaussee nebeneinander und zogen unsere Rodel hinter uns her. Ich erzählte mein Erlebnis. Erika hörte mir in steigender Aufregung zu. Schließlich blieb sie stehen.

»O Gott! Und nun bin ich schuld an all dem Schrecklichen«!

»Sie sind nicht schuld, Erika! Wieso denn? Selbst der alte ergrimmte Bönisch muß zugeben: Wäre es nicht durch das Rodeln gekommen, so wäre es auf andere Weise gekommen!«

Wir gingen weiter.

»Sehen Sie, Erika, das wäre ja noch schöner, wenn alle fortschrittlichen Neuerungen – und das ist nun mal die Einführung des Rodelsports in einer Gebirgsgegend – hintangehalten werden sollten, nur weil dadurch einige giftige Rückstände zu rascherer Gärung und Zersetzung geführt werden. Ich werde ruhig weiter rodeln.«

»Ich niemals mehr!«

»Ich verstehe Sie nicht, Fräulein Erika!«

Dieses Mädchen war sicher ohne jede ungesunde Sentimentalität; aber sie war jetzt erschüttert, sie war in schweren Skrupeln.

»Es ist ja nicht wegen des neuen Sports an sich; es ist darum, daß ich diese Bianka gehalten habe.«

»Werden Sie an Ihrer schönen Aufgabe irre?«

»Ja! Es ist mir jetzt so – so – als ob ich einen faulen Apfel unter gesunde gepackt hätte!«

Wir gingen ein Weilchen schweigend weiter. Ich suchte nach einer passenden Erwiderung, da atmete sie auf und sagte:

»Ach nein! Ich will doch nicht feig werden. Vielleicht war's falsch, vielleicht war's zu hastig, wie ich es mit der Bianka angestellt habe. Ich hätte sie nicht sofort den anderen ganz gleichberechtigt halten sollen. Weil sie mitrodelte, sind drei ehrliche Mädchen weggeblieben, darunter die Elisabeth Ranke, um die es mir am meisten leid tut. Aber ich dachte, ich solle nicht furchtsam werden. Einmal, als ich daran zweifelte, ob die Bianka mitrodeln dürfte, dachte ich: Sind denn die anderen Heiligen fortgelaufen, als die Magdalena in den Himmel kam? Sollen unsere Bauernmädel vom Rodelweg wegbleiben, nur, weil die Bianka mittut?«

»Ihre Gedankengänge sind ganz herrlich, liebes Fräulein Erika!«

Sie seufzte.

»Ach, es stimmt nicht! Die Magdalena war keine Sünderin mehr, als sie in den Himmel kam. Sie hatte Jahrzehnte hindurch über ihre Sünden geweint und war begnadigt worden!«

Über ihr offenes und tapferes Gesicht legte sich ein tiefer Schatten des Schmerzes.

»Ich werde wohl leider noch manches falsch machen. Ich bin noch zu jung. Junge Ärztinnen kurieren auch manches zu Tode!«

Ich bewunderte dieses junge, ernsthafte Mädchen. Endlich wußte ich etwas zu erwidern:

»Ja, Fräulein Erika, ich bin nicht sehr bibelfest. Ich gestehe Ihnen, daß ich mich wenig mit solchen Dingen befaßt habe. Aber ich erinnere mich an die Parabel vom guten Hirten. Der ging doch wohl einem verlorenen Schafe nach und ließ neunundneunzig in der Wüste.«

Sie sann nach.

»Ich werde die Bianka nicht aufgeben,« sagte sie. »Es ist wohl schwer.«

»Ja, liebes Fräulein, ich glaube, daß Erziehungsfragen die schwersten Fragen sind, die es überhaupt gibt.«


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